Ein langer Weg 04 - Aufbau

Ich habe eine Kindheit und eine Jugend hinter mir, die härter sind als die meisten Menschen der westlichen Welt sich überhaupt vorstellen können. Meine ältere Schwester brachte es gut auf den Punkt, als sie 18 Jahre alt war:

„Das ist eine Familie, wie sie sonst nur in sozialkritischen Filmen vorkommt.“

Ich will niemandem zu nahe treten, den es im Leben wirklich hart getroffen hat. Ich will auch keinen Wettbewerb ausrufen – Wer hat das härteste Leben, wer bietet mehr? Und vielleicht neigt jeder Mensch dazu, sein Leben als besonders hart anzusehen. Ich weiß es nicht.

 

Ich habe überlebt. Einige andere, die ich kannte, nicht. So zum Beispiel mein älterer Bruder, der in der harten Drogenszene ermordet wurde, als er 21 Jahre alt war. So zum Beispiel mein bester Freund Bernd, der in einer Dezembernacht in der Nichtseßhaftenszene erfror. Er hatte sich mit Schmerzmitteln zugedröhnt und dann draußen zum Schlafen hingelegt. Der Tod hat viele Gesichter. Und wer mit so einer schwarzen Vergangenheit nicht überleben will, den holt er sich. Ich wollte leben. Trotzdem und irgendwie.

 

Das mit dem Überleben ist so eine Sache, wenn man solch ein seelisches Gepäck hat. In den Hollywoodfilmen, wo sie diese Thematik oft aufgreifen, ist das recht einfach: Was auch immer im Leben des Helden passiert ist - nach 90 bis 100 Minuten geht das alles gut aus. Und dann ist alles geritzt. Dann kommt der Abspann, dann geht das Licht an, und alle können wieder durchatmen. Das Publikum geht zurück in sein Durchschnittsleben. Du bleibst zurück. Für dich geht dieser Film weiter. Denn in deinem Leben ist das anders als in dem der anderen.

 

Zum einen nimmst du deine Vergangenheit mit, wohin immer du auch gehst. Die wirst du nie wieder los. Was die anderen im Kinosaal zurück lassen können, ist für dich Dauergepäck. Und zum anderen dauert das Leben nach dem Crash länger als 90 bis 100 Minuten. Wenn du eine Vergangenheit hast wie meine, und wenn du dennoch ein Leben führen willst, das diesen Namen auch verdient, dann bist du beinahe immer mit Aufbau beschäftigt.

 

Das Leben, das sie dir anbieten, ist dann nicht für dich. Du kannst kein Leben führen wie die anderen – nicht mit der Vergangenheit. Egal, wohin du schaust – nirgends sind Vorbilder oder Hinweise, die dir weiter helfen. Im Gegenteil: Es gibt tonnenweise Bullshit für dich, aus allen Richtungen:

„Warum machst du nicht einfach …“

„Also, ich würde ja …“

„Jesus ist die Antwort …“

„Du musst nur an dich glauben …“

„Ich war ja auch ganz unten, aber dann … (habe ich den entscheidenden Tipp bekommen, las ich das richtige Buch, fand ich zu Gott …)“

 

Die Wirklichkeit ist: Du bist – zunächst einmal – vollkommen allein. Denn niemand hat auch nur einen blassen Schimmer, wie es in dir aussieht, und wie sich das anfühlt. (Ich habe in Kunst und Literatur noch niemals eine Darstellung einer Situation gefunden, die meiner inneren Wirklichkeit auch nur annähernd nahe kommt). Und exakt die, die dir ungefragt Rat und Hilfe aufdrängen – im Gespräch oder in Büchern und anderen Medien – die brauchen selber Hilfe. Deren Verhalten ist Teil deines Problems, nicht Teil der Lösung.

 

Es gibt Menschen, die haben Ahnung. Die können dir helfen. Sie drängen sich nicht auf. Wenn du ernsthaft suchst, dann findest du sie irgendwann.

 

Wenn du ein Leben hinter dir hast, wie meines, dann ist deine Haupttätigkeit Aufbau. Ein Leben lang. Das nimmt kein Ende mehr. Es geht nicht darum, aus den Ruinen wieder was aufzubauen, denn es ist buchstäblich nichts da, was gut war und was den Wiederaufbau verdient hätte. Nichts – bis auf diese mikroskopisch kleinen Sandkörner in der Wüste deines Lebens: die paar kleinen Momente in deinem Kinderleben, von denen es gerne ein paar mehr hätte geben können.

 

Da sitzt du dann also im Nichts, mit ein paar kleinen Sandkörnern in der Hand. Das ist der Grundstock für dein neues Leben. Und jetzt bau mal: Ein neues Leben aus nichts und ein paar Sandkörnern.

 

Ich kann aus Erfahrung versichern, dass das geht.

 

Aufbau bedeutet Konzentration.

Aufbau bedeutet Hingabe.

Aufbau bedeutet, sich wirklich einzulassen auf das, was man in sich findet.

Aufbau bedeutet Geduld und Ausdauer in einem beinahe unmenschlichen Maße.

Aufbau bedeutet, barmherzig zu sich selber zu sein, ohne selbstmitleidig zu werden.

Aufbau bedeutet, alle Vorstellungen von sich sausen zu lassen und neu anzufangen. Immer wieder.

Aufbau bedeutet, aus dem was zu machen, was man hat. Du hast nur diese Vergangenheit, und du hast nur diese Fähigkeiten. Mach was draus.

 

Als Nebenprodukt aus all dem

·     meide ich Negativismus und Pessimismus. Was nicht geht, interessiert mich nicht. Mich interessiert nur, was geht. Und meine Erfahrung ist: Irgendwas geht immer. Und wenn es nicht so geht, dann geht es eben anders.

·    investiere ich sehr viel Energie und Zeit, real zu werden. Meine Erfahrung ist: Ich kann mit jeder Realität leben, so schlimm sie auch sein mag. Mit Illusionen kann ich nicht leben. Meine Erfahrung ist: Die Logik ist unbezwingbar.

·   interessiert mich beinahe nicht, was andere dazu sagen. Die Wahrheit, die ich suche und brauche, die liegt in mir. Nur dort werde ich sie finden. Alles andere ist unwichtig. 

 

Hat sich der Weg für mich gelohnt?

Ja.

 

Geht es mir gut?

Nein.

(Aber das ist nicht entscheidend. Ich bin oft sehr zufrieden. Und oft geht es mir sehr, sehr schlecht. Das darf sein).

 

Habe ich meine Vergangenheit überwunden?

Ich würde sagen zu 40 bis 50 Prozent.

 

Was kann ich anderen in vergleichbarer Situation empfehlen?

Nichts.

Jeder muss seinen Weg selber finden und gehen. Ich will mit diesem Text nur den Hinweis geben, dass es diesen Weg tatsächlich gibt und ermutigen, ihn zu finden und zu gehen.

(Achtung: Ich ermutige zum Finden, nicht zum Suchen. Dieser Unterschied ist für mich entscheidend).

 

 

 

Und jetzt gehe ich wieder zurück in die Stille und baue auf. 

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