Wenn du willst 03

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Als ich mit 16 Jahren mein Leben in die eigenen Händen nahm, stellte ich sehr schnell fest, dass beinahe alles, was ich anstrebte, in eine bestimmte Richtung wies. Meine Wünsche und Sehnsüchte waren wie Zugvögel am Frühlingshimmel – alle zogen sie mit Macht in die selbe Richtung.

 

Aber ich kam ums Verrecken nicht drauf, was ich eigentlich wollte. Die Richtung war mir klar – aber was um alles in der Welt war das Ziel? Es war mir sehr wichtig, das herauszufinden. Denn ich wusste: Wenn ich mein Ziel klar vor Augen habe, kann ich alle Energie, alle Aufmerksamkeit, alle Kreativität und alles Durchhaltevermögen auf diesen einen Punkt fokussieren.

 

Aber ich konnte machen, was ich wollte – ich dachte jahrelang nach und betrieb intensive Innenschau, ich befragte Menschen und Bücher … Nichts! Ich kannte zwar ungefähr die Richtung, kam aber einer Zielbeschreibung nicht einen Millimeter näher.

 

Um das Ganze etwas ökonomischer zu gestalten, schrieb und redete ich vom „dwis“. Das „dwis“ war „das, was ich suche“. Ich weiß nicht, wie viele hundert Seiten ich mit Texten zu dieser Thematik gefüllt habe: Das dwis hier, das dwis da.

Aber dem Ganzen einen kurzen und knackigen Namen zu geben, war auch so ziemlich alles, was mir in dieser Sache gelang. Meine Sehnsüchte wurden immer stärker und zerrissen mich geradezu. Aber ich hatte buchstäblich keine Ahnung, worum es ging. Was wollte ich eigentlich? Was fehlte da die ganze Zeit so schmerzhaft? Ich hatte keine Ahnung.

 

Ich probierte (bis auf Drogen) so ziemlich alles durch:

  • Kunst (so ziemlich alle Formen – aktiv und passiv)

  • Politik (aktiv und passiv)

  • Sport (aktiv und passiv)

  • Lesen

  • Denken

  • Religion (und alles mögliche, was als „Gottsuche“ durchgehen könnte)

  • Philosophie

  • Wissenschaft

  • Freundschaft

Und so weiter

Nichts half wirklich und nachhaltig.

Meine Sehnsüchte bohrten, nagten und hackten in mir, dass es nur so seine Art hatte. Es ging mir wirklich sehr schlecht. Jahrelang. Mit der Zeit begriff ich, dass ich nach dem suchte, was andere den „Sinn des Lebens“ nannten. Aber alles, was mir von denen, die vor mir gesucht hatten, angeboten wurde (in Büchern, Liedern, Gesprächen, Gedichten etc.) zerbröselte mir beim näheren Hingucken buchstäblich zwischen den Händen. Was für andere Menschen offenbar der Sinn des Lebens war, war in meinem Leben vor allem eins:

Hanebüchener Unsinn.

 

Und dann gab’s da natürlich noch die Heerscharen derer, die mir laut und wohlgemut verkündeten, dass das Leben keinen Sinn hätte. Man solle sich einfach seines Lebens freuen, Party machen und sich ablenken.

„Wer zuviel zweifelt verzweifelt“, sagten sie mir.

„Denk nicht soviel nach“, sagten sie mir, „da kommst du nur ganz mies drauf von.“

Und dann gingen sie feiern oder beschäftigten sich mit irgendeinem Zeitvertreib.

Ich schaute sie mir sehr lange und sehr genau an. Dabei kam ich immer zum gleichen Ergebnis:

Denen ging es auch nicht besser als mir. Sie lenkten sich nur besser ab.

Das schien mir keine brauchbare Alternative zu dem zu sein, was ich in meinem Leben hatte.

 

Irgendwann war ich es dann ganz gründlich leid.

Es ging mir dauerhaft furchtbar schlecht und ich kam keinen Millimeter voran.

Also beschloss ich, die Zugvögel Zugvögel sein zu lassen und mich einfach hinzusetzen und nichts mehr zu tun.

Gaaaaanz schlechte Idee!

Ich hatte immer gedacht, dass es mir wirklich schlecht ginge.

Jetzt aber stellte ich fest, dass sich das durchaus steigern ließ.

Und so lernte ich mit den Jahren, dass es auch nichts brachte, wenn ich so tat, als würde es diese Sehnsüchte in mir gar nicht geben. Denn das führte mich geradewegs in die schwärzeste Depression. Also wieder auf – und auf den Weg gemacht!

Mein Leben kam mir immer wieder vor, wie eine einzige, nicht endende, beschissen qualvolle und beschwerliche Wanderung durch eine unendliche trostlose Wüste. Latsch, latsch, latsch …

 

Und dann wollte ich wieder aufhören mit der Suche.

Ach ja – ging nicht: Depression!

Alles Scheißdreck!

 

2

Ich stand sinnierend vor dem Schaufenster eines Trophäengeschäfts. Hier konnte man Pokale, Urkunden und Siegeszeichen aller Art kaufen und bedrucken bzw. gravieren lassen. Ich schaute mir vor allem die Pokale an: Beeindruckende Dinger. Die kleinen kosteten so um die fünf Mark, die großen gingen für über 50 Mark an den Käufer.

Und für sowas rackerten sich die Leute auf Sportfesten, in Ligen und Wettkämpfen ab – um sich so einen Haufen Blech auf den Schreibtisch oder in die Vitrine zu stellen. Erstaunlich. Ich wusste, dass das nichts für mich war.

 

Ich erinnerte mich, wie ich zum ersten Mal in einem Wettkampf Sieger geworden war. Ich war doch tatsächlich allen Ernstes Skatmeister meiner Schule geworden. Ich weiß nicht, wie viele meiner Mitschüler da teilgenommen hatten – Hundert? Zweihundert? Und am Ende, nach endlos scheinenden Stunden und Runden hatte ich sie alle aus dem Feld geschlagen. Ich. Ausgerechnet. Nicht zu fassen! Ich bekam eine Urkunde und einen Gutschein für ein Buch. Die Urkunde schaute ich mir daheim eine Weile an, dann verschwand sie achtlos in irgendeinem Stapel Papier. Ich habe sie nie wieder hervorgekramt.

 

Ich erinnerte mich, wie ich als Student auf den Rängen der größten Sporthalle der Stadt gesessen hatte und intensiv nachgedacht hatte. Ich hatte mit meiner Mannschaft an einem großen Fußballturnier teilgenommen und genauso wie im letzten Jahr waren wir nach der Vorrunde im ersten K.O.-Spiel ausgeschieden. Dabei hatte jeder von uns sein Bestes gegeben. Und soooo schlecht waren wir gar nicht. Jedenfalls nicht schlechter als die, die da Runde um Runde weiter kamen. Ich wolle rauskriegen, woran das lag, dass wir ständig so früh rausflogen, obwohl wir uns alle Mühe gaben und nicht schlecht waren. Und so schaute ich mir die Spieler auf dem Feld sehr genau an. Ich beobachtete sehr genau und dachte intensiv nach - stundenlang.

 

Und plötzlich hatte ich es.

Ich wandte mich an unseren Mannschaftskapitän, der rechts neben mir saß:

„Ich weiß jetzt, woran es liegt.“

„Hä? Was? Was woran liegt?“

„Dass wir immer rausfliegen, obwohl die anderen nicht so viel besser sind als wir.“

„Aha. Und woran liegt das?“

„Die anderen wollen unbedingt gewinnen. Wir nicht. Die wollen viel mehr als wir. Den bedeutet das Siegen viel mehr als uns.“

„Na, wenn du das sagst …“

Mein Mannschaftskapitän neigte nicht so sehr zum Nachdenken wie ich. Ihm war ziemlich egal, was ich mir da mal wieder zusammengedacht hatte.

 

Später fand ich das als stets wiederkehrendes Muster in meinem Leben:

Immer dann, wenn ich mich Situationen aussetzte, wo es um das Gewinnen in Wettkämpfen ging, waren andere weit, weit besser als ich. Ich schaute mir das sehr genau an und stellte verblüfft fest:

Zu gewinnen und Sieger zu sein bedeutet mir nichts. Gar nichts.

Ich spiele da zwar mit. Aber ich will nicht gewinnen. Jedenfalls nicht in dem Maße wie die anderen. Um nach ganz vorne zu kommen bei solchen Wettkämpfen, musst du wirklich wollen.

Aber ich will nicht. Siegen bedeutet mir nichts.

Ich gebe mir zwar Mühe, aber ich will nicht.

 

3

Dasselbe gilt im Bereich der Kunst.

Um wirklich Kunst zu machen, die diesen Namen verdient, musst du viele, viele Jahre in deinem Metier ackern, rackern und knechten. Du musst hunderte Rückschläge und fürchterliche Niederlagen verdauen … und, und, und.

Ich dachte eine ganze Zeit, dass ich zum Künstler tauge. Denn fantasievoll und kreativ bin ich ganz sicher. Und an Fleiß hat es mir nie gemangelt. Ich habe viele, viele Jahre mit viel Einsatz und Engagement in Sachen Kunst geackert und gerackert.

 

Aber nehmen wir zum Beispiel die Musik.

Als ich das erste Mal am Schlagzeug saß, kam nach dem Ende meines Bemühens ein Mann auf mich zu, der was von der Sache verstand. Er schaute mich freundlich an und gab mir die Hand:

„Danke!“ sagte er mit Nachdruck.

„Was?“ ich verstand nicht ganz. So gut war ich nun auch wieder nicht gewesen.

„Danke, dass du aufgehört hast“, präzisierte er.

 

Später mühte ich mich mit der Gitarre ab. Gitarre und Gesang geht immer. Und wenn ich mir im Radio anhörte, was da manchmal geboten wurde – ach du liebe Güte! Da konnte ich mithalten.

Und dann bekam ich ein Angebot, das ich erst beim zweiten Hinhören richtig einschätzen konnte.

„Ich kann dir einen Gig besorgen“ sagte mir jemand, der mich gehört hatte.

„Was?“ ich verstand mal wieder nicht. „Wo?“

„Doch, doch. Bei uns im Schlachthof – Schweine totsingen. Kannst morgen anfangen.“

 

Ich schaute erfolgreichen Künstlern auf der Bühne zu. Ich beobachtete sie mit der gleichen Intensität, wie ich die Fußballspieler bei diesem Turnier beobachtet hatte.

Und ich kam wieder zum selben Ergebnis:

Die hier wollten Künstler sein.

Ich wollte nicht. Ich gab mir nur Mühe.

 

4

Dieses Muster zieht sich wie ein roter Faden durch mein ganzes Leben. Fast alles, was andere wollen, will ich nicht und umgekehrt.

Ich habe mit den Jahren gelernt, dass ich nicht einfach irgendwas wollen kann.

Damit ich irgendwas wollen kann, müssen die Zugvögel (also meine tiefsten Sehnsüchte) daran beteiligt sein. Bei allem anderen vertue ich nur meine Zeit, wenn ich mir vorgaukle, dass ich das wollte. Aber ich kann das nicht wollen. Geht einfach nicht.

 

Fast alles, was ich in meinem Leben mal angefangen habe, habe ich nicht zur Meisterschaft gebracht und nicht ernsthaft vorangetrieben. Ich habe es eher ausprobiert als wirklich getan (auch wenn ich tausende Stunden damit zubrachte). Dabei habe ich gelernt, dass ich mir nicht aussuchen kann, was ich will, sondern dass ich meinem Inneren folgen muss. Aber das, was sich dann daraus ergibt, das will ich dann aber auch mit aller Härte, Unnachgiebigkeit und Konsequenz.

 

Wenn ich etwas will, dann will ich das.

Alles andere will ich nicht. Ich gebe mir nur Mühe.

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