Vorurteilsfrei

Wenn es darum geht zu verstehen, wie Menschen „ticken“, wie sie funktionieren, halte ich mich für einen Meister. Ich habe den fünften Dan. Ich nehme an, dass es in Deutschland keine hundert Menschen gibt, die in dieser Sache ein so profundes Wissen und eine so umfassende Erfahrung haben wie ich. Ich lerne jeden Tag dazu, keine Frage. Der Mensch in seinem Verhalten und seinem Erleben ist sicherlich unergründlich. Und auch als Meister bin ich nur ein Anfänger, wenn auch auf einem anderen Niveau. Aber ich kann und weiß in dieser Sache vieles, was die allermeisten Menschen weder können noch wissen. Tatsächlich wissen beinahe alle Menschen, mit denen ich zu tun habe, nicht einmal von der Existenz der Dinge, die mir recht vertraut sind.

 

Und darum soll es heute gehen – was ich als Meister, der um die Beschränktheit seiner Kenntnisse und Fähigkeiten weiß, denen sagen könnte, die sehr, sehr wenig wissen und deshalb den Eindruck haben, in dieser Sache alles zu wissen, was man wissen muss.

 

Wegen der Komplexität der Materie kann ich an dieser Stelle nur ein Detail herausgreifen, aber das kann manche Mechanismen verdeutlichen: Vorurteile.

 

Vorurteile? Warum Vorurteile? Nun, ich mache immer wieder Vortragsreisen, auf denen ich an Universitäten interessierten Studenten Persönlichkeitsmodelle vorstelle, mit denen ich arbeite. Immer wieder werde ich nach solchen Vorträgen von politisch engagierten bzw. politisch korrekten Studenten angesprochen und auf meine zahlreichen Fehler hingewiesen. Einer von diesen Fehlern poppt immer wieder hoch. Er scheint aus Sicht der politisch Korrekten gravierend und von großer Tragweite zu sein: Ich helfe den Menschen nicht, vorurteilsfrei miteinander umzugehen.

 

In dieser Sache erreichte mich in der letzten Woche sogar ein Schriftstück einer politischen Studentenvereinigung, das nicht an mich gerichtet war, sondern an leitende Stellen einer großen Universität. Es ging nicht um mich selber, sondern um die Menschen, die diese Vortragsreihen organisieren und durch Plakate, Posts etc. bekannt machen. Ich zitiere:

„Eine zentrale Aufgabe von Pädagog*innen sollte es doch sein Schüler*innen unvoreingenommen und vorurteilslos gegenüberzutreten.“

 

Was ist dazu zu sagen?

 

Kein Mensch - nicht ein einziger - ist frei von Vorurteilen. Nicht mal annähernd. Ganz im Gegenteil – unser inneres Verhältnis wohlabgewogene Urteile : Vorurteile beträgt vermutlich 1 : 1.000. Das ist bei jedem Menschen so. Dass wir so voller Vorurteile sind, hat mehrere sehr wichtige psychische Funktionen.

 

 

1

Vorurteile halten uns handlungsfähig.

 

Vorurteile nehmen uns weit über 99% unserer Denkarbeit ab. Die Komplexität unserer Umwelt ist derart groß, dass wir ohne diese Fülle von Vorurteilen morgens auf dem Weg zur Arbeit nicht einmal bis zur Haustür kämen. Das, worüber wir uns ein (Vor)Urteil gebildet haben, darüber müssen wir nicht mehr nachdenken. Wenn wir das, worüber wir täglich nachdenken müssen, auf ein Minimum reduzieren können, dann bleiben wir handlungsfähig. Sonst nicht. Tatsächlich kennt die ICD 10 einige Beschreibungen von schwerwiegenden psychischen Erkrankungen, die darauf hinauslaufen, dass Menschen Sozialfälle werden, weil sie zu viel über das nachdenken, worüber die psychisch gesunden Menschen mit achtlosen Vorurteilen hinweggehen.

 

 

2

Vorurteile gehören zur physischen Überlebensausstattung des Menschen.

 

Der Mensch ist mit einigen Mechanismen ausgestattet, die den Weg von der Wahrnehmung eines Reizes bis zur Handlung „kurzschließen“. Vorurteile gehören zu diesen Mechanismen. So wehren wir automatisch fast alles Fremde in unserem gewohnten Umfeld erst einmal ab. (In welchem Maße wir das tun, hängt wiederum von der Persönlichkeit und der Erfahrung des Einzelnen ab. Aber grundsätzlich sind wir alle erst einmal „fremdenfeindlich“).

 

Ein anderes Beispiel sind unsere Vorurteile gegen Farben. Blaue Speisen zum Beispiel lehnen wir grundsätzlich ab, es sei denn es handelt sich um Süßigkeiten. (Versuchen Sie mal, blaue Suppe oder blaue Nudeln zu verkaufen. Schauen Sie mal, wie viele Lebensmittelverpackungen (außer bei Süßigkeiten) blau sind).

 

Ein Ingenieur, den ich im Studium kennenlernte, arbeitete in seinem ersten Job in einer Firma, die Ruß herstellte. Ja, tatsächlich Ruß. Ich war völlig verblüfft und fragte ihn, wer um alles in der Welt denn Ruß im industriellen Maßstab brauchen würde. Ruß ist in beinahe jedem Zusammenhang Abfall, ein unerwünschtes Nebenprodukt von Verbrennungen. Seine Antwort war lapidar und augenöffnend für mich:

„Wir arbeiten für die Reifenindustrie. Mit dem Ruß machen die die Reifen schwarz. Normalerweise sähen Autoreifen aus wie ausgekauter Kaugummi. Aber der Mensch glaubt, dass ein Reifen umso besser ist, je schwärzer er ist. Also produzieren wir Ruß.“

 

Das alles hat sich im Laufe der Zeit in der Evolution des Menschen herausgebildet und unser Überleben gesichert. Die allermeisten Menschen haben Angst vor der Dunkelheit, obwohl die Dunkelheit ihnen noch nie was getan hat. (Mein Kenntnisstand ist z.B., dass die weitaus meisten Einbrüche in Wohnungen tagsüber stattfinden). Kinder, die in Grönland groß werden, haben eine angeborene Angst vor Schlangen und Skorpionen, obwohl solche Tiere dort seit Millionen von Jahren nicht vorkommen. Unsere Schlafzimmer sind – wenn wir uns das aussuchen können – beinahe immer in den oberen Stockwerken und nicht im Erdgeschoss. (Schon Kinder balgen sich darum, wer im Hochbett oben schlafen darf). Und so weiter und so weiter.

 

 

Bis hierhin ist das psychologisches Allgemeingut. Das weiß ein Student der Psychologie im dritten Semester. (Das hindert manche politisch aktiven Studenten offenbar nicht daran, das nicht zu wissen. Sie bleiben lieber ihrem Vorurteil treu, dass der Mensch vorurteilsfrei sein sollte. Getreu dem Motto: Edel sei der Mensch, Zwieback und gut).

 

Es gibt aber eine weitere Funktion von Vorurteilen, und die wird meines Wissens noch nicht an Universitäten gelehrt. (Das liegt daran, dass die Professoren das noch nicht wissen).

 

 

3

Vorurteile sichern das psychische Überleben des Menschen.

 

In jedem Menschen gibt es einen Kern, in dem er all die Lebensverbote abgelegt hat, die er in seiner Kindheit angehäuft hat. Jeder Mensch baut sein Leben rund um diesen Kern auf. Dieser Kern bestimmt den Takt, den Rhythmus, die Richtung und die emotionale Färbung unseres Lebens.

 

Dieser Kern ist in einem Bereich von uns abgelegt, der uns normalerweise nicht bewusst zugänglich ist. Man kann ihn sich (nach und nach) bewusst machen. Man kann ihn (nach und nach) abtragen. Aber grundsätzlich ist es erst einmal so, dass wir buchstäblich gar nichts sehen, wenn wir in diese Richtung schauen. Wir haben da alle einen ziemlich großen blinden Fleck in der Seele.

 

Dieser Kern schützt sich mittels Todesangst vor dem Entdecktwerden. Je näher wir diesem Kern kommen, desto größer wird unser diffuses Unbehagen, das sich immer mehr steigert, bis wir schließlich bei dem landen, was ich „Namenloses Entsetzen“ nenne. Furchtbarere Gefühle als dieses „Namenlose Entsetzen“ gibt es nicht. Ich habe niemals in der Literatur, in der Kunst, in Filmen etc. etwas gefunden, was dieses „Namenlose Entsetzen“ auch nur annähernd wiederspiegelt. Offenbar entzieht es sich der künstlerischen Darstellung und Beschreibung.

 

Um diese „Namenlose Entsetzen“ nicht spüren zu müssen, schützen wir diesen Persönlichkeitskern vor der Entdeckung. Das tun wir mit mehreren Verteidigungswällen. Je näher wir diesem Kern kommen, desto heftiger werden diese Wälle von uns unbewusst verteidigt. So verbiegen wir zum Beispiel immer unsere Wahrnehmung und unser Denken so, dass es passend zu diesem Kern ist. Die Realität selber können wir nur in dem Maße wahrnehmen, wie dieser Kern es zulässt.

 

Der innerste Verteidigungsring, das, was die Amerikaner in ihren Filmen „last line of defence“ nennen, besteht aus Vorurteilen. An diesen Vorurteilen prallt jedes Argument und jede Erfahrung ab. Das Erhalten dieser speziellen Vorurteile ist uns deutlich wichtiger als alles andere. So lange diese Vorurteile nicht in Gefahr sind, können wir freundliche, soziale, angenehme, produktive, liebevolle und kreative Mitmenschen sein. Wenn diese Vorurteile jedoch in Gefahr sind, dann werden wir ganz, ganz anders. Dann haben wir Seelenfinsternis. Wenn es uns gelingt, ein Vorurteil aufzugeben, wird es umgehend durch ein anderes, gleichstarkes ersetzt. Nur das Abtragen dieses Kerns führt dazu, dass man weniger Vorurteile braucht und die Realität stärker wahrnehmen kann. Dazu muss man aber an diesen Kern ran. Das ist nicht einfach.

 

Ich gebe Seminare, in denen ich den Teilnehmern zeige, wie man sich behutsam auf diese Verteidigungswälle herantasten kann. Und trotz aller Behutsamkeit und Vorsicht bin ich immer wieder Zeuge geworden, was passierte, wenn so ein Vorurteil plötzlich ernsthaft in Gefahr geriet. Von plötzlichen Aggressionsausbrüchen über tiefe Depression bis hin zur reaktiven Psychose war alles dabei. Einmal ist es so weit gekommen, dass sich ein Teilnehmer direkt nach so einem Seminar selber als Notfall in die Psychiatrie eingewiesen hat.

 

 

 

 

Ich bin ein Meister. Ich habe den fünften Dan. Ich habe das „Namenlose Entsetzen“ schon öfter erlebt als manch einer seine Unterwäsche gewechselt hat. Ich kenne das „Namenlose Entsetzen“ und weiß, dass es mich nicht umbringt, wenn ich es erlebe. Auch wenn alles – wirklich alles – danach aussieht.

 

Aber wehe dem, den das unvorbereitet trifft. Vorurteile sind überlebenswichtig.

 

Wenn Menschen mir sagen, dass sie sich selber kennen oder in sich ruhen oder mit sich im Reinen sind, dann zucke ich in aller Regel nur mit den Achseln: „Wenn du das sagst …“

Meine Welt ist bevölkert von den Ahnungslosen. Wenn ich nicht weiß, dass es etwas gibt, dann vermisse ich es vermutlich auch nicht. Und jemandem, der eh schon alles weiß, kann ich nichts zeigen.

 

Und wenn Menschen mir sagen, sie hätten keine Vorurteile oder es wäre doch gut, vorurteilsfrei an die Dinge heranzugehen, denke ich meistens nur:

„Ach du liebe Güte!“

 

Und sage nichts dazu.

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