Ich habe immer wieder gelesen, dass Asperger-Autisten (AS) Schwierigkeiten haben, sich Autoritäten unterzuordnen. Dass sie sich nicht gerne in hierarchische Systeme einfügen, die auf Autorität gründen.
Falls das so ist:
Mir geht es genauso. Seit ich denken kann, habe ich Schwierigkeiten mit Autoritäten und sie mit mir.
Ich weiß nicht, wie viele Vorgesetzte ich in meinem Berufsleben schon verschlissen habe. Zwanzig? Dreißig? Sie kommen und sie gehen. Stiller bleibt. Mit der Mehrzahl dieser Leute hatte ich so meine Probleme. (Und sie mit mir).
Woher kommen diese Schwierigkeiten?
Worum geht es?
Therapeuten und Coaches, die mich auf meinem Weg begleitet haben, waren sich immer sehr sicher, dass meine beinahe chronischen Schwierigkeiten mit Vorgesetzten und sonstigen Autoritätspersonen aus unverarbeiteten Kindheitserlebnissen herrühren. Damit meinten sie selbstverständlich meine unverarbeiteten Kindheitserlebnisse, nicht die meiner Vorgesetzten. Meine Therapeuten und Coaches waren alle NTs. Und die können manchmal recht eigenartige Schlussfolgerungen ziehen.
Ja, natürlich sind die ersten Autoritätspersonen, die ein Mensch erlebt, vor allem die Eltern. Und diese Erfahrungen prägen für den Rest des Lebens. Das ist kaum zu überschätzen. Bedeutet das also, dass alle Menschen, die Schwierigkeiten mit Autoritäten haben, Schwierigkeiten mit ihren Eltern hatten? Wenn ja, dann ist zu vermuten, dass AS deutlich häufiger Schwierigkeiten mit ihren Eltern haben als NTs. Ist das so? Ich weiß es nicht.
Die Autorität, die ich von frühester Kindheit an erlebte, gründete auf körperlicher Kraft. Oder mit anderen Worten: Wer in der Lage war, andere mit körperlicher Gewalt zu überziehen, der hatte die Autorität. Schlicht und ergreifend. Und wer die Autorität hatte, der durfte so ziemlich alles. Das erlebte ich bei meinen Eltern so, das erlebte ich aber auch genauso in der Schule – ohne Abstriche. Autorität und Gewalt waren in der Welt, in der ich lebte, austauschbare Begriffe. Das war so selbstverständlich, dass es nie thematisiert oder gar in Frage gestellt wurde. Man ordnete sich halt der Gewalt unter, solange sie präsent war. Viel später lernte ich, dass dieses Autoritätsverständnis „Rule of Man“ genannt wird.
Als ich in der dritten Klasse war, zogen meine Eltern um, und ich wechselte die Schule. Jetzt erlebte ich was neues: Die Lehrer versuchten, ihre Entscheidungen zu begründen. Sie versuchten, ihre Autorität zu legitimieren. Dabei stellte ich aber fest, dass diese Begründungen in aller Regel unlogisch waren und zu nichts taugten. Es war dasselbe Autoritätsverständnis wie immer, nur das aus dem Zweiklang 1.) Drohen, 2.) Gewalt ausüben ein Dreiklang geworden war: 1.) Faseln, 2.) Drohen, 3.) Gewalt ausüben. Ich erlebte das an zahlreichen Beispielen:
Einer meiner Klassenkameraden hatte eine echt aussehende Spielzeugpistole mit in die Schule gebracht und fuchtelte in der Pause im Klassenraum damit herum. Die Klassenlehrerin, die kurz vor Ende der Pause kam, war entsetzt. Sie nahm ihm die Pistole weg, hielt ihm einen Vortrag darüber, dass man mit solchen Waffen nicht auf Menschen zielt – egal ob im Spiel oder im Ernst – und brachte die Pistole zum Lehrerzimmer. Ich sah durch die geöffnete Tür, wie sie auf dem Gang zum Scherz eine Kollegin mit der Waffe bedrohte und die im Spiel die Arme hochriss.
Als die Klassenlehrerin wiederkam, sagte ich ihr, dass ich gesehen hatte, dass sie mit dieser Waffe auf einen Menschen gezielt hatte und dass sie gesagt habe, dass man das nicht dürfe.
Die Klassenlehrerin sah mich entgeistert an:
„Aber zwischen mir und euch besteht doch ein himmelweiter Unterschied!“ blaffte sie mich an.
Das leuchtete mir nicht ein.
„Welcher?“ fragte ich sie.
Das führte dazu, dass ich eine Strafarbeit zu schreiben hatte mit dem Titel
„Vorlaut sein hat Folgen.“
Derlei Szenen gab es in der Grundschule und auf dem Gymnasium dann häufiger.
Meine Eltern waren schlichte Gemüter. Ihre Gewalt war immer bizepsbasiert. Ihre Begründung für so ziemlich alles war: „Sonst hau ich dich.“ Ich hatte niemals Schwierigkeiten, das zu begreifen. Aber an diese faselbasierte Gewalt meiner Lehrer musste ich mich erst gewöhnen. Denn ich hatte das so verstanden, dass man über die Dinge reden könne, und dass sich am Ende das beste Argument durchsetzen würde. (Viel später lernte ich, dass dieses Autoritätsverständnis in das mündet, was „Rule of Law“ genannt wird). Aber ich hatte mich geirrt: Die Lehrer wollten nicht argumentieren. Sie wollten Recht haben. Und Gewalt ausüben. Nun gut, dass jemand Gewalt ausüben wollte, das war mir vertraut. Aber durch dieses scheinheilige Begründenwollen der willkürlichen Gewalt fühlte ich mich immer wieder herausgefordert, die Unlogik in den Argumenten aufzudecken. Das wurde mir von den faselnden Lehrern ausgesprochen übelgenommen.
Und hier begannen dann meine dauerhaften Probleme mit Autoritätspersonen:
1
Wenn jemand mir mit nackter Gewalt droht, damit ich irgendwas tue oder unterlasse, kann ich das unmittelbar nachvollziehen. Dann kalkuliere ich, was ich dieser Gewalt entgegensetzen kann und ziehe daraus meine Schlüsse. Aber so plump und platt wird in Deutschland in der Regel nicht mehr geführt, nicht in Schulen, nicht in Behörden, nicht in Betrieben.
2
Wenn jemand kaschiert, dass er Gewalt ausüben will und statt nackter Gewalt irgendwelche Argumente anführt, damit ich irgendwas tue oder unterlasse, dann kann ich das zunächst einmal nicht unmittelbar nachvollziehen. Dann prüfe ich erst die Argumente und wäge im nächsten Schritt ab, ob ich ein besseres Argument finden kann. Daraus ziehe ich dann meine Schlüsse. Dabei übersehe ich aber sehr häufig, dass dieser Mensch nicht argumentieren, sondern Recht haben will. Und wer Recht haben will, der will meistens auch Gewalt ausüben.
Es gibt in meiner Welt eine eiserne Regel:
„Ich argumentiere nicht mit Menschen, die Recht haben.“
Aber häufig genug erkenne ich zu spät, dass der Mensch, mit dem ich argumentiere, nicht herausbekommen will, welches Argument das bessere ist, sondern Recht haben will. Und das führt zu Konflikten.
Ganz selten erlebe ich die dritte Form der Autorität:
3
a) Wir haben diese Problemstellung.
b) Für die Lösung des Problems sind bestimmte Rahmenbedingungen vorgegeben (z.B. Zeit, Geld etc.), andere sind frei gestaltbar.
c) Wie kriegen wir das hin? Ich habe zwar schon Ideen, aber vielleicht sind eure besser.
Beim Autoritätsverständnis 3 steht nicht mehr die machthabende Person mit all ihren Bedürfnissen nach sozialer Anerkennung im Mittelpunkt des Interesses, sondern das zu lösende Problem. Damit kann ich sehr gut leben. Damit habe ich keine Konflikte. Dass es Rahmenbedingungen gibt, die unveränderbar sind, ist selbstverständlich. Das will ich auch nicht diskutieren, daran reibe ich mich nicht.
So konnte ich mein Führungsverständnis vor einigen Jahren mal ziemlich klar auf den Punkt bringen. Ich leitete damals ein größeres Projekt in einem internationalen Großkonzern. Mein Team hatte die Aufgabe, Dinge, die fachlich und politisch ziemlich knifflig waren, in sehr kurzer Zeit zu entwickeln und umzusetzen. (Die unlösbaren Aufgaben landen überzufällig häufig auf meinem Schreibtisch). Um die gesteckten Ziele fristgerecht zu erreichen, mussten wir völlig ungewohnte Wege gehen. („Think outside the box!“ ist die Worthülse, die die anglizismusverliebten Unternehmensberater dafür geprägt haben). Weil ich die Dinge so energisch vorantrieb, fühlten sich ziemlich viele ranghohe Führungskräfte übergangen, düpiert oder missachtet. War mir egal, ich hatte einen Auftrag des Vorstandes umzusetzen. Eine ziemlich ranghohe Führungskraft bestellte mich in ihr Büro. Projektintern nannten wir diese Führungskraft den „Chefbremser“. (Nicht, weil dieser Mann die Chefs bremste, sondern weil er als ‚Reichsbedenkenträger‘ so ziemlich jede vitale Entwicklung im Konzern ausbremste. Er war ranghoher Jurist, und vielleicht müssen Juristen so sein). Der Chefbremser war sauer, weil ich Dinge auf den Weg gebracht hatte, ohne ihn einzubinden oder zu informieren.
„Warum erfahre ich erst jetzt davon?!“ blaffte er mich an. „Sie hätten die hierarchischen Wege einhalten müssen! Wir haben hier ganz klare Vereinbarungen, wer wen informiert!“
„Und was sind die hierarchischen Wege in diesem Fall?“ wollte ich wissen.
„Sie hätten Ihren Chef informieren müssen.“
„Und dann?“
„Dann hätte der seinen Chef informiert. Der hätte mich ins Bild gesetzt, denn wir sind beide auf derselben hierarchischen Ebene. Wir treffen uns jeden Montag zum Jour fixe. Da hätten wir das alles besprechen können.“
„Und dann?“
„Dann hätten wir das alles besprochen! Der Chef Ihres Chefs hätte Ihren Chef informiert und der wäre auf Sie zugegangen.“
Ich schaute mir diesen Spitzenmanager an: Keine Spur von Humor oder Ironie. Der meinte das völlig ernst: Er war der Chefbremser. Hätte ich diese Wege eingehalten, wäre mein Projekt nie zu irgendwas gekommen.
Ich überlegte kurz. Dann sagte ich ihm:
„Ich glaube nicht an Hierarchien. Ich glaube an Lösungen.“
Ich selber habe im Berufsleben immer wieder Führungsaufgaben gehabt. Damit sind die von mir Geführten und ich beinahe immer sehr gut klar gekommen. Die Rückmeldungen, die ich von meinen Mitarbeitern bekam, waren regelrecht hymnisch.
Heute habe ich keine Führungs- oder Projektaufgaben mehr. Ich moderiere Strategietagungen und Workshops, ich gebe Seminare und coache. Bei diesen Aufgaben muss ich auch regelmäßig die Alpha-Position einnehmen und behaupten. Dabei muss ich mit jeder Hierarchieebene, mit jeder Mentalität und mit jedem Charakter klar kommen. Damit hat es in zweieinhalb Jahrzehnten noch nie Schwierigkeiten gegeben. Gerne werden mir die sogenannten „schwierigen“ Gruppen gegeben. Denn, wenn ich führe, dann führe ich. Egal wen. Da gibt es kein Vertun. Wenn ich eine Gruppe führe, dann führe ich durch das Argument. Ich führe nicht durch Gewalt.
Oft wird mir rückgemeldet, ich hätte „natürliche Autorität“. Was immer das ist – wer durch das Argument führt und sich durch Barmherzigkeit leiten lässt, kann in meinen Augen nicht fehlgehen, wenn er führt.
Bei der Führung kommt es wohl immer darauf an, worauf Autorität sich gründet: Steht die soziale Bedürftigkeit der Führungsperson im Vordergrund, dann wird es schwierig. Steht das zu lösende Problem im Vordergrund, dann wird es einfach.
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