Refugium

„Human life is … difficult“.

Zitiert aus einem Science Fiction Film, den ich eben wegen dieses Zitats so sehr schätze.

 

 

Welt-Autismus-Tag 2018: Ein Tag ganz für uns – weltweit! Heute zählen wir Autisten! Heute hört man uns zu! Heute dürfen wir wir selbst sein! Keine Anpassung an die NTs! Die NTs werden sich heute auf uns einstellen und so sein, dass sie uns keine Kraft kosten! Jubilate! Nutzt diesen Tag! Schon morgen wird es anders sein, denn da haben wir dann den weltweiten Tag des Baumes, der guten Nachbarschaft, der vereinzelten Socke oder des achtlos weggeworfenen Bonbonpapiers – wer kann das schon wissen?

(Okay. Halt. Bis hierhin war das der reine Sarkasmus, ich geb’s zu. Ich fang‘ am besten noch mal von vorne an).

 

Also

 

Welt-Autismus-Tag 2018. Ein Selbsthilfeverein im Rheinland hat mich gebeten, an diesem Tag dort einen Vortrag zu halten. Bevor ich zu- oder absagte, stellte ich die üblichen Fragen per Email. Unter anderem: Was soll nach dem Vortrag anders sein als vorher? Wenn ich nicht weiß, was mein Vortrag bewirken soll, kann ich auch nicht sagen, ob ich der richtige Redner bin oder nicht.

 

Und das wurde mir als Zielsetzung genannt:

 

·           Über Autismus soll nicht aus Problemsicht gesprochen werden.

·           Die Stärken von Autisten sollen deutlich werden.

·           Es soll deutlich werden, welche Vorteile ein Arbeitgeber haben kann, wenn er einen Autisten einstellt.

·           Die Betroffenen sollen eine positive Veranstaltung erleben und sich am Ende positiv fühlen.

·           Die NTs sollen nachdenken und vielleicht sogar langfristig umdenken.

 

Ich hatte den Eindruck, zu verstehen, worum es den Veranstaltern ging. Die Zielsetzung war für mich ethisch gerechtfertigt. Ja, unter dieser Zielsetzung konnte ich einen Vortrag halten. Also sagte ich zu.

 

Welt-Autismus-Tag 2018. Ich hatte im Vorfeld nicht gefragt, wie viele Leute kommen würden. Aber das ist mir auch gleich. Ich habe schon vor vier Leuten gesprochen, ich habe schon vor 600 Leuten gesprochen – ich nehm’s, wie’s kommt. Mein Vortrag ist der einzige Programmpunkt des Abends. Als sich dann ca. 70 Leute in dem kleinen Saal eingefunden haben (es mussten noch Stühle aus anderen Räumen herbeigeschleppt werden), frage ich mich, mit welchen Hoffnungen und Erwartungen die wohl gekommen sind: Die opfern jetzt einen ganzen Abend, um mich reden zu hören. Wissen die, was auf sie zukommt? Ich mein‘ – das ist ja keine Dichterlesung hier oder ein Kabarettabend. Und die kennen mich überhaupt nicht.

 

Ich rede. Und das ist eine von den Sachen, die ich wirklich gut kann: Reden. Ich könnte mich in einer x-beliebigen Fußgängerzone auf eine Kiste stellen und über irgendwas reden – frei improvisiert -, die Leute würden stehen bleiben und mir zuhören. 

 

Nach einer Stunde oder so machen wir eine Pause.

Und dann kommen sie. Sie kommen immer.

Menschen kommen zu mir nach vorne – mit Fragen, Anmerkungen, Bedürfnissen. Sie sind mir herzlich willkommen, denn das ist für mich Teil meines Vortrages – dass man mit mir über das reden kann, was ich da gerade erzählt habe.

 

Eine Frau stellt sich vor als „Mutter eines achtjährigen Aspies.“ Sie lobt meinen Vortrag und erzählt von ihrem Sohn, der – so ganz anders als ich - große Konzentrationsschwierigkeiten hätte. Ich unterbreche sie:

„Ich halte das für ausgesprochen unwahrscheinlich, dass Ihr Sohn Konzentrationsschwierigkeiten hat, wenn er das Asperger-Syndrom hat.“

„Doch, doch – in der Schule ist das laufend ein Problem.“

„Was ist denn sein Spezialinteresse?“

„Flaggen! Nationen!“

„Wenn er sich damit beschäftigt – zeigt er dann Konzentrationsschwierigkeiten?“

„Neeein!“ die Frau winkt lachend ab, „Damit kann der sich stundenlang beschäftigen! Wenn der mit seinen Flaggen zugange ist, dann ist der glücklich!“

„Und dennoch erzählen Sie mir, dass Ihr Sohn Konzentrationsschwierigkeiten hat.“

„Ja, in der Schule …“

„Darum geht es: Ihr Sohn kann sich ausgezeichnet konzentrieren. Das haben Sie eben selbst gesagt. Aber die Schule schafft ihm offenbar ein Umfeld, in dem er sich nicht mehr konzentrieren kann.“

 

Ein junger Mann spricht mich an. Ganz augenscheinlich ist er Autist. Er berichtet mir, wie er aus seinem Job rausgemobbt worden ist – nur weil er Autist ist. Er schildert mir seine berufliche Situation – die Agentur für Arbeit will ihn laufend in irgendwelche Maßnahmen pressen, die überhaupt nicht zu ihm passen.

Er sagt:

„Mein Arzt rettet mich dann immer, indem er mich vier Wochen krankschreibt. Aber das ist doch keine Lösung! Ich will arbeiten! Aber doch nicht sowas! Haben Sie da irgendeinen Rat für mich?“

Ich frage ihn nach seinem Spezialinteresse.

„Knochen!“ antwortet er mit Begeisterung.

„Knochen?“ frage ich ungläubig.

„Knochen! Alles, was mit Anatomie zu tun hat! Alles, was im Menschen ist! Ich könnte Ihnen jetzt ein Herz, so wie es ist, aufzeichnen …“

Der junge Mann glüht und bebt vor Begeisterung. Anatomie und vor allem Knochen – das ist sein Element! Ich bin sicher, er könnte mir stundenlang davon berichten, ohne sich ein einziges Mal zu wiederholen.

Ich bin sehr beeindruckt. Ich gebe ihm den Rat (denn danach hat er ja gefragt), bei seinem Spezialinteresse zu bleiben und das irgendwie zu Geld zu machen. Er fragt mich nach Ideen. Da Knochen und Anatomie nicht zu meinen Spezialinteressen gehören, kann ich da nur ganz oberflächlich was zu sagen.

„Irgendwas in der Pathologie“, schlage ich vor.

„Pathologie!“ ruft er begeistert, „Das wäre was!“ Und dann beginnt er mir von seiner Begeisterung für Pathologie zu erzählen.

 

Hier steht ein Mann vor mir – vermutlich noch keine 30 -, der arbeiten kann und will. Er pulsiert vor Energie und Begeisterung. Er würde mit Sicherheit zehn, zwölf, vierzehn Stunden jeden Tag arbeiten – mit hervorragenden Ergebnissen -  wenn man ihn nur ließe. Aber die NTs lassen ihn nicht. Und er weiß allmählich nicht mehr weiter. Und ich kann ihm auch keinen Rat geben. Ich bin hilflos.

 

Ich wende mich nach rechts. Da steht in meinem Augenwinkel schon die ganze Zeit eine junge Frau, die schüchtern ihre Hände knetet und auf den Boden vor ihre Füße blickt.

„Du hast eine Frage?“

„Ja … ich … wie … wie …“

„Du darfst reden, aber du musst nicht“, sage ich ihr.

Sie knetet ihre Hände und sucht nach Worten. Da ich ihr nicht ins Gesicht schaue, mustere ich derweil ihre Füße. Die stecken in bequemen, grauen Schuhen. Die Schuhe sind abgelatscht, die Schnürsenkel zerfranst – hier trägt jemand ganz offenbar viel geliebte und bequeme Schuhe. Das gefällt mir.

 

Die Frau sucht weiter nach Worten. Ich stehe schweigend daneben.

Ein Mann und eine Frau – vermutlich ihre Eltern - stehen sehr nahe bei ihr.

„Ich bin der Vater“, schaltet sich der Mann ein. „Wie haben Sie die Schule erlebt?“

Ich bin verblüfft. Ich habe keine Ahnung, was der Hintergrund dieser Frage ist. Von der Schule war in meinem Vortrag nicht die Rede.

„Nun“; antworte ich, „da gibt es verschiedene Begriffe: Hölle, Inferno … Ich habe die Schule gehasst!“

Ein tiefes Aufatmen der Erleichterung geht durch den Mann. Seine Körperhaltung strafft sich.

„Siehst du!“ sagt er aufmunternd zu seiner Tochter. Die schaut derweil weiterhin auf den Boden.

Ich vermute, dass es so ist:

Die junge Frau hat Schwierigkeiten in der Schule, weil sie Autistin ist. Jetzt steht da vorne ein Autist und erzählt was, und der wirkt relativ frei und unschüchtern – so einer war doch bestimmt immer gut in der Schule: Beliebt, anerkannt, immer mit guten Noten …

 

Die Mutter sagt was, der Vater sagt was. Die junge Frau sagt so gut wie nichts. Bevor das an Fahrt aufnimmt, frage ich sie:

„Ist das ok für dich, dass wir hier über dich sprechen.“

Sie schaut ein wenig hoch und nickt heftig.

Und so zeichnet sich dieses Bild ab – ich habe das schon so oft erzählt oder beschrieben bekommen: Schule gewechselt, Schule gewechselt, hier nicht Fuß gefasst, da nicht Fuß gefasst, hier gemobbt worden, hier versagt, weil einfach keine mündliche Beteiligung im Unterricht da war. Und so weiter. Alles kein Thema der Begabung. Begabung ist in ausgeprägtem Maße da – in diesem Fall offenbar für Mathematik und Naturwissenschaften. Aber Sozial-phobie, Introversion, Schüchternheit … Als Autist in einer NT-Schule erfolgreich sein – das ist für viele ausgesprochen schwierig.

 

„Sie droht zum Sozialfall zu werden“, sagt mir der Vater voller Sorge, und ich kann ihn gut verstehen.

Ob ich Ideen hätte, wie ihr zu helfen sei.

Ich schildere ihm von meinen Erfahrungen und Erlebnissen, aber Ideen, die andere nicht auch schon gehabt hätten, habe ich nicht.

Hier steht eine Schülerin vor mir, die augenscheinlich die Schule mit fliegenden Fahnen bestehen würde, wenn sie in der Schule das richtige Umfeld vorfinden würde. Aber die NT-Welt verweigert ihr offenbar dieses Umfeld.

Und Ideen habe ich keine. Ich bin hilflos.

 

So vergeht die Pause: Sie kommen zu mir – mit Fragen, Anmerkungen und Bedürfnissen. Ich habe viel Glück: Diesmal ist kein NT dabei, der mir sagt, ich sähe das alles falsch. Er hätte auch ein Kind, das das Asperger-Syndrom hätte und bei dem hätte es mit der nötigen Disziplin (Prügel, Strafe, Anschreien …) immer sehr gut geklappt. Diesmal beschwert sich kein NT, dass die NTs in meinem Vortrag viel zu schlecht weggekommen seien. (Ach ja, die armen NTs. Selbst am Welt-Autismus-Tag werden sie ihres Lebens nicht froh - (hach! Seufzer!))

 

Aber ich fühle mit. Ich schwinge mit. Mir wird in so kurzer Zeit so viel – völlig unnötiges – Leid und Elend geschildert … Ich fühle mit jedem einzelnen mit. Ganz intensiv. Ich glaube, sehr genau zu verstehen, worum es geht. Ich kenne die psychischen Mechanismen, die dem zugrunde liegen, wirklich gut.

„Und dann bin ich lange depressiv gewesen und habe meinen Job verloren …“

„Ich weiß wirklich nicht mehr weiter …“

„Ich suche ja nach Lösungen, aber ich finde keine …“

 

Ich weiß nicht, welche Erfahrungen andere gemacht haben. Ich habe es bislang immer so erlebt, wenn mir AS von ihren Schwierigkeiten berichteten – sei es mündlich oder schriftlich:

Niemals, wirklich niemals war das wehleidig, anklagend oder dramatisierend. Niemals

 

Es sind beinahe stumme, eher sachlich-nüchterne Beschreibungen eines tiefen Elends, einer tiefen Not. Und Ängste! All die Ängste, die da durchschimmern! Ängste von ozeanischen Ausmaßen. Ich kenne das so gut!

 

Wenn mir NTs von ihren Sorgen und Nöten erzählen, hört sich das für mich immer ganz anders an. Da ist dann beinahe immer viel Show, Drama und Revue dabei. Wenn ein NT leidet, dann leidet er immer auch auf sozialer Ebene. Wenn er leidet, dann leidet er auf einer Bühne. Wenn er leidet, dann ist das etwas, was nach außen abzustrahlen hat.

Das heißt nicht, dass das, was die NTs mir da schildern, leichter, weniger schwerwiegend oder was auch immer wäre. Ganz und gar nicht.

 

Nur – wenn mir AS erzählen, wie es ihnen geht, dann geht mir das durch und durch. Das rührt mich an in einem Maße, dass ich sage: Da fehlt mir die professionelle Distanz. Ich habe nicht die riesigen Adlerschwingen, die es bräuchte, um all diese Menschen unter meinen Schutz zu nehmen. Ich höre mir das an. Ich bin berührt, ich bin bewegt … Und ich kann nichts machen. Gar nichts.

 

Die Pause ist vorbei. Ich baue in den zweiten Teil meines Vortrages zahlreiche Antworten auf Fragen ein, die mir in der Pause gestellt worden sind. Ich spreche über meinen Werdegang, ich spreche über autistisches Selbstbewusstsein, ich spreche über die Situation, die Asperger-Autisten am Arbeitsplatz vorfinden. Ich spreche ein wenig von meiner eigenen Mobbing-Erfahrung.

 

Dann ist der Vortrag zu Ende.

Ist etwas anders als vorher (außer, dass Zeit vergangen ist)? Ich weiß es nicht. Die AS, die mir Rückmeldung geben, sind alle sehr angetan. Aber hat sich ihre Situation verbessert? Ich weiß es nicht. Ich beantworte noch zahlreiche Fragen und dann mache ich mich auf den Heimweg.

 

Ich fühle mich ratlos, ich fühle mich hilflos. All das, was die Menschen zu mir gebracht haben, ist jetzt in mir drin. Darüber hinaus spüre ich wieder einmal, wie bedroht meine eigene Existenz gewesen ist und wieviel Schwein ich gehabt habe, aus all dem Schlamassel, das die NTs mir bereitet haben, raus gekommen zu sein. Aber als AS fühlst du dich vermutlich nie wirklich sicher. Das Leben als AS ist vermutlich immer ein Tanz auf dem Drahtseil: Das seelische, berufliche und wirtschaftliche Scheitern lauert immer an der nächsten Ecke. Ich verdiene heute derart abstrus viel Geld, dass weniger als ein Prozent der angestellten NTs mehr verdient als ich. Aber was heißt das schon? Wenn ich morgen berufsunfähig werde, weil ich ausgeglüht bin, dann kräht kein Hahn mehr danach. Dann werden sie wieder über mich herfallen, die Heerscharen der hilflosen Helfer.

 

Auf der langen Autofahrt nach Hause sehne ich mich sehr intensiv nach einem Refugium. Nach einem Ort, wo ich jederzeit autistisch sein darf, ohne dass mir irgendein NT in die Quere kommt. Irgendein Raum, der garantiert NT-frei ist. Ein Ort, an dem ich vor den NTs dauerhaft geschützt bin, ohne mich selber um diesen Schutz kümmern zu müssen. Das wär’s. Das brauche ich. Dort könnte ich wieder die Kraft tanken, die ich brauche, um in der NT-Welt bestehen zu können.

 

Ich sause mit meinem Auto durch die pechschwarze Nacht und fühle mich sehr, sehr sensibel und schutzbedürftig. Es ist nicht so, dass ich jetzt dünnhäutig wäre – nein, es fühlt sich so an, als hätte ich gar keine Haut.

Für einen kurzen Moment stelle ich mir vor, wie es wäre, wenn ein NT das jetzt mitbekommen würde. So ein hilfloser Helfer: distanzlos, übergriffig, voller Mitgefühl und Hilfreichigkeit. Einer, der genau weiß, was gut für mich ist… Diese Vorstellung ist sehr intensiv und derart schrecklich, dass ich schnell an was anderes denke. An ein Refugium zum Beispiel. Das male ich mir in allen möglichen Farben aus.

 

Morgen werde ich wieder in der NT-Welt meinen Mann stehen müssen. Aber nicht jetzt. Jetzt schützt mich die Nacht (keiner kann mich sehen) und das Auto ist eine zusätzliche schützende Hülle. Jetzt bin ich ein sehr verletzlicher und zerbrechlicher AS, der sich so sehr nach einem Refugium sehnt. Nichts auf der Welt scheint größer zu sein als diese Sehnsucht.

 

Welt-Autismus-Tag 2018.

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Kommentare: 1
  • #1

    lemonbalm (Dienstag, 10 April 2018 19:53)

    "Es sind beinahe stumme, eher sachlich-nüchterne Beschreibungen eines tiefen Elends, einer tiefen Not."
    Meine tiefe Not wird durch meine sachliche Art nicht wahrgenommen. Es hatte oft verheerende Folgen für mich.