Das kann ich sehr gut verstehen

Ich kam niedergeschlagen und in wirklich düsterer Stimmung aus Köln zurück. Ich war dort beim Autismusforum gewesen, das von Professor Vogeley organisiert wird. In einer Nebenbemerkung hatte er erwähnt, dass es wissenschaftliche Untersuchungen gibt, die darauf hindeuten, dass sich Asperger-Autisten zehnmal häufiger umbringen als Neurotypische.

 

Ich saß an meinem Schreibtisch und dachte nach:

 

Zehnmal häufiger!

So viele von uns wählen den Tod, weil sie es einfach nicht mehr aushalten. Weil sie keinen Ausweg mehr sehen, depressiv geworden sind, oder nach nüchterner Analyse feststellen, dass das Leben auf diesem Planeten für sie nicht lohnt.

 

So viele!

All dieses seelische Elend! Und all das seelische Elend derer, die zwar Selbsttötung ernsthaft in Erwägung ziehen, dann aber doch immer wieder den Mut und Wege finden, weiter zu leben. Mir kam wieder dieses Filmzitat in den Sinn: „Human life … is difficult.“

 

Ich war wirklich ziemlich mitgenommen.

 

Die Frau, mit der ich de jure verheiratet bin, kam in den Raum. Ich halte sie für ziemlich neurotypisch. Es gibt nach allem, was ich sehen kann, nur weniges an ihrem Wesen, das an einen Autisten erinnert. Ich erlebe sie schon seit immer als vergleichsweise unsensibel und distanzlos.

 

Sie kam also in den Raum und sah mich an meinem Platz sitzen, den Kopf in die Hände gestützt. Sie begehrte Auskunft, wie es mir ginge. Ich setzte sie in dürren Worten ins Bild über die Fakten, die ich aus Köln mitgebracht hatte.

Ich schloss das ab mit den Worten:

„Also – wir Autisten bringen uns zehnmal so häufig um wie ihr. Darüber denke ich nach.“

 

Sie dachte für einen Moment auch nach. Und dann sagte sie diesen Satz, bei dem ich immer zusammenzucke, wenn Neurotypische ihn in Zusammenhang mit Autisten aussprechen:

„Das kann ich sehr gut verstehen.“

 

Sie sagte das tatsächlich:

„Das kann ich sehr gut verstehen.“

So wahr ich hier sitze und auf meinem Laptop diesen Text tippe – das hat sie gesagt, als ich ihr schilderte, wie hoch bei uns die Suizidrate ist. Und das war ihr voller Ernst!

„Das kann ich sehr gut verstehen.“

 

Nach meiner Erfahrung verstehen die Neurotypischen von uns Asperger-Autisten so ziemlich gar nichts. Das scheint ganz speziell für die Neurotypischen zu gelten, die von sich behaupten, Autisten zu verstehen oder sogar „gut“ bzw. „sehr gut“ zu verstehen. Sie sagen, dass sie uns verstehen. Und sie glauben das auch. Aber an ihrem Verhalten erkenne ich klar und deutlich, dass das nicht stimmen kann.

 

Dieses „sehr gut“ weckte mein Interesse. Was verbarg sich dahinter, dass mir die Frau, mit der ich de jure verheiratet bin, das in dieser Situation unaufgefordert sagte?

Ich begann also nachzufragen.

Was verstehst du?“ wollte ich wissen.

„Dass ihr euch umbringt.“

„Und warum tun wir das?“

„Naja, all die vielen Reize, denen ihr immer ausgesetzt seid …“ Sie unterbrach sich. Sie überlegte. Sie schwieg.

„Das habe ich jetzt nicht ganz verstanden“, unterbrach ich die Stille. „Was für Reize, denen wir immer ausgesetzt sind?“

„Na, all die akustischen Reize und so.“

Dann war wieder Stille.

„Ah“; sagte ich. „Die akustischen Reize. Selbstverständlich. Das ist natürlich schwerwiegend.“

 

Und dann begann sie zu erzählen. Sie hatte ihr Topos und ihren Faden gefunden. Sie erzählte mir von dieser Fernsehsendung, wo eine Asperger-Autistin (Ella Schön oder so) die Hauptrolle spielt, und wie es ihr dabei ergeht. Das bekam ich dann wortreich (und mit vielen Wiederholungen – versteht sich) erklärt. Und dann gab es da irgendwelche Fernsehkrimis, in denen Asperger-Autisten auftauchten (Soko Stuttgart oder Notruf Hafenkante oder sowas).

 

Ja, so ist die Frau, mit der ich de jure verheiratet bin: Sie hat da Asperger-Autisten im Fernsehen gesehen. Jetzt weiß sie Bescheid.

(Ich will keinem meiner neurotypischen Leser zu nahe treten – ich sage nicht, dass alle NTs sich auf diese Weise über AS informieren. Aber beinahe immer, wenn ich mich mit NTs auseinandersetzen muss, die nicht beruflich mit AS zu tun haben und die trotzdem glauben zu verstehen, was AS ist, ist das Fernsehen die Hauptinformationsquelle).

 

Früher war es dieser unsägliche „Rainman“, mit dem ich mich immer auseinanderzusetzen hatte. Seit einiger Zeit sind es nicht minder unsägliche Fernsehsendungen. Da tauchen dann irgendwelche Sozialtrottel auf, um das gelangweilte, neurotypische Publikum zu unterhalten, das mit seiner freien Zeit nichts besseres anzufangen weiß. Irgendwelche freakigen Typen, die in früheren Zeiten den Hofnarren oder den zerstreuten Professor gegeben hätten – halt das, was dabei rauskommt, wenn neurotypische Drehbuchschreiber Asperger-Autisten beschreiben und wenn neurotypische Schauspieler Asperger-Autisten spielen. Alles im Dienste des gelangweilten neurotypischen Publikums, das unterhalten werden will. (Und da hilft man als AS ja gerne aus und gibt den Sozialtrottel, wenn das neurotypische Publikum sich langweilt. (Ironie)).

 

Noch niemals, noch nicht ein einziges Mal hat mich ein NT (der nicht beruflich mit AS zu tun hatte), der von sich behauptete, sich mit AS auszukennen, mir davon erzählt, dass er Fachbücher zu diesem Thema gelesen habe. Noch nie. Hier scheint dasselbe zu gelten wie in vielen anderen Feldern des Wissens:

Je weniger Ahnung ich habe, desto eher glaube ich, mich in dieser Sache auszukennen.

 

Aber es gibt ja nicht nur das Fernsehen.

Die Frau, mit der ich de jure verheiratet bin, hatte sich in Schwung geredet und nahm jetzt Fahrt auf. Jetzt begann sie von Büchern zu erzählen. Ihr Lieblingsbuch zu diesem Thema ist offenbar „Ein Kaktus zum Valentinstag.“ Von dem bekomme ich immer wieder mal was zu hören. Wenn ich Verhaltensweisen an den Tag lege, die sie an dieses Buch erinnern, merkt die Frau, mit der ich de jure verheiratet bin, auf und informiert mich wortreich darüber. Einmal hat sie mir dieses Buch in die Hand gedrückt, damit ich es lesen solle. Ich las ein paar Zeilen, und dann fiel es mir buchstäblich aus der Hand. Ich kann sowas nicht lesen. Geht einfach nicht. Nach allem, was ich von der Frau höre, mit der ich de jure verheiratet bin, hat ein AS dieses Buch geschrieben. Und sie sagte mir, dass dieser AS sich „ja auch nicht umgebracht“ habe.

 

„Ah“, sagte ich. „Weißt du, ob er Suizidimpulse hat?“

Die Frau, mit der ich de jure verheiratet bin, stockte in ihrem Redefluss. Sie dachte nach.

„Nein …“, antwortete sie dann zögerlich, „davon hat er nichts geschrieben, glaube ich. Aber du hast Recht. Das kann ich eigentlich gar nicht wissen.“

 

Jaja, die Bücher. Quelle und Hort des Wissens. Manche NTs sind echt belesen.

Das erinnert mich an ein Spezialinteresse von mir: Geschichte.

Ich begegne immer wieder NTs, die mir wortreich schildern, in Sachen Geschichte ähnlich viel zu lesen wie ich. Wenn die sich z.B. für das Mittelalter interessieren, dann haben sie Bücher gelesen wie „Die Wanderhure“ oder „Die Säulen der Erde“. Diese Geschichten haben sie gepackt, gefesselt, aufgewühlt und zutiefst bewegt. Und jetzt wissen sie, wie das damals wirklich war, im Mittelalter. Jetzt wissen sie Bescheid. Jetzt können sie mitreden. (Mit der Betonung auf „reden“). Jawohl.

 

Die Frau, mit der ich de jure verheiratet bin, thematisierte dann noch assoziativ dies und das und jenes und setzte mich detailliert über die Vorzüge diverser Vorabendserien ins Bild, die sie regelmäßig anschaut. Ich glaube, ich bekam auch noch einen Einblick in verschiedene Arten, sich belletristisch irgendwelchen Sachthemen zu nähern. Es war jedenfalls eine recht umfängliche Analyse zeitgenössischer Gebrauchskunst mit Breitenwirkung. Dann war für die Frau, mit der ich de jure verheiratet bin, diese Sache erledigt. Sie erzählte noch ein wenig, was sie sich am nächsten Tag zum Abendessen zubereiten wollte und ging dann ihrer Wege.

 

Ich saß dann da wieder alleine in der Stille an meinem Schreibtisch und dachte lange und ungestört nach.

 

Für Neurotypische ist es vielleicht aufregend und interessant, dass sich da Autisten in Massen umbringen. Ein spannendes Thema. Das kann für einige Zeit ablenken, die Aufmerksamkeit binden und wohlige Schauer auslösen. Gerne vergleiche ich das mit einer Safari:

Die NTs kommen busladungsweise lärmend vorbei und machen aufgeregt Fotos, Selfies und Videoaufnahmen. Das ist ja so spannend und exotisch für sie! Ein richtiges Erlebnis! Dann fahren sie wieder weg.

 

Wir Autisten müssen in dieser Welt leben. Jeden Tag. Die Selbsttötung ist für uns keine spannende Abwechslung und auch kein anregendes Gesprächsthema. Sie ist für viele von uns Teil unserer Realität.

 

Jeden Tag.

 

Das kann ich sehr gut verstehen.

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Kommentare: 7
  • #1

    Neo-Silver (Samstag, 26 Mai 2018 14:37)

    Es gibt in den Medien scheinbar nur extreme, der Wirklichkeit nur marginal entsprechende, Darstellungen von Autisten, welche dazu dienen die hedonistische Gesellschaft auf eine oder die andere Art zufrieden zu stellen.
    Entweder sind wir Savants, welche zwar irgendwie nützlich sein können, gar als Superhelden porträtiert werden, dennoch aber aufgrund der sozialen "Defizite" nicht in die persistierende Gesellschaft passen oder die besserwisserischen, gemeinen Sozialtöpel, welche - "Oh wen wundert es?" - aufgrund dieser Tatsache ebenso nicht in die persistierende Gesellschaft passen.

    So ergibt sich für mich aber eher die Botschaft, dass wir nicht in die Gesellschaft passen sollen.
    Die Medien spiegeln dahingehend das Interesse eines großteils der Gesellschaft wider und erschaffen gleichermaßen den Gedanken in den Menschen. Ein circulus vitiosus.

    Eine Änderung der Darstellung von Autisten durch die Medien wäre natürlich keine Gesamtlösung des Problems, würde aber eventuell eine Verbesserung der Situation erzeugen.

    Aber wollen die Menschen dies überhaupt?
    Die meisten scheinen sich mit dem Halbwissen und dem halbherzigen Mitgefühl sehr wohl zu fühlen. Es bietet ihnen in ihrer Welt eventuell Genugtuung, Gesprächsstoff und vermutlich Grundlage für weiteren emotionalen Austausch mit Ihresgleichen.

    Eine Idee:
    Im vorherigen Blogpost haben wir erörtert, dass Ursache 1, das Gefühl der Andersartigkeit, ein dominierender Faktor ist und dieser Mechanismus meist schon in sehr jungen Jahren wurzelt und bleibende Schäden hinterlässt.

    Junge Autisten erleben meist ein Martyrium an Diagnostiken, Therapien und Tagesklinik-Aufenthalten, welche oftmals eher eine Zeitverschwendung und zusätzliche Belastung, als eine wirkliche Hilfe darstellen.
    Ich möchte die bestehenden Mittel nicht gänzlich kritisieren, da sie individuell trotzallem helfen können aber von der Fähigkeit der Therapeuten, dem Zeitpunkt und der Intensität abhängig sind.

    Hier wäre m.M.n. ein weiterer guter Ansatzpunkt um das Problem zu minimieren.
    Eine speziell auf junge Autisten ausgerichtete Therapie, welche als Hauptziele hat, dem Autisten die merkwürdige Umwelt zu erklären und somit Awareness zu erschaffen und das Selbstwertgefühl zu stabilisieren, indem die Fähigkeiten des Autisten erforscht und erkannt werden.

    Auch die Eltern sollten in den Prozess mit einbezogen werden, um ihnen Hilfen anzubieten, Informationen zu erlangen und somit bei ihnen das Gewahrsein im Bezug auf das Kind und die Umwelt, sowie die Stärken und Fähigkeiten des Kindes, zu schulen.

  • #2

    Stiller (Sonntag, 27 Mai 2018 11:50)

    Hallo Neo-Silver,

    ich stimme vielem, was du schreibst, zu.
    Ich will zu einigen Gedanken Stellung nehmen:

    "So ergibt sich für mich aber eher die Botschaft, dass wir nicht in die Gesellschaft passen sollen."
    Das deckt sich mit meiner Einschätzung. Die neurotypische "Gesellschaft" (was immer das auch genau ist) hat für uns einen Platz am Rand eben dieser "Gesellschaft" vorgesehen, und wenn wir dort nicht hineinpassen oder uns weigern diesen Platz auszufüllen und es wagen, wir selbst zu sein, dann gibt's eben Druck.

    "Eine Änderung der Darstellung von Autisten durch die Medien wäre natürlich keine Gesamtlösung des Problems, würde aber eventuell eine Verbesserung der Situation erzeugen."
    Das würde vielleicht für uns AS was ändern, aber eine andere Randgruppe hätte dann diese Randposition in der "Gesellschaft" auszufüllen. Irgendjemand anderer müsste dann den Sozialtrottel, das spinnerte Genie und den Sonderling geben.

    "Aber wollen die Menschen dies überhaupt?
    Die meisten scheinen sich mit dem Halbwissen und dem halbherzigen Mitgefühl sehr wohl zu fühlen."
    Ich kann nur sehr wenig über "die" Menschen sagen.
    Aber ich stelle fest:
    Wenn es um Asperger-Autismus geht, übersteigt bei den NTs in meinem Umfeld das Interesse an Sensationen das Interesse an Informationen deutlich - wie immer man das auch werten will.
    Ich selber erzähle nur NTs, die mich sehr gut kennen, und mit denen ich ein sehr enges Verhältnis habe, dass ich AS bin. In einem von vielleicht zwanzig Fällen stelle ich ein gewisses Interesse an meinem Autismus fest. Nochmal: Das sind alles NTs, die mich angeblich sehr mögen, denen sehr viel an mir liegt und so weiter. Alles Unsinn. Sie mögen nicht mich, sondern das Bild, das sie sich von mir gemacht haben. Ihnen liegt nicht so viel an mir, sondern an dem Bild, das sie sich von mir gemacht haben - zusätzliche Informationen aus der Realität können da nur stören, denn sie könnten dieses Bild verändern. In einem einzigen Fall nehme ich bei einem NT ein ehrliches und intensives Interesse an meinem Autismus wahr. Aber auch in diesem Fall hat das bislang nicht dazu geführt, dass das Thema Autismus gründlich oder vertieft angegangen wurde.

    "Es bietet ihnen in ihrer Welt eventuell Genugtuung, Gesprächsstoff und vermutlich Grundlage für weiteren emotionalen Austausch mit Ihresgleichen."
    Ja, das erlebe ich genauso.
    Ich erlebe die NTs als beinahe permanent sozial bedürftig. Deshalb wird von ihnen auch dieses Thema vor allem dazu genutzt, ihre sozialen Bedürfnisse zu befriedigen - wehe, wenn wir dabei stören!

    "Junge Autisten erleben meist ein Martyrium an Diagnostiken, Therapien und Tagesklinik-Aufenthalten, welche oftmals eher eine Zeitverschwendung und zusätzliche Belastung, als eine wirkliche Hilfe darstellen."
    Ich kenne nur sehr wenige junge Autisten, aber bei denen war das genau so.

    "Eine speziell auf junge Autisten ausgerichtete Therapie, welche als Hauptziele hat, dem Autisten die merkwürdige Umwelt zu erklären und somit Awareness zu erschaffen und das Selbstwertgefühl zu stabilisieren, indem die Fähigkeiten des Autisten erforscht und erkannt werden."
    Das scheint mir der einzige gangbare Weg zu sein.
    Ich versuche, mit meinem Blog ein Teil dieser Lösung zu sein, indem ich aufzeige, wie NTs funktionieren und warum sie sich so verhalten, wie sie das eben tun.
    NTs funktionieren absolut logisch. Wenn man weiß, auf welche Gesetzmäßigkeiten man zu achten hat, kann man beinahe alles, was sie tun, logisch erklären und mit hinreichend hoher Wahrscheinlichkeit vorhersagen.

    "Auch die Eltern sollten in den Prozess mit einbezogen werden, um ihnen Hilfen anzubieten, Informationen zu erlangen und somit bei ihnen das Gewahrsein im Bezug auf das Kind und die Umwelt, sowie die Stärken und Fähigkeiten des Kindes, zu schulen."
    Für mich wäre es schon sehr schön, wenn die Eltern akzeptieren könnten, dass ihr Kind zwar so aussieht wie sie aber nicht so ist wie sie. Dass sie da eben keinen behinderten Neurotypischen großziehen, sondern ein Kind, das völlig gesund und normal ist, aber eben ziemlich anders.








  • #3

    lemonbalm (Montag, 28 Mai 2018 10:57)

    Laut unserem Ehetherapeuten ist das Verstehen der Schlüssel unseres Beziehungsglücks.

    "Frau L. sagen Sie ihrem Mann, dass Sie ihn verstehen."
    "Aber das tue ich doch gar nicht."
    "Sagen Sie es ihm, damit er das Gefühl hat, dass er von ihnen verstanden wird." - ?

    Bei jeder Sitzung fragte ich mich, wer mich eigentlich dabei versteht.

    "Ich erlebe sie schon seit immer als vergleichsweise unsensibel und distanzlos."
    Das ist interessant, denn ich erlebe meinen Mann genauso. Aufgrund dieser Tatsache dachte ich auch immer, er sei der Asperger und Asperger wurden mir so beschrieben. Bis jetzt hat sich aber herausgestellt, dass kein Psychologe ihn für einen hält, sondern der Verdacht jedesmal auf mich fiel. Ich hingegen halte mich aber ernsthaft für sensibel. Das ist merkwürdig!

  • #4

    Stiller (Dienstag, 29 Mai 2018 19:16)

    Hallo lemonbalm,

    das sind interessante Sichtweisen und Gedanken.
    Aber ich bin nicht sicher, ob ich das alles richtig verstanden habe.

    "Laut unserem Ehetherapeuten ist das Verstehen der Schlüssel unseres Beziehungsglücks."
    Das Verstehen von wem oder von was ist nach seiner Meinung dieser Schlüssel?

    ""Sagen Sie es ihm, damit er das Gefühl hat, dass er von ihnen verstanden wird.""
    Habe ich das richtig verstanden, dass er verlangt, dass du deinen Mann belügst, damit er sich besser fühlt?

    "Das ist interessant, denn ich erlebe meinen Mann genauso. Aufgrund dieser Tatsache dachte ich auch immer, er sei der Asperger und Asperger wurden mir so beschrieben."
    Dazu wird es einen Blogtext von mir geben.
    Ich glaube, dass ich jetzt eine genügend große Stichprobe von Beobachtungen zusammen habe, um behaupten zu können:
    Verglichen mit den NTs verfügen die AS über deutlich mehr Sensibilität und Einfühlungsvermögen.

    (Würden wir die Verhältnisse umkehren und würden die AS die überwältigende Mehrheit sein und die NTs eine verschwindend kleine Minderheit, dann würde gelten:
    Die NTs gehen mit dem ihnen möglichen Einfühlungsvermögen und mit der Sensibilität, die sie an den Tag legen, unter.
    Aber umgekehrt können wir in ihrer Welt leben).

    "Ich hingegen halte mich aber ernsthaft für sensibel. Das ist merkwürdig!"
    Die Experten, die die Mär in die Welt gesetzt haben, wir seien nicht sensibel und hätten kein Einfühlungsvermögen, die haben eine Meise (Sprachbild). Das ist alles. Einer hat vom anderen abgeschrieben und so ist eine wahre Lawine an Information entstanden. Ein unsensibler AS ist mir bislang nicht begegnet. Es wird auch solche geben, keine Frage. Aber nach allem, was ich sehen kann, stellen sie nicht die Mehrheit der AS.

  • #5

    Muster (Dienstag, 29 Mai 2018 19:42)

    Stiller. Er nennt sich Stiller. Sein Blog taucht in meinen Lesezeichen zum ersten Mal im Oktober 2017 auf. Autistische Forschungsreise. Ein deutschsprachiges Blog. In diesem Sprachbereich habe ich bislang wenig brauch- bzw. übersetzbare Muster für mich gefunden. Vermutlich freue ich mich. Sehr. Diese Muster kann ich sofort lesen. Man kann sowas „überaus angenehme Überraschung“ nennen. Auf den Punkt. Haha, ich kann jetzt Metaphern und son Quark ... lecker.

    (Anm. Lehnwörter englischsprachigen Ursprungs verwende ich intern häufig, nicht immer, mit dem grammatikalischen Label „Neutrum“, denn für mich ist es nicht nachvollziehbar, weshalb man bei der Verwendung im deutschsprachigen Kontext ein „Geschlecht“ definieren sollte. Lange lebe der König kann man als Dummheit meinetwegen zu Protokoll geben, aber ein Blog ist ein Blog. Das Blog. Punkt. Vermutlich liebe ich Sprachen. Sind so schön knetig. Ich erobere Wort für Wort.)

    Da mir nicht klar ist, was ich will, eiere ich erstmal ein bisschen rum bei meinem ersten Kommentar. Auf jeden Fall will ich Stiller irgendwie mitteilen, wie ... ja ... ah, mögliche Formulierung: ich seitdem stets aufs Neue erleichtert durchatmend seine Überlegungen lese.

    Ja ... obwohl wir beide als Spektrum-blahblahblah etiketiert wurden, „vertraue“ ich darauf, dass er aus meinen Zeilen, bzw. dazwischen lesen wird, dass ... ich ihm dankbar bin, dass er seine Gedanken zu seiner Forschungsreise anderen Menschen mitteilt.

    Ja, das ist das Wesentliche. Ich will, dass er lesen kann, dass irgendwo da draußen ein weiterer Mensch die Chance hat (und sie mit augenzwinkernd-grimmiger Freude stets aufs Neue nutzt und in diesen Momenten ... begreift, dass ... man ... ich ... mich „innerlich aufrichte“ ... und vermutlich u.a. einfach mal „Spaß“ habe ... so genau ist mir das noch nicht klar ... aber das ist ok, ist ok. Ist Teil einer Forschungsreise) ... hmmm ... „Faden verloren“.

    Stiller hat „meine“ Geschichte schon in vielen Varianten gesehen. Nix Ungewöhnliches. Späte überraschende Diagnose im Rahmen final-erwerbsbezogener Begutachtung, mit welcher dann rückblickend ein bisheriges unauffällig seltsames Überlebens-Leben andere Interpretationen erhält. Na dann. Wie schön. Ich bin kein Freak und auch kein Roboter, sondern ein Mensch. Ha! Im Mai 2018 schreibe ich diese Notiz für mein Logbuch. Und füge sie als Kommentar in seinen Blog ein.

    Muster. Ich nenne mich Muster.

    Er wird verstehen, dass es mir sehr wichtig war, ihm zu schreiben. Dass ich auf meine Art sehr sehr viel Spaß an seinen Forschungsberichten habe. Er wird das sehr gut verstehen. Und wir beide könnten möglicherweise darüber schmunzeln, dass „Verständnis“ sehr komplexe Muster beinhalten kann. Und „komplex“ auch nur ein Wort ist. Na ja, Sie verstehen schon ;-)

    Stiller, ich freue mich auf Deine weiteren Texte.

  • #6

    Stiller (Mittwoch, 30 Mai 2018 00:06)

    Er versteht.
    Seine Augen sind offen.

  • #7

    lemonbalm (Donnerstag, 31 Mai 2018 18:37)

    ""Das Verstehen von wem oder von was ist nach seiner Meinung dieser Schlüssel?""
    Ich würde behaupten, es handelt sich hierbei um die Bedürfnisse und Gefühle meines Mannes und mir.

    Ich nenne ein Beispiel:
    Mein Mann möchte die Abende mit mir zusammen verbringen, ich verbringe die Abende lieber für mich ganz alleine.
    "Schatz, ich verstehe, dass du den Abend mit mir zusammen verbringen möchtest. Ich hingegen bin heute lieber für mich alleine. Ich biete dir an, den morgigen Abend mit mir zu verbringen."
    Erster Schritt: Verstehen (kann ich meistens nur akustisch)
    Zweiter Schritt: Eigenes Bedürfnis (soll im Gegenzug mein Mann verstehen)
    Dritter Schritt: Kompromiss (sollen beide eingehen)

    "Habe ich das richtig verstanden, dass er verlangt, dass du deinen Mann belügst, damit er sich besser fühlt?" Das kommt mir oft so vor. Er nennt es aber nicht so.

    Den Satz "Ich verstehe ....." höre ich oft aus Mündern irgendwelcher Psychologen, Psychiater, Sozialpädagogen usw. Ich frage mich dann, verstehen sie mich wirklich, glauben sie nur, mich zu verstehen oder verwenden sie diese Aussage, weil es für sie eine Form der Anteilnahme ist.

    "Ein unsensibler AS ist mir bislang nicht begegnet."
    Mir auch nicht!