Mit euch will ich nicht wir sein

Ich habe zu den beiden letzten Texten, die ich in diesem Blog veröffentlicht habe, zahlreiche Reaktionen bekommen – mündliche und schriftliche. Aus diesen Rückmeldungen habe ich den Schluss gezogen, dass ich mich immer wieder missverständlich ausgedrückt habe; und dass es besser ist, wenn ich das eine oder andere, was meine Sichtweise ausmacht, nochmals klar herausarbeite.

 

Die letzte Rückmeldung bekam ich vor zwei Stunden:

Ich traf einen neurotypischen Kollegen auf einer Tagung. Dieser Kollege hatte vor vielen Jahren seinen Schreibtisch direkt neben meinem. Eines Morgens sprach er mich unvermittelt an: „Du, hast du eigentlich das Asperger-Syndrom?“ Ich hatte diese Möglichkeit bis dahin noch nie in Erwägung gezogen. Und so stieß er mit seiner Frage einen langjährigen Prozess an, der schließlich in meiner Diagnose mündete. Wir sprachen oft über dieses Thema. Er weiß also seit vielen Jahren ziemlich gut über meinen Autismus Bescheid.

Dieser Kollege ist ein extravertierter, gut vernetzter, freundlicher Geselle. Er ist vielseitig interessiert. Er engagiert sich stark im Kinderschutzbund und in verschiedenen anderen, positiv besetzten Themenfeldern, in denen es darum geht, dass die Starken den Schwachen helfen.

 

Als wir uns auf dieser Tagung trafen, sprachen wir über ein paar Fragestellungen, die ihn gerade beschäftigen. Da das inhaltlich zu passen schien, schickte ich ihm per Mail meinen Blogtext „Neunkommavier“ (hier erschienen vor zwei Wochen), in dem ich thematisiere, dass Asperger-Autisten sich ca. zehnmal so häufig selbst töten wie Neurotypische.

 

Ein paar Stunden später gab er mir Rückmeldung:

„Du, ich hab deinen Text vorhin gelesen. Das ist ja wirklich interessant, aber (…).“

Nach dem „aber“ folgten ausschließlich seine Themen. Er ging mit keiner weiteren Silbe auf meinen Text ein und stellte auch keinerlei Nachfragen. Ich habe in meinem letzten Text zu diesem Verhalten der NTs geschrieben, dass sie unser Leiden wie eine spannende Safari erleben.

(Soviel an dieser Stelle zum Thema „Die Neurotypischen sind sehr empathische Menschen mit sehr viel Einfühlungsvermögen, und die Asperger-Autisten sind allesamt unempathische, kaltherzige Klötze, die nicht die Fähigkeit haben, sich in andere hinein zu versetzen“. (Das ist eine geradezu groteske Verdrehung der Tatsachen, zu der ich in einem gesonderten Text Stellung nehmen werde)).

 

Ich schildere die Umstände dieser Rückmeldung so ausführlich, um mal an einem Beispiel deutlich zu machen, worum es mir geht:

 

Liebe Neurotypische, wie würdet ihr euch fühlen, wenn ihr

 

1

einem Autisten, der sagt, dass er euch mag und ein gutes Verhältnis zu euch hat, einen Text schickt, aus dem hervorgeht, dass die NTs sich zehnmal so häufig umbringen wie die AS, und dass der Grund dafür ist, dass die AS den NTs das Leben zur Hölle machen.

 

2

als einzige Rückmeldung bekommen würdet:

„Blablabla interessant blablabla“

 

Aber ich habe natürlich auch andere Rückmeldung bekommen:

Immer wieder wurde mir geschrieben oder gesagt, dass es doch gut wäre, wenn Asperger-Autisten und Neurotypische (also die Nichtautisten) in sozialer Gemeinschaft leben könnten. Am besten in harmonischer sozialer Gemeinschaft, versteht sich. Und dass ich (gefälligst) dazu beizutragen hätte, dass dieses Ziel erreicht wird.

 

Ich glaube zu wissen, wieso dieses Thema immer wieder hochkommt und sich dann so hartnäckig hält. Deshalb will ich an dieser Stelle noch einmal klar und deutlich werden. Vielleicht werden dann die Missverständnisse weniger.

 

Zunächst aber ein paar Vorbemerkungen für meine neurotypischen Leser, denen es oft so leicht fällt, sich ungeliebt und abgelehnt zu fühlen:

 

A

Ich schätze die allermeisten neurotypischen Menschen, denen ich begegne, sehr. Fast alle NTs, die ich kenne, sind ausgesprochen liebenswerte Menschen. Ich verbringe seit Jahrzehnten mein komplettes Arbeitsleben mit ihnen und lerne sehr viel von ihnen.

 

B

Die allermeisten neurotypischen Menschen, denen ich begegne, schätzen mich sehr. Sie suchen meine Nähe und wollen intensiven Kontakt mit mir, weil ihnen meine Anwesenheit so gut tut. Ich bin also kein Unhold und auch kein Finsterling und auch niemand, der sich einen abbrechen muss, damit er soziale Akzeptanz bekommt. Ich bin von freundlichem und allgemeinverträglichem Wesen Das Leben mit den NTs gelingt mir, und sie mögen mich. Ich gelte als sozial gut integriert und als beruflich sehr erfolgreich. Buchstäblich dutzende Neurotypische wollen viel mehr Zeit mit mir verbringen oder sogar mein Freund sein.

 

C

Ich bin NT-Flüsterer und NT-Versteher. Da ich seit über 50 Jahren einen sehr großen Teil meiner wachen Zeit damit verbringe, NTs in ihrer natürlichen Umgebung zu beobachten und zu studieren, kenne ich mich auf diesem Gebiet ziemlich gut aus. Darüber hinaus habe ich dieses Metier an der Universität studiert und mich gründlich wissenschaftlich ausgebildet sowie mein Wissen durch zahlreiche langjährige Fortbildungen vertieft.

 

 

So.

Und jetzt geht’s los.

Was habe ich zu sagen?

 

1

Ich bin es mittlerweile ziemlich müde, mir von Menschen, die die NTs nicht studiert haben, sondern lediglich ihren Alltag mit ihnen verbringen, erklären zu lassen, wie die NTs funktionieren – was sie alles können und was sie nicht können. Ich bin es müde, mir wieder und wieder anzuhören, dass die Dinge, die naturgesetzlich so sind, nicht so zu sein haben und man gefälligst was dran ändern solle.

Das ist ungefähr so, als würde man einem Physiker wortreich erklären, dass er total gemein sei, weil er seine Zeit und seine Energie nicht dafür einsetzt, dass wir endlich ein Perpetuum Mobile erfinden. Gerade angesichts der zunehmenden Klimaerwärmung würden wir das so notwendig brauchen! So viele soziale und ökologische Probleme könnten gelöst werden, wenn wir nur endlich ein Perpetuum Mobile erfinden würden! Und wer wäre für diese edle Tat besser geeignet als ein Physiker. Aber der Physiker, müde und genervt, antwortet nur unwirsch:

„Geht nicht. Ist gegen die Naturgesetze. Damit befasse ich mich gar nicht erst.“

Und die neurotypische Gemeinde (unterstützt von einigen gutmeinenden und idealistischen AS) schreit auf:

„Was für ein gemeiner Mensch! Er will uns nicht helfen!“

Ich erlebe es bei meiner täglichen Arbeit sehr häufig, dass die NTs sich an den Naturgesetzen, die ihr Verhalten steuern, stoßen und moralisch-ethische Gründe anführen, dass diese Naturgesetze gefälligst nicht zu gelten haben. Dazu sage ich den NTs dann immer:

„Ich kann euch bei allem helfen. Aber nicht bei eurem Kampf gegen die Realität.“

 

Zugespitzt:

Liebe NTs, die Naturgesetze gelten auch für euch. Das tun sie unabhängig davon, ob ihr das gut findet oder nicht. Moralisch-ethischer Eifer hebt die Wirkung von Naturgesetzen also nicht auf. Das gilt auch für die Naturgesetze, die euer Verhalten und Erleben steuern.

 

 

2

Liebe Neurotypische, glaubt es oder glaubt es nicht, aber ich habe keinerlei Interesse daran, in irgendeiner Form Teil einer sozialen Gemeinschaft von euch zu sein. Mit euch will ich nicht wir sein. Absolut nicht. Eure Art, in der Welt zu sein, entzieht mir derart viel Energie, dass es grob fahrlässig wäre, wenn ich das versuchen würde. Ich würde mich gesundheitlich und seelisch ruinieren – für nichts.

 

Zugespitzt:

Liebe NTs, mit euch will ich nicht wir sein. Nicht deshalb, weil ich euch nicht leiden kann, sondern weil es für mich den Tod auf Raten bedeutet, wenn ich mich längere Zeit eurer Art, in der Welt zu sein, aussetze.

 

 

3

Eure sozialen Bedürfnisse sind nicht meine. Eure sozialen Reichtümer (Beliebtheit, viele Freunde, großes soziales Netzwerk, anerkannt sein in Familie, Nachbarschaft und Gemeinde etc., etc.) bedeuten mir buchstäblich gar nichts. Bitte gebt mir nichts von eurem sozialen Reichtum – ich kann damit nichts anfangen, und er belastet mich bloß.

 

Und, liebe NTs:

Ich finde es ja toll, dass es euch so gut geht, wenn ihr in meiner Nähe seid. Nochmal: Ich freue mich sehr, wenn es euch gut geht. Und wenn es euch gut geht, weil ich in eurer Nähe bin – hervorragend! Ich freue mich für euch! Aber ob ihr mich mögt oder nicht mögt, ist mir für mein Leben fast völlig gleichgültig. Es bedeutet mir nichts. Eure bevorzugte Form, Zuneigung und Dankbarkeit zu zeigen (reden und körperliche Nähe) entzieht mir derart viel Energie, dass ihr mich damit laufend in die Flucht treibt. Ihr könnt mich ja mögen. Ihr dürft mir dankbar sein. Aber lasst mich bitte in Ruhe. Wenn ihr mir was mitzuteilen habt, dann macht das bitte schriftlich. Wenn ich Kontakt mit euch will, komme ich dann auf euch zu.

 

Zugespitzt:

Liebe NTs, bitte versucht nicht, mir zu helfen oder mir irgendwas zu geben. Ihr habt nichts, was ich gerne hätte oder irgendwie brauchen könnte. (Außer Geld. Das nehme ich gerne). Dass es euch so gut geht, wenn ihr in meiner Nähe seid, bedeutet nicht, dass es umgekehrt genauso ist.

 

 

4

Bitte erzählt mir nicht, dass ihr Verständnis für mich habt, denn das stimmt nachweislich nicht. Erzählt mir nur dann, dass ihr Verständnis für mich habt, wenn ihr bereit und in der Lage seid, das an Ort und Stelle und sofort unter Beweis zu stellen. (Und bitte, liebe NTs, mit „unter Beweis stellen“ meine ich nicht „reden“. Ich meine also nicht, dass ihr mir wortreich erklären sollt, wie ähnlich ihr doch den Autisten seid. Denn schon allein, dass ihr redet, macht euch für mich unerträglich).

 

Zugespitzt:

Liebe NTs, ihr seid im allgemeinen vollauf ausgelastet damit, Verständnis für euch selber und für euresgleichen aufzubringen. Es würde euch hoffnungslos überfordern, wenn ihr auch noch Verständnis für mich aufbringen müsstet. Tut deshalb bitte nicht so, als ob ihr mich verstehen würdet. Das stimmt nicht und hilft nicht weiter.

 

 

5

Ich sehe so aus wie ihr. Aber ich bin nicht wie ihr. Viele von euch träumen davon, ein Unikat zu sein, spüren aber, dass sie keins sind und legen deshalb gewaltigen Wert auf ihre „Individualität“. Ich bin ein Unikat. Definitiv. Da ich nur so aussehe wie ihr, aber nicht bin wie ihr, bitte ich euch vor allem um eins:

Lasst mich in Ruhe!

 

Zugespitzt:

Liebe NTs, ihr seid dadurch charakterisiert, dass ihr ohne den sozialen Kontakt mit euresgleichen zugrunde geht. Das beißt sich mit eurem Bedürfnis, ein Individuum zu sein, denn um eure sozialen Kontaktbedürfnisse zu befriedigen, müsst ihr euch an die anderen anpassen. Ich habe kaum soziale Kontaktbedürfnisse. Deshalb kann ich es mir leisten, ein Individuum zu sein.

 

 

Fazit

Liebe Neurotypische, ich werde euch nicht bei eurem Kampf gegen die Realität helfen:

Wenn ihr also jemanden sucht, der dazu beiträgt, dass Asperger-Autisten und Neurotypische in harmonischer sozialer Gemeinschaft miteinander leben können, dann sucht bitte woanders. Ich stehe dafür nicht zur Verfügung. Der Kampf gegen die Naturgesetze ist in meiner Welt die reine Zeitverschwendung.

 

Ich werde meine Energie, meine Zeit, meine Kreativität und mein Denkvermögen weiterhin dafür einsetzen, dass wir endlich Wege finden, wie Asperger-Autisten und Neurotypische in Frieden nebeneinander leben können – in gegenseitiger Wertschätzung und in Achtung der Andersartigkeit des anderen.

Liebe NTs, ich werde weiterhin dafür kämpfen, dass die AS sich nicht assimilieren müssen, damit sie von euch akzeptiert werden oder beruflich und sozial erfolgreich sein können. Denn die Assimilation, die ihr uns aufnötigt, ist für uns der Tod auf Raten.

 

Damit das ganz klar wird, liebe NTs, will ich auch diesen Gedanken nochmal zuspitzen:

Ich halte es für vollkommen ausgeschlossen, dass NTs und AS dauerhaft in irgendeiner Form in einer gleichberechtigten sozialen Gemeinschaft leben können. Ich denke aber, dass es möglich ist, dass AS und NTs friedlich nebeneinander leben. Dieses Ziel zu erreichen ist schwierig genug. So schwierig, dass wir uns nicht mit unmöglich zu erreichenden Zielen (z.B. soziale Gemeinschaft NT-AS) beschäftigen sollten.

 

Was wir brauchen und anstreben sollten, ist nicht soziale Gemeinschaft, sondern Achtsamkeit und Achtung vor der Andersartigkeit des anderen. Hier sind wir alle gleichermaßen in der Pflicht. Aber lasst mich auch das ganz klar formulieren, liebe NTs: In dieser Sache seid vor allem ihr in der Bringschuld. Denn euch fallen das Wahrnehmen unserer Bedürfnisse und die Anpassung an unsere Bedürfnisse wesentlich schwerer als umgekehrt.

Sollte mir irgendwann ein AS damit kommen, dass die NTs alle doof seien, könnt ihr sicher sein, dass ich die geeigneten Worte finden werde, um ihm deutlich zu machen, wie unlogisch seine Einstellung ist. Bei euch ist es (beinahe) durchgängige Meinung, dass wir AS samt und sonders gestört sind. Eure Lehrtexte, Zeitungsartikel und Broschüren über AS sind voll davon. Liebe NTs, Achtsamkeit und Achtung vor uns geht anders. Ganz anders. Fangt damit an. Und falls ihr damit schon angefangen habt – macht weiter.

 

Und zum Schluss

Liebe Neurotypische, so vielen von euch fällt es so leicht, sich ungeliebt und abgelehnt zu fühlen – aber ihr habt buchstäblich tausende wortgewaltiger Publizisten, die für eure Sache kämpfen. In allen Medien und auf allen Kanälen kämpfen die Neurotypischen für die Belange der Neurotypischen. Wenn ich jetzt also als einzelner AS für die Sache der Autisten einstehe, dann verlangt von mir bitte nicht, dass ich auch noch gleichzeitig das Wort für euch ergreife. Das macht bitte selber.

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