Menschen in Hoch- und Mittelgebirge

Wenn alles läuft wie geplant, dann werde ich in den nächsten Wochen im Hochgebirge unterwegs sein. Wenn es möglich ist, will ich auch in dieser Zeit jede Woche einen Text von mir erscheinen lassen. (Ich habe vorgearbeitet). Da ich mich innerlich schon in die Berge verabschiedet habe, kann es nur ein Thema geben:

 

Menschen in Hoch- und Mittelgebirge

 

In meiner Freizeit bin ich gerne in den Bergen unterwegs. Je höher desto besser. Wenn die Gegend touristisch gut erschlossen ist, finden sich am Wegrand unweigerlich Schautafeln, auf denen die örtliche Flora und Fauna katatalogisiert wird.

Da gibt es Vogeltafeln, wo von der einzehigen Kuckuckseule über das liebfühlige Gänsefüßchen bis hin zum blutrünstigen Gebirgskranich alles in Bild und Erklärtext aufgeführt ist. Da gibt es Blumen- und Baumtafeln, wo vom gemeinen Räubernäschen über das kraftstrotzende Muskelkraut bis hin zum blaukarierten Edelweiß alles dabei ist.

Hab‘ ich keinen Blick für, interessiert mich nicht.

 

Mich interessiert die Geologie der Gebirge. Ich kann mich sehr lange damit beschäftigen, mir einzelne Steine anzuschauen oder sogenannte Aufschlüsse zu studieren. Und natürlich interessieren mich Menschen. Menschen zu beobachten ist mein ältestes Spezialinteresse.

 

Wie müsste eine Schautafel im Gebirge aussehen, die Auskunft gibt, was für Menschen da zu finden sind? Ich weiß es nicht. Aber ich habe einige Ideen zusammengetragen. Dabei habe ich mich von der Zeitschrift „Brigitte“ inspirieren lassen. Diese Zeitschrift hat die Frau, mit der ich de jure verheiratet bin, viele Jahre lang Woche für Woche hier angeschleppt. Das meiste davon war nichts für mich: Schminktipps, Mode, Diäten – nicht so mein Fall. Aber in ausnahmslos jeder Brigitte, die ich durchblätterte, war irgendeine Westentaschenpsychologie aufgeführt – Menschen, die uns nerven, wie Menschen ihre Wohnung einrichten, wie Menschen ihre Freizeit verbringen, wie Menschen mit ihren Familien umgehen: All das wurde vergleichsweise unwissenschaftlich typologisiert und in einer Art Tabelle gefasst. Ausufernd lange Artikel, in denen Frauen ihre intensiven Erlebnisse mit solchen Menschen schilderten, umrahmten das dann immer.

 

Sowas schwebt mir hier auch vor:

Das wird jetzt also alles andere als wissenschaftlich, aber wer gerne Westentaschenpsychologie a la Brigitte (oder Cosmopolitain) liest, wird hier fündig werden.

 

Los geht’s

 

Der Held

 

Tritt fast ausschließlich in der männlichen Form auf. Ist im Gebirge, um seine Männlichkeit zu beweisen, zu zeigen und auszutesten. Geht gerne an seine Grenzen und verwechselt das Gebirge daher meistens mit einem Showroom oder einem Fitnessstudio.

 

Erkennungszeichen

Makelloser Oberkörper, an dem die Bekleidung nicht so recht halten will. (Läuft also bei beinahe jeder Witterung oben ohne rum). Der durchtrainierte Astralkörper gleißt im Sonnenlicht und wird gerne wie zufällig ausführlich vorgeführt. Der Held will immer nach oben und will immer vorne sein.

 

Oberbekleidung

Oben ohne. Der Rest: Sportlich! Irgendwas zwischen bobonfarben und papageienbunt. Die Kleidung liegt so eng an, dass man zweimal hinschauen muss, um zu erkennen, ob dieser Mensch jetzt tatsächlich Kleidung trägt oder sich nur Farbe auf den Körper gesprüht hat.

 

Schuhe

Sportschuhe. Maximal Treckingschuhe. Wander- oder Bergstiefel, in denen sich Helden wohl fühlen würden, sind noch nicht erfunden worden.

 

Ausrüstung

Stöcke aus Karbonfasern. Minirucksack aus einem Material, das er über Beziehungen aus einem Forschungslabor der NASA bekommen hat. Selfie-Stick. Trinksystem aus der Militärforschung der USA, bei dem die Flüssigkeit direkt aus dem Rucksack in den Körper diffundiert.

 

Schritt

Schnell! (Tatsächlich habe ich Helden im Hochgebirge oft zum Gipfel rennen sehen).

 

Lieblingsmusik im Gebirge

Die erste Strophe von Fun Time in der Version von Joe Cocker:

„Got a few jingles jangle in my pocket

And I got a couple that don’t make no noise

See, I’m all fired up just like a rocket

And the stars above are just few of my toys”

 

Hauptgründe, im Gebirge zu sein

Hier kommt sein Körper am besten zur Geltung.

Nur die höchsten Gipfel sind überhaupt noch eine Herausforderung.

 

Braucht

Noch höhere Gipfel

Noch mehr Bewunderung

 

Typische Satzanfänge

„Ich …“

 

 

 

Der Gebirgsjäger

 

Sein Rucksack glitzert im Sonnenlicht wie die Eingangstür eines mexikanischen Puffs. Wenn man näher kommt, sieht man, dass er praktisch jede Wandernadel der nördlichen Hemisphäre am Rucksack befestigt hat. Jede Wandernadel ist auf’s Sorgfältigste poliert – so kommt dieses Glitzern zustande.

 

Erkennungszeichen

Wandert absolut rastlos von Hütte zu Hütte, um sich dort als erstes einen Stempelabdruck für sein Büchlein zu sichern. Sobald er den hat, schwindet sein Interesse, und er will wieder aufbrechen zur nächsten Hütte. Hat er die Wandernadel in Bronze, dann will er die aus Silber haben. Hat er die, muss es die goldene sein. Wenn er die hat, ist er mit diesem Gebirge abgehakt und durch, und er bricht auf zum nächsten Gebirge. Er kommt nie wieder hierher, es sei denn, es gibt neue Stempel und Abzeichen.

 

Oberbekleidung

Funktional und vom Fachhandel bezogen. Sehr gerne Jack Wolfskin, Schöffel und NorthFace.

 

Schuhe

Irgendwas Funktionales von Hanwag oder Meindl.

 

Ausrüstung

Funktional. Zusätzlich: Irgendeine Hochleistungskamera, mit der er seine Gipfeleroberungen im Bild festhalten kann. Ich habe schon Gebirgsjäger erlebt, die in über 2.500 Metern Höhe ein Stativ auspackten, an dem Stativ eine Wasserwaage befestigten um dann einen großvolumigen Fotoapparat da draufzuschrauben und in stundenlanger Arbeit einen Gipfel nach dem anderen abzufotografieren. 

 

Schritt

Eilig.

 

Lieblingsmusik im Gebirge

Alles, was an das Klingeln einer Registrierkasse erinnert.

 

Hauptgründe, im Gebirge zu sein

Hier war er noch nicht – das fehlt noch in seiner Sammlung.

 

Braucht

Noch mehr Gebirge zum Sammeln.

Noch mehr Wanderabzeichen.

Noch mehr Stempel für sein Büchlein.

 

Typische Satzanfänge

„Und das da drüben ist der …“ (Zwölferkogel, Andachtsriss (was auch immer))

 

 

Der Ausgesetzte

 

Den Ausgesetzten gibt’s in der männlichen und in der weiblichen Form. Er wird fast ausschließlich im Mittelgebirge angetroffen. Wenn aber im Hochgebirge ein guter Anschluss an eine Seilbahn vorhanden ist, kann man ihn manchmal auch da finden.

Der Ausgesetzte ist meistens Jugendlicher. Irgendwer hat ihn hinter seiner Spielkonsole hervorgezerrt und ins Gebirge verschleppt. Er weiß überhaupt nicht, was er hier soll. Mürrisch und sehr langsam schlurft er durch die Gegend.

 

Erkennungszeichen

Schlurf, schlurf, schlurf! Die Last der Welt liegt auf seinen müden Schultern. Deshalb kann er nur schlurfen. Sein Blick hat eine emotionale Spannbreite von

„Das Leben ist ja sooooo scheiße!“ bis „Das geht mir hier alles voll am Arsch vorbei, ey!“

In der männlichen Form fällt vor allem der breitbeinige Gang auf. So läuft nur jemand, der wirklich extrem dicke Eier hat. In der weiblichen Form kontrastiert die – fast immer - schwarze Kleidung enorm mit der kalkweißen Blässe im Gesicht.

 

Oberbekleidung

Irgendwas aus irgendeinem Store. Aber auf keinen Fall irgendwelche bergtaugliche Kleidung! (Wo kämen wir denn da hin?!).

 

Schuhe

Irgendwelche abgefahrenen Treter, die im Moment voll angesagt sind.

 

Ausrüstung

Ausrüstung?!

Ein mürrischer Blick voll Verachtung für so ziemlich alles und jeden muss reichen!

 

Schritt

Schlurf!

 

Lieblingsmusik im Gebirge

Alles, was einen aus dieser Scheißsituation rauskickt.

 

Hauptgründe, im Gebirge zu sein

Ich muss bekloppt sein!

Meine Alten (meine Erbtante, mein Klassenlehrer etc.) wollten unbedingt, dass ich mitkomme!

 

Braucht

In der männlichen Form: Jemanden, der ihm seine dicken Eier hinterherträgt.

In der weiblichen Form: Irgendjemanden, der auch nur ansatzweise versteht, was er hier gerade durchmachen muss. (Aber sowas gibt’s wohl auf der ganzen Welt nicht).

 

Typische Satzanfänge

„Oh boah, ey!“

 

 

Der Extro / Die Extra

 

Extro/Extra ist die Abkürzung für Extroversion bzw. Extraversion (laut Duden geht beides).

Diese Menschen sind im Gebirge, um Schalldruck zu erzeugen und Schalldruck zu empfangen. Sie ernähren sich von Schall. Und da sie

a)    wissen, dass es ausnahmslos jedem anderen Menschen genauso geht und

b)    sehr großzügige und freundliche Menschen sind,

lassen sie jeden teilhaben. Sie schnattern, labern, ratschen, tratschen und lachen tatsächlich ununterbrochen. Selbst in 3.000 Metern Höhe im Klettersteig unterhalten sie sich angeregt mit Hinter- und Vorderleuten. Man sollte meinen, dass ihnen in dieser Höhe allmählich der Sauerstoff knapp wird und sie sich auf den Aufstieg konzentrieren. Aber nein – reden ist wichtiger. Dabei unterhalten sie sich nie über das, was gerade da ist und vorgeht, sondern über den Chef, über den nächsten Urlaub, über Kuchenrezepte und was weiß ich. In Sachen Lautstärke gehören sie zum ausdrucksvollsten, was es in der Natur gibt. Vor ein paar Jahren habe ich auf dem Goetheweg im Harz in ca. 1.000 Metern Höhe eine Extra auf sage und schreibe 800 Schritte Entfernung (ca. 640 Meter) lachen gehört. (Ich habe die Schritte gezählt). Wissenschaftler vermuten, dass sie so laut sind, weil sie von ihrem ständigen Gelaber zunehmend ertaubt sind und sich auch auf kürzeste Distanz anschreien müssen, um sich überhaupt noch verständigen zu können.

 

Erkennungszeichen

Immer im Pulk unterwegs ziehen sie wie ein Schwarm Wanderheuschrecken von Ort zu Ort und überziehen alles mit ihrem lautstarken Gelaber und Gelache.. Wenn ein Extro alleine unterwegs ist, leidet er entsetzlich, und dieses Leid zeigt sich in jeder Faser seines Körpers. Er eilt dann in geschwinden Schritten seinem Pulk hinterher.

Extros und Extras sind immer von Geräusch umgeben. Ein Pulk besteht aus mindestens acht Leuten (Ich habe bis zu 38 gezählt), in dem mindestens zwei Unterhaltungen gleichzeitig geführt werden.

 

Oberbekleidung

Alles mögliche. Meistens funktional.

 

Schuhe

Alles mögliche. Meistens funktional. Meistens Hanwag oder Meindl.

 

Schritt

Variabel. Von gemächlich bis zügig.

 

Lieblingsmusik im Gebirge

Das Geräusch, das die anderen beim Reden machen.

 

Hauptgründe, im Gebirge zu sein

Hier kann man sich so nett unterhalten!

 

Braucht

Leute, mit denen er sich angeregt unterhalten kann. (Tatsächlich ist dem Extro das Gebirge vollkommen egal. Er könnte genauso gut in der Kneipe oder in der Sauna sitzen. Hauptsache, er kann sich unterhalten – über Gott und die Welt).

 

Typische Satzanfänge

„Ey, du sitzt da so alleine …“

(Tatsächlich habe ich immer wieder solche Situationen erlebt: Ich sitze oder stehe irgendwo im Gebirge – 20 Meter abseits vom Weg – und schaue mir die Gegend an. Ein Pulk Extros und Extras zieht vorbei. Ich schaue woanders hin. Einer von ihnen schert aus. Er nähert sich mir von der Seite oder von hinten und quatscht mich an. Bislang war es in jedem Fall so, dass der Extro oder die Extra nicht irgendeine Information von mir wollte, sondern mir ein Gespräch aufzwingen wollte. Extros und Extras sind die Geißel des Gebirges).

 

 

Das Urgestein

 

Diesen Typ habe ich bislang ausschließlich in der männlichen Variante erlebt. Er ist fast immer alleine unterwegs und seinem Gesicht nach zu urteilen, ist er mindestens so alt wie das Gebirge. Vermutlich war er dabei, als die Kontinentalplatten aufeinander prallten und die Gebirge begannen, sich aufzufalten. Kennt vermutlich jeden Stein beim Namen, denn hier oben ist er zuhause. (Tatsächlich ist das Urgestein der einzige Menschentyp, den ich regelmäßig auch bei Regen, Schnee, Hagel und dergleichen im Gebirge antreffe). Über das tatsächliche Alter des Urgesteins kann man keine genauen Angaben machen, denn seine Geburtsurkunde ging in den Wirren der Völkerschlacht von Leipzig verloren.

 

Erkennungszeichen

Alleine – maximal zu zweit oder zu dritt - unterwegs. Schweigsam. Steinalt. Männlich. Trägt die Kleidung seines Urgroßvaters. Absolut trittsicher – scheint mit dem Gebirge verwachsen zu sein. Nimmt mit sehr wachen Augen auf und wahr, was alles um ihn herum vorgeht. Meidet Touristen, Lärm und alles, was modern ist.

 

Oberbekleidung

Irgendwas, was vor 1850 gefertigt wurde. Aber tadellos in Schuss.

 

Schuhe

Noch älter!

Ebenfalls in tadellosem Zustand.

 

Schritt

Absolut trittsicher! Ist mit dem Gebirge verwachsen.

 

Ausrüstung

Alles, was auch in Filmen mit Louis Trenker vorkommt.

 

Lieblingsmusik im Gebirge

Alle Geräusche, die das Gebirge macht.

 

Hauptgründe, im Gebirge zu sein

Das ist seine Heimat. Er war schon immer hier und wird irgendwann auch hier sterben.

 

Braucht

Nichts.

 

Typische Satzanfänge

(Ich habe ein Urgestein noch niemals reden hören).

 

 

Der Oberförster

 

Der Oberförster weiß Bescheid! Er weiß, was richtig und was falsch ist, er kennt die Namen sämtlicher Blumen, Pflanzen, Bäume, Steine, Gipfel, Wege … Und er lässt es sich nicht nehmen, jedem ungefragt davon zu erzählen. Gerne liest er anderen lautstark aus dem Wanderführer vor oder liest für sie die Schautafeln am Wegesrand vor. Er ist der Großfürst des betreuten Lesens und kein Analphabet wird sich in seiner Anwesenheit jemals genötigt fühlen, selber was zu lesen.

Der Oberförster fühlt sich am wohlsten, wenn er irgendeine Schar von Touristen durch’s Gebirge führen kann – meistens in seiner Eigenschaft als Vorsitzender (oder stellvertretender Vorsitzender) eines Wandervereins.

 

Erkennungszeichen

Führt eine Gruppe von Touristen durch’s Gebirge als würde er eine Herde Schafe durch’s Gebirge führen. Dabei ist er Schäfer und Hütehund in einem. Nichts, was seine Herde tut, entgeht seinem wachen Blick („He! Keine Blumen abreißen!“), mal führt er von vorne, mal lässt er sich wieder weiter nach hinten fallen, um dort für Ordnung und Zusammenhalt zu sorgen. Er ist mit einem pädagogischen Auftrag im Gebirge, und den nimmt er sehr ernst.

 

Oberbekleidung

Trägt die Marke, die nach seiner Überzeugung die einzige ist, die im Gebirge überhaupt was taugt. Achtet darauf, sehr hochwertig gekleidet zu sein. Selbst nach den anstrengendsten Touren ist seine Oberbekleidung in makellosem Zustand.

 

Schuhe

Das selbe wie bei der Oberbekleidung.

(Ich erinnere mich an eine Szene, wo ich im Mittelgebirge asthmatisch keuchend oben am Gipfel ankam und mich erst mal ausruhen musste. Es war ein regnerischer Tag, deshalb war ich ziemlich alleine da oben. Aber dann kam ein Oberförster des Weges. Er war allein. Als er mich da sitzen sah, kam er auf mich zu. Zwei Meter vor mir blieb er stehen und aktivierte seinen pädagogisch-prüfenden Blick.

„Gute Schuhe“, sagte er schließlich, „trag ich auch.“

Und dann ging er wieder weg).

 

Schritt

Variabel

 

Ausrüstung

Vorbildlich!

 

Lieblingsmusik im Gebirge

La Montanara. Irgendwas von den Wildecker Herzbuben. Heimatmusik.

 

Hauptgründe, im Gebirge zu sein

Irgendwer muss den Menschen das Gebirge doch näher bringen.

 

Braucht

Verantwortung für eine Gruppe und Leute, an denen er rumerziehen kann.

 

Typische Satzanfänge

„Ich habe dir doch schon tausend Mal gesagt …“

 

 

Der Pilger

 

Hat eine Überdosis Hape Kerkeling intus („Ich bin dann mal weg“) und weiß seitdem, dass das Wandern über diese weite Welt seine Bestimmung ist. Im Gebirge kommt er erst so wirklich zu sich selbst, hier entfaltet er seine Persönlichkeit, hier entwickelt er sich geistig und spirituell weiter. Meistens tritt er in Gruppen auf. Mit Stolz und Demut trägt er die Erkennungszeichen seiner Gruppe (meistens ist die Oberbekleidung genormt).

 

Erkennungszeichen

Erweckter Blick. Wanderstab aus Holz, auf dem zahlreiche Wanderschilder befestigt sind. Aufdruck irgendeiner Kirchengemeinde auf dem Sweatshirt. In Gruppen gleichartig aussehender Individuen unterwegs. Gerne mit einem frohen Lied auf den Lippen. Ernährt sich probiotisch-vegan. Ist in der Lage, sich auch an den kleinen Dingen am Wegesrand intensiv zu freuen. Sieht auch im ganz Kleinen das Große und Umfassende. Für den Pilger hat alles eine Bedeutung und einen tiefen Sinn.

 

Oberbekleidung

Funktional aber nicht teuer. Ohne jede Extravaganz bis auf diese subtilen Zeichen, die auf die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe Gleichgesinnter hindeuten („Wandergemeinschaft St. Oldersleben“ „Wanderfreunde St. Goar“)

 

Schuhe

Funktional

 

Schritt

Im Einklang mit den anderen.

Meistens ziemlich rüstig (man hat ja noch einen langen Weg vor sich!)

 

Ausrüstung

Schlicht und funktional. Hat aber immer irgendwas Anspruchsvolles zum Lesen mit dabei. (Der Mensch lebt nicht vom Brot allein).

 

Lieblingsmusik im Gebirge

Irgendwas aus der Mundorgel oder dem Gesangbuch der Gemeinde.

 

Hauptgründe, im Gebirge zu sein

Nur hier, abseits des Lärms des Alltags, kann er zu sich selbst kommen und sich geistig und spirituell weiter entwickeln.

 

Braucht

Mehr Bezug zur Realität.

 

Typische Satzanfänge

„Ist das nicht ein wundervoller Tag heute …“

 

 

Der Nerd

 

Leute, wie du und ich. Alleine, maximal zu zweit unterwegs. Keiner weiß, was sie im Gebirge eigentlich treiben, denn sie sondern sich ab und nehmen keinen Kontakt mit anderen auf. Wenn man sie anspricht, bleiben sie sehr einsilbig und versuchen, das Gespräch zu beenden. Finstere, mürrische Gesellen, um die man besser einen Bogen macht.

 

Erkennungszeichen

Schweigsam wie ein Stein. Und mindestens genauso gesellig. Bleibt für sich.

 

Oberbekleidung

Schlicht und funktional. In irgendeiner Farbe, die im Gebirge nicht auffällt.

 

Schuhe

Schlicht und funktional.

 

Schritt

Rhythmisch.

 

Ausrüstung

Alles mögliche Zeug aber alles hochwertig und funktional.

 

Lieblingsmusik im Gebirge

Stille

 

Hauptgründe, im Gebirge zu sein

Das verraten sie nicht.

 

Braucht

Alleinsein und in Ruhe gelassen werden.

 

Typische Satzanfänge

„Ich hätte gerne das Gericht Nummer fünf.“

 

 

Die Riemchensandale

 

Die Riemchensandale ist im Gebirge überall dort anzutreffen, wo man mit Auto oder Seilbahn bequem in größere Höhen kommt. Die Entfernung zwischen Parkplatz bzw. Seilbahnstation und Aufenthaltsort der Riemchensandale ist nie größer als drei Kilometer.

Die Riemchensandale ist ein typischer Flachlandbewohner, der das Gebirge eigentlich meidet, weil da oben alles so furchtbar mühsam ist. Aber wenn die moderne Technik es möglich macht, dann kann man schon mal ein paar Schritte wagen.

Oben angekommen wird auch schon mal gerne lautstark ins Gebirge gejodelt oder sonstiges gebirgstypisches Geräusch gemacht. Hauptsache laut! (An der Alpspitze habe ich schon mal erlebt, dass so ein Vollidiot im Trachtenjanker sein Alphorn mittels Seilbahn nach oben gewuchtet hatte. Und jetzt tutete er direkt neben der Bergstation in der Gegend rum, dass es kilometerweit schallte).

 

Erkennungszeichen

Völlig berguntaugliche Kleidung. Friert in größerer Höhe schauerlich, weil nur Bekleidung aus dem Flachland zur Hand ist. Riecht wie eine Filiale der Parfümerie Douglas. Achtet bei jedem Schritt darauf, dass die Schuhe im Geröll nicht zerkratzen. Sehr trittunsicher.

 

Oberbekleidung

Alles, was nicht ins Gebirge passt. Im Wettersteingebirge und im Karwendelgebirge habe ich schon hunderte Menschen erlebt, die bei Temperaturen nahe dem Gefrierpunkt im T-Shirt durch die baumlose Gerölllandschaft irrten.

 

Schuhe

Sandalen, Pumps, Turnschuhe – einfach alles, was im Gebirge nichts taugt.

 

Schritt

Sehr unsicher, tastend.

 

Ausrüstung

Handtasche, Handy, Selfie-Stick.

 

Lieblingsmusik im Gebirge

Alles, was Krach macht.

 

Hauptgründe, im Gebirge zu sein

 

Das ist so toll hier oben!

 

Braucht

Eine Klimaanlage für’s Gebirge. Entweder ist’s da zu heiß oder zu kalt oder zu windig. Und den ewigen Nebel/Regen da oben könnte auch mal einer abschaffen. Die Wege müssten besser angelegt sein – mit mehr Stufen und so. Und vielleicht hier und da eine Rolltreppe …

 

Typische Satzanfänge

„Huch, jetzt wäre ich beinahe ausgerutscht …“

 

 

Das Maaaama!

 

Das Maaaama! ist ein Sonderfall im Gebirge. Hier bilden mehrere Individuen einen größeren Organismus.

 

1

Ein Maaaama konstituiert sich:

 

Drei, maximal vier Familien treffen sich im Gebirge. Die Eltern sind zwischen dreißig und vierzig Jahre alt und die Kinder sechs bis zwölf. Die Erwachsenen sind rüstig, sportlich und heilfroh, endlich mal aus dem Alltagstrott rauszukommen. Die Kinder sind neugierig, wissen aber nicht so recht, worum’s hier geht.

 

In einem ersten Schritt werden die Individuen sortiert:

Ganz vorne gehen die Mütter und unterhalten sich angeregt miteinander. Sie achten auf sonst gar nichts mehr. Sie gehen vollständig in ihrer Unterhaltung auf und marschieren zügig voran. Wichtig ist ihnen, dass sie so schnell gehen, dass die Kinder unmöglich Schritt halten können.

 

Hinter den Müttern verteilen sich die Kinder in kleinen Gruppen. Sie wandern nicht, sondern strolchen herum und sind vor allem damit beschäftigt, Geheimwege zu finden und vergrabene Schätze zu orten. Hin und wieder befindet sich einer der Väter bei ihnen.

 

Zwei oder drei Väter, die sich ununterbrochen unterhalten, bilden den Schluss des Maaaama! Sie sind sozusagen die Nachhut

 

2

Das Maaaama! nimmt seine Arbeit auf:

 

Die Mütter eilen raschen Schritts voran. Sie unterhalten sich ununterbrochen. Sie sind heilfroh, die Kinder mal los zu sein. Die sollen sich hier im Gebirge mal so richtig austoben, damit sie abends zur Abwechslung mal müde sind. Außerdem sind auch die Väter dabei. Sollen die sich doch mal kümmern.

 

Die Kinder finden interessante Sachen, die sie den Müttern zeigen wollen. Aber die sind schon weit weg – mindestens dreihundert Meter, meistens mehr. Also rennen die Kinder hinter ihnen her und brüllen, was die kleinen Lungen hergeben:

„Maaaama!“

 

Die Mütter weiter vorne versuchen genervt, das zu ignorieren. Aber die Kinder lassen nicht locker. Niemand hat ihnen gesagt, dass im Gebirge nicht rumgeschrien wird, also lassen sie von sich hören. Irgendwann bleiben die Mütter entnervt stehen und warten, bis die Kinder etwas näher gekommen sind. Und dann wird im Dialog gebrüllt (Entfernung ca. 100 bis 150 Meter):

„Maaaama!“

„Ja, was ist denn?!“

„Ich hab‘ hier einen ganz tollen Stein gefunden!“

„Ja, großartig, zeig ihn dem Papa!“

„Der weiß aber auch nicht, was das für ein Stein ist!“

„Das wird so ein Gebirgsstein sein!“

 

Das geht in diesem gebrüllten Dialog eine ganze Weile so weiter. Die Mütter stehen und die Kinder rennen. Wenn die Kinder gefährlich nahe gekommen sind, drehen sich die Mütter wieder um und marschieren mit energischen Schritten weiter. Der Dialog bricht mitten im Satz ab. Wichtig für ein funktionierendes Maaaama! ist es, dass Mütter und Kinder nie nahe beieinander sind.

 

Wenn die Mütter dann wieder weit genug weg sind, dass sich das Schreien lohnen könnte, legen die Kinder wieder los:

„Maaaama!“

Und Aufgabe der Mütter ist es, erst nach dem dritten oder vierten Rufen genervt stehen zu bleiben:

„Ja, was ist denn?!“

 

Es ist nie zu früh, den Kindern klar zu machen, dass sie nur eine entsetzliche Last im Leben ihrer Eltern sind. Und welcher Ort könnte dafür besser geeignet sein als das Gebirge?

Ich konnte in den letzten Jahren mehrfach ein Maaama! vermessen und habe dabei festgestellt, dass es zwischen fünhundert Metern und zweieinhalb Kilometern lang sein kann. Da Maaaamas! im Gebirge aber nur relativ selten anzutreffen sind, müssen diese Messergebnisse jedoch (weil es so wenige sind) als vorläufig gelten.

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Kommentare: 3
  • #1

    Neo-Silver (Samstag, 21 Juli 2018 11:21)

    Eine hervorragende Idee für einen Artikel hast du da gehabt.
    Ich habe mich sehr amüsiert beim lesen.

    Diese Schilder sollten tatsächlich so aufgestellt werden und ich bin mir sicher, es würde Freude auf die Menschen übertragen.
    Bei mir hat es zumindest funktioniert.

  • #2

    lemonbalm (Sonntag, 22 Juli 2018 23:19)

    "Diese Schilder sollten tatsächlich so aufgestellt werden und ich bin mir sicher, es würde Freude auf die Menschen übertragen."
    Warum bist du dir da so sicher? Mich hat dieser Blogeintrag ebenso amüsiert, aber ich bin mir auch sicher, dass ich einige Personen kenne, die nicht so amüsiert gewesen wären, sondern sich eher ertappt gefühlt hätten. Da diese Personen sich nicht gerne ertappt fühlen, werden sie vermutlich dazu neigen, die Aussagen, die sie betreffen, weit weg von sich zu schieben.
    Ich war eine Ausgesetzte, mag die Urgesteine und ordne mich nun dem Nerd zu.

  • #3

    Neo-Silver (Montag, 23 Juli 2018 08:16)

    Sicher bin ich mir, weil ich Passagen dieses Textes anderen Menschen gezeigt habe und jene es ebenso als amüsant empfanden.
    Deine Aussage unterstützt meine These ebenso.
    Damit wäre die Tatsache, dass es Freude überträgt, schon logisch gegeben, schließlich habe ich nicht behauptet es würde allen Menschen Freude bereiten.

    Ich bin der Meinung, dass ein Mensch, welcher seine Probleme und Eigenarten kennt, diese akzeptiert hat, auch über solch Aussagen wie im o.g. Text erwähnt, schmunzeln kann, eben gerade weil er sie als seine Eigenarten erkennt.
    Dennoch hast du natürlich recht und solche Menschen, wie du sie beschreibst, gibt es ebenso.