The New York Times International Edition, Saturday-Sunday, May 12-13, 2018 p 15
“Alexa? Disregard my husband, please”
[Alexa ist ein elektronisches Zuhörgerät, das Amazon auf den Markt gebracht hat].
In der Wochenendausgabe der New York Times gibt es regelmäßig eine Seite, auf der Frauen kund und zu wissen geben, welche Frauenthemen sie bewegen.
Der Artikel, zu dem ich hier Stellung nehmen will, greift eine Thematik auf, die mir in der NT-Welt verblüffend häufig begegnet: Die Person A wirft der Person B vor, ihr nicht zuzuhören. In diesem Fall beklagt sich die Frau, dass ihr Mann ihr nie zuhört. Aber ich kenne auch die umgekehrte Variante: Der Mann beklagt sich. Du hörst mir nie zu!
Wenn die Verliebtheit abgeklungen ist, stellen NTs, die in Beziehungen leben, oft fest, dass ihr Partner ihnen nicht in dem Maße zuhört, wie sie das gerne hätten. Und dann scheinen sie zu den immer selben Strategien zu greifen:
1
Die NTs machen ihrem Partner Vorwürfe. Sie zanken mit ihm rum.
2
Die NTs reden viel mehr und wiederholen sich beim Reden hunderte Male in der Hoffnung, dass dieses Trommelfeuer Wirkung erzielt.
3
Die NTs entwickeln Dramen und Nebenkriegsschauplätze, um die Aufmerksamkeit des Partners für das, was sie ihm sagen wollen zu wecken.
4
Sie machen ihm das Leben extra schwer – um sich zu rächen bzw. um ihn zu erziehen.
5
Sie resignieren und finden sich ab. Dabei büßen sie stark an Lebensqualität ein.
6
Und so weiter.
Das alles wird in diesem Artikel sehr schön beschrieben. Die Autorin nörgelt an ihrem Mann rum, beklagt sich, zankt mit ihrem Mann rum und droht ihm sogar, die Scheidung einzureichen, wenn er nicht endlich anfängt, ihr zuzuhören.
Alle diese Strategien haben zweierlei gemeinsam:
a) Sie führen nicht zum gewünschten Ziel.
b) Sie werden dennoch von den NTs wieder und wieder und immer wieder angewandt.
In meinen Seminaren sage ich dazu:
„Dreimal abgeschnitten – immer noch zu kurz!“
Man sollte meinen, dass NTs in der Lage sind zu erkennen, wenn eine Strategie in einer sozialen Beziehung über Jahre und Jahrzehnte nicht zum gewünschten Ziel führt und sich dann was anderes überlegen. Die NTs, die mir im Alltag begegnen, sind dazu – wenn überhaupt – nur in sehr eingeschränktem Maße in der Lage. Vielleicht weiß ich auch, warum das so ist. Dazu will ich heute schreiben.
NTs – also Menschen, die am Neurotypischen Syndrom leiden – zeichnen sich vor allem dadurch aus, dass sie beinahe permanent sozial und emotional bedürftig sind. Ein Hauptgrund eine Beziehung einzugehen ist für die NTs, die ich kenne, dass sie dann permanent jemanden an ihrer Seite haben, der sie sozial und emotional betanken kann. Das ganze beruht auf dem unausgesprochenen Vertrag: Du betankst mich. Ich betanke dich.
Solange die NTs verliebt sind, mag das funktionieren. Danach wird es jedoch kritisch. Denn die soziale und emotionale Bedürftigkeit des durchschnittlichen NTs sprengt jedes erfüllbare Maß. So viel Liebe, Aufmerksamkeit und Zuneigung, wie die NTs zu brauchen glauben, gibt es auf der ganzen Welt nicht. Der durchschnittliche NT kann einen ganzen Ozean an Liebe austrinken, nur um am nächsten Tag festzustellen, dass er durstig ist. Mach was dran.
Wenn NTs in einer Beziehung miteinander reden, geht es in aller Regel nicht darum, Informationen auszutauschen, sondern sich gegenseitig zu betanken. Und wenn gerade beide NTs gleichzeitig emotional und sozial bedürftig sind (was nach der Phase der Verliebtheit beinahe dauernd der Fall sein dürfte), dann will jeder, dass der andere ihm zuhört bzw. ihn betankt. Das führt dann sehr häufig zu dem, was ich „Monolog zu zweit“ nenne: Erst sagt der eine NT was, und der andere hört nicht oder nur sehr oberflächlich zu. Und dann sagt der andere NT etwas, was von seinem Gegenüber ignoriert wird. Und so weiter. Das kann viele Minuten so gehen.
„Meine Mutter hat angerufen. Sie ist in Italien und hat wieder ihre Migräne.“
„Ja, Italien soll ja sehr schön sein, aber ich persönlich bevorzuge ja eher Griechenland.“
„Dabei habe ich ihr immer gesagt, dass sie ihre Medikamente nehmen soll.“
„Die alten Griechen hatten ja auch sehr viel mehr Kultur als die alten Römer.“
Und so weiter.
Aufmerksamen Beobachtern fällt auf:
a) Die beiden reden aneinander vorbei.
b) Hier läuft kein Dialog. Hier laufen zwei Monologe nebeneinander.
c) Das ist – im Moment jedenfalls – keine Beziehung, sondern Einsamkeit zu zweit.
Den beiden NTs in ihrem verzweifelten Bemühen, betankt zu werden fällt das nicht auf. Sie nennen sowas „Gespräch“.
In meiner Welt ist es so:
Um dem anderen wirklich zuhören zu können, musst du in Sachen emotionaler und sozialer Zuwendung ziemlich satt sein. Ich gelte bei den NTs, die mich umgeben, als ausgesprochen talentierter Zuhörer. Die NTs kommen in Scharen zu mir, um mir ihr Herz auszuschütten und mir zu erzählen. Viele, viele Stunden verbringen sie damit, und ich höre ihnen sehr aufmerksam und geduldig zu. Kein Wunder: Ich will ja nichts von ihnen. Ich bin sozial und emotional kaum bedürftig. Das allermeiste, was ich zu erzählen habe, kann ich mir selber erzählen und bin sehr zufrieden damit. Das ist nicht mein Verdienst. Ich habe das Asperger-Syndrom – ich bin weitaus besser dran als die NTs. Ich kann zuhören. Wirklich zuhören meine ich. Auch dann, wenn ich nicht verliebt bin. Auch dann, wenn ich nicht gut drauf bin.
Manchmal denke ich, ich hätte auch Barkeeper werden können, so viel und so ausdauernd erzählen mir die NTs was. In der Tat – es kommt sogar immer wieder vor, dass Ärzte, die ich als Patient aufsuche, mir ausführlich aus ihrem Leben berichten.
Was kann ich den NTs also in dieser Sache sagen?
Nichts.
Denn sie müssten als erstes erkennen, dass der Partner ihnen diese emotionale und soziale Zuwendung, die sie zu brauchen glauben, gar nicht geben kann. Sie müssten erkennen, dass sie den anderen mit ihrer grenzenlosen Bedürftigkeit heillos überfordern. Und das würde – aus Gründen, die ich hier aus Platzgründen nicht ausdifferenzieren kann – tiefste Panik in ihnen auslösen. Es gibt gangbare Wege zur nachhaltigen und tiefen Lebenszufriedenheit. Aber dafür muss man als erstes erkennen, dass einem der Partner nicht das geben kann, was man zu brauchen glaubt. Und welcher NT will das schon?
Die allermeisten NTs werden also weiterhin
1
Ihrem Partner Vorwürfe machen, dass er ihnen nicht zuhört, an ihm rumnörgeln und mit ihm rumzanken
2
Ganz viel reden und ihm alles hunderte Male erzählen, in der vergeblichen Hoffnung, irgendwie zu ihm durchzudringen.
3
Dramen inszenieren, um die Aufmerksamkeit ihres Partners zu erregen.
4
Ihren Partner erziehen und ihm das Leben extra schwer machen.
5
Resignieren und sich abfinden (und dabei stark an Lebensqualität einbüßen).
6
Und so weiter.
Und es wird alles nichts nützen, denn es ist nicht real.
Real wäre es, zu erkennen, dass nicht der Partner oder sein Verhalten das Problem sind, sondern die eigene grenzenlose emotionale und soziale Bedürftigkeit.
Wir müssen uns den durchschnittlichen NT also als ziemlich unglücklichen Menschen vorstellen.
P.S.
Die Frau, deren Artikel ich zum Anlass nahm, das hier zu schreiben, hat eine neue Strategie ins Auge gefasst: Sie hat festgestellt, dass Alexa ihr immer zuhört und auf alle ihre Fragen antwortet. Das hält sie für ausbaufähig. Ich sage: So kann man sich auch beschäftigen, wenn man der Realität ausweichen will.
Und wieder einmal leistet die moderne Technik ihren Beitrag, dass NTs sich der Realität nicht stellen müssen.
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LilithTehanu (Donnerstag, 09 Mai 2019 21:04)
und ich hatte geschlussfolgert, dass sich NT's einfach selbst gern reden hören und mich darum zulabern... Danke für die neue Einsicht! Die soziale Bedürftigkeit ist ein weitaus mehr Sinn ergebendes Modell.