Essen? Schlicht!

Ich bin als Kind ziemlich armer Leute groß geworden. Deshalb habe ich mit dem Essen so meine eigenen Erfahrungen gemacht. Ich kann mich gut an die Jahre erinnern, wo es mittags zwei Scheiben Brot mit Margarine gab. (Alternativ: Brot mit Margarine und Salz). Wenn wir abends dann Hunger hatten – Pech gehabt! An den Kühlschrank durften wir nicht ran, und die Tiefkühltruhe war abgeschlossen.

 

Ich weiß, wie es schmeckt, wenn die Eltern verdorbene Lebensmittel gekauft haben, weil sie sich andere nicht leisten können. Ich weiß, wie es schmeckt, und sich anfühlt, wenn man Zeitungspapier isst, um überhaupt irgendwas in den Bauch zu kriegen. Ich weiß, wie jeder Herbst zum Fest wird, weil man jetzt im Wald eimerweise Bucheckern, Haselnüsse und Früchte sammeln kann. (Herbst ist die einzige Zeit des Jahres, wo man zuverlässig satt werden kann). Und so weiter. Ich weiß, ich weiß, ich weiß.

 

Ich wurde in einer westdeutschen Großstadt groß. Als ich fünfzehn Jahre alt war, hatte ich irgendwas in der Innenstadt zu tun. Ich hatte Bauchschmerzen. Wie immer. Ich nahm das schon gar nicht mehr wahr. Ein Bauch tut weh, so war das eben. Als ich wieder auf dem Heimweg war, sah ich, dass sie in der Fußgängerzone eine Gulaschkanone aufgebaut hatten. Aus irgendeinem Impuls heraus kaufte ich mir dort einen Teller Eintopf. Fünf Mark. Ein Vermögen für mich! Aber aus irgendeinem Grund tat ich es. Als ich den Teller aufgegessen hatte, hatte ich keine Bauchschmerzen mehr. Und ich begriff schlagartig, dass die Bauchschmerzen, die ich immer hatte, schlicht und ergreifend Hunger waren.

 

Als ich 17 oder 18 Jahre alt war, aß ich meine erste Pizza. Ich hatte in den Sommerferien in der Fabrik gearbeitet, jetzt hatte ich ein bisschen Geld. Pizza war fein. (Aber nie genug).

 

Zum ersten Mal nachhaltig satt essen konnte ich mich im Zivildienst. Da war ich 20. Ich arbeitete in einem Wohnheim für nichtsesshafte und strafentlassene Männer. Im Keller des Gebäudes befand sich eine Großküche, die die Bewohner versorgte. Alle dort unten mochten mich. Sie gaben mir zu verstehen, dass ich so viel essen dürfte wie ich wollte.

„Den kriegen wir auch noch satt!“ ließ sich der Küchendrache vernehmen. „Wäre ja gelacht!“

 

Und schon nach kurzer Zeit war ich bekannt für meine „drei Abendessen“. Wenn ich Spätschicht hatte, aß ich mit den Heimbewohnern zu Abend. Kurz darauf verdrückte ich mich unter einem Vorwand in die Küche. Dort gab es eine Blechkiste, in der das Brot war. Ich war verrückt nach Brotanschnitten. Da außer mir niemand Brotanschnitte essen wollte, fand ich immer mindestens 20 Brotanschnitte in dieser Kiste. Dann ging ich ins Kühlhaus und kam mit einem Fünfkilostück Butter wieder heraus. Außerdem holte ich mir von dort einen Zehnlitereimer Tee sowie allen geschnittenen Schinken, den sie da hatten.

 

Schinken!

Sckinken!!!!

Schinken war für mich immer der Inbegriff des reinen Luxus‘. Wenn es ein Paradies gab, dann wurde dort morgens, mittags, abends Schinken gereicht – in rauhen Mengen. Schinken gab’s bei uns daheim zu Weihnachten. Und das auch nur in sehr übersichtlichen Portionen.

Schinken!!

 

Ich liebe es, in dunklen Räumen zu sein. Und so ließ ich in dieser riesigen Küche das Licht aus, während ich mir aus all den Brotanschnitten unter Zuhilfenahme von reichlich Butter Butterbrote machte. Und die reihte ich auf der Theke hintereinander auf. Die Kette dieser Brote war immer deutlich länger als zwei Meter. Dann stellte ich den Eimer mit Tee neben mich und begann, diese Brote zu verputzen. Ich kam mir vor wie ein Schwarm Heuschrecken aus dem Alten Testament. Ich konnte essen und essen und essen.

Im Paradies gab es Schinkenbrote!

Im Paradies war es dunkel!

Im Paradies war es vollkommen still!

 

Plötzlich drehte sich der Schlüssel im Schloss der Küchentür. Die Neonlampen gingen flackernd an, und ich schloss meine schmerzenden Augen. Durch den Tränenfilm nahm ich den Hausmeister wahr, der offenbar irgendwas in der Waschküche wollte, die direkt neben der Küche lag. Ich hatte ein sehr schlechtes Gewissen. Bei uns daheim hatte ich nie an den Kühlschrank gedurft und die Tiefkühltruhe war immer abgeschlossen gewesen. Und hier fraß ich den Leuten ein ganzes Kühlhaus leer!

 

Der Hausmeister nahm die ganze Szene mit einem Blick auf. Er begriff sofort, was hier vorging.

„Der frisst ja nicht nur heimlich“, kommentierte er dann wohlwollend, „der frisst ja unheimlich!“

Und dann verzog er sich mit einem freundlichen Kopfschütteln in die Waschküche.

Als er kurz danach wieder ging, machte er hinter sich das Licht aus und ließ die Tür wieder ins Schloss fallen.

Klack!

Alles war wieder dunkel und still.

Und da waren nur noch meine Schinkenbrote und ich. Und die Stille in der Dunkelheit.

Wie gesagt – in diesem Haus mochten mich alle. Mir ist bis heute nicht ganz klar, warum.

 

Und mein drittes Abendessen bestand immer aus einer kleinen Flasche Coca Cola und einer Tafel Schokolade.

(Diese Tafel Schokolade war immer etwas größer als gewöhnlich. „Guck mal!“, sagte der Hausmeister, als er mich zum ersten Mal mit meiner Schokolade sah: „Dem hat seine Mutter ja einen Meterriegel eingepackt!“ Aber ich hatte auch echt Hunger!)

Drei Abendessen in fünf Stunden. Aber ich hatte echt Hunger. Den Hunger eines ganzen Lebens.

 

Mit meinen Hungergeschichten könnte ich spielend hunderte Seiten füllen. Gewalt, Hunger und Kälte bestimmten mein Leben, als ich Kind und Jugendlicher war. Aber darum geht es mir heute nicht. Mir geht es um etwas anderes, was mir aufgefallen ist.

 

Zeitsprung!

 

Heute arbeite ich mit Menschen zusammen, die in einem reichen Land groß geworden sind. Hunger kennen die nur aus Filmen. Hunger ist für sie, wenn mal eine Mahlzeit ausfällt oder das Essen sich um ein, zwei Stunden verschiebt. Da machen die dann ein ziemliches Getöse.

Es ist für mich erstaunlich, was die fehlende Hunger-Erfahrung mit Menschen macht.

 

Die Leute, von denen ich hier rede, die genießen ihr Essen, keine Frage. Etliche von ihnen sind echte „Menschen von Welt“ und können mir aus dem Stand lange Referate darüber halten, wie französischer Käse gereift sein muss oder woran man wirklich guten Grappa erkennt. Die erzählen mir von „Fleur du Sel“ und weihen mich in die Geheimnisse veganer Küche und Trennkost ein.

 

Da die Leute mich mögen und von meiner Arbeit recht angetan sind, werde ich immer wieder auf „Incentives“ eingeladen. Manchmal sind diese Incentives mehrtägige Reisen, manchmal einfach nur irgendwelche mehrstündigen Aktivitäten oder Aktionen.

In den letzten beiden Jahren bin ich auf diese Weise vier Mal eingeladen worden, mit meinen Arbeitskollegen oder mit Kunden abends in einer Hotelküche das Essen selber zu kochen. „Erlebnisküche“ nannte sich das. (Zum Thema „Erlebnis“ schreibe ich demnächst was in einem gesonderten Text).

 

Ich bin jetzt wirklich nicht der Koch vor dem Herrn. Ich kann Bratkartoffeln zubereiten, Spiegelei, Spaghetti und sonst noch ein paar grundlegende Dinge. Meine Kleinen schwärmen immer von dem griechischen Salat, den ich ihnen mache.

Aber das ist nicht kochen. Das ist Essen zubereiten.

 

Da mich meine Arbeit mit ziemlich betuchten Leuten zusammenbringt, bin ich in Sachen Essen mittlerweile einiges gewohnt. Ich glaube bis auf gegrillte Heuschrecke und panierte Engerlinge (in Paris soll es sowas geben), ist mir schon so ziemlich jeder überkandidelte Mist aufgetischt worden, den gelangweilte Menschen sich als Mahlzeit ausdenken. Ich bin in den Luxusrestaurants dieser Welt völlig fehl am Platz.

 

Aber ich hatte noch nie mitbekommen, wie sowas zubereitet wird. Also war das irgendwie ganz spannend, in diesen Hotelküchen. Da waren wir dann immer mit ca. zwanzig Leuten, und zwei bis drei Köche leiteten uns an und gingen uns zur Hand. Das war wirklich Haute Cousine in diesen „Erlebnisküchen“!

 

Ich kann beim besten Willen nicht mehr berichten, wie das Zeug dann hieß, das wir da zubereiteten. Das war dann nicht Fleisch, sondern Boeuf irgendwas an irgendwas anderem. Und Nudeln waren auch nicht „Nudeln“, sondern irgendwas, was so klang wie „Pasta Iridim mit gesprenkelten Vogelnestern an Libellenfüßchen, geschwenkt in einer Ockersoße an Fledermauszahnmehl.“ Irgendsowas. Ich schwör‘s. Wenn Menschen sich langweilen und nie Hunger gehabt haben, dann fällt ihnen in Sachen Essen wirklich eine Menge ein.

„Safrangesprenkelte Irinellen im Dialog mit Weiderind über eine Poesie an bärlauchgerippten Vanilleschößlingen an einer Saucette Superb d’Anglais …“

Die Leute haben einen Vogel!

 

Und darum geht’s mir:

Ich kann mit dieser Wohlstandsküche für gelangweilte Erlebnishungrige nichts, aber auch wirklich gar nichts anfangen!

Nichts, nichts, nichts.

Für mich ist Essen schlicht und ergreifend Essen. Und sonst gar nichts.

 

Ich hatte schon gelernte Köche in meinen Seminaren, und von denen habe ich sehr viel gelernt. Mit einem dieser Köche kam ich am Rande eines Seminars in ein ziemlich langes Gespräch. Ich erzählte ihm von meinen Erfahrungen in Hotelküchen und wie ich das erlebt hatte, und der sagte mir:

 

„Stiller, das muss so sein. Ich habe in einer Küche gearbeitet, die zwei Michelin-Sterne hatte: Ein Essen wird um so höher bewertet, je mehr Geschmacksrichtungen du in einem Gang unterbringen kannst:

Süß, sauer, scharf, mild, fest, cremig, flüssig.“

 

Und ich dachte:

Aha. Das erklärt manches. Und mir ist es so wichtig, dass in einem Gang nur eine einzige Geschmacksrichtung auftaucht.

 

Für mich bleibt es dabei:

Essen ist Essen und sonst gar nichts. Jede kulinarische Extravaganz ist an mich verschwendet. Ich kann damit nichts anfangen. In mir sind immer noch die Kleinen wach und höchst lebendig, für die es das Paradies ist, sich satt essen zu können. Das wird mich vermutlich mein Leben lang begleiten.

Ich brauche diese überkandidelte Küche nicht. Bei meiner letzten Küchenaktion habe ich unter anderem mitgeholfen, Vanilleeis mit Chili herzustellen. Wer braucht denn sowas?

 

Das gleiche erlebe ich immer wieder in Städten, wo die eher gutsituierten Menschen leben:

Es ist abends, ich habe eine Veranstaltung geleitet, jetzt bin ich todmüde und hungrig und will was zu essen haben.

Die Lebensmittelmärkte haben schon längst geschlossen. Also suche ich irgendein Restaurant oder einen Imbiss. Aber dann sehe ich mir draußen die Speisekarten an:

„Linksdrehend geschwenkter Blattsalat an handgestreichelten Pinienkernen, die bei Vollmond geerntet wurden und danach über Buchenfeuer schonend geröstet wurden im Dialog mit einer Saucette von Endivien …“. Ich brauch‘ gar nicht mehr weiter lesen. Hier gibt’s nichts für mich. Hier gibt’s überkandideltes Essen für Menschen, die nie Hunger gelitten haben. Essen für Menschen, die vor lauter Langeweile ihren nächsten Kick darin suchen, noch extravaganter zu essen als je zuvor.

 

Ich will mein Essen schlicht.

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