Wenn Experten sich dazu äußern, woran man Menschen mit Asperger-Syndrom (AS) erkennt, dann ist immer wieder die Rede davon, dass AS die Sprache wörtlich nehmen und Redewendung oder Sprachbilder nicht verstehen. Für mich klingt dabei das durch, was für mich beinahe immer durchklingt, wenn NT-Experten sich über AS unterhalten: „Sind ja schon ein bisschen blöd, die AS, oder?“
Aber nehmen wir zum Beispiel mich. Ich bin AS. Sprache und NTs gehören zu meinen ältesten Spezialinteressen. Ich hatte mal die Ehre auf einem Kongress von Psychiatern (allesamt NTs) über AS sprechen zu dürfen. Den Psychiatern sagte ich unter anderem:
„Ich habe gelernt, dass Sie eine ganze Menge Fachwörter für uns Autisten haben. Aber das macht nichts: Ich habe auch eine ganze Menge Fachbegriffe für Sie.“ Die Empörung unter den Psychiatern war recht groß. Offenbar kann der durchschnittliche NT-Psychiater alles Mögliche sehr gut ertragen, nicht aber einen selbstbewussten Autisten. Der AS hat gefälligst verschroben, schüchtern und ein bisschen blöd zu sein, sonst wird er von ihnen nicht akzeptiert.
Was hat es also auf sich mit der Feststellung, dass AS die Sprache wörtlich nehmen und so ihre Schwierigkeiten mit Redewendungen und Sprachbildern haben? Ist da was dran?
Ja, sicher ist da was dran! Ich zum Beispiel nehme so ziemlich alles wörtlich, was ich höre. Ich habe mir regelrechte Datenbanken angelegt, denen ich entnehme, was NTs meinen, wenn sie irgendwas sagen. Ich habe schätzungsweise 10.000 Zitate aus Gesprächen, Büchern und Filmen im Kopf, auf die ich zurückgreifen kann, wenn ich NT-Sprache verstehen oder anwenden will. Wenn ich mit NTs im Gespräch bin, dekodiere ich ununterbrochen. Dabei greife ich auf dieselben inneren Ressourcen zurück, die ich nutze, wenn ich mathematische Formeln auflöse. Mit NTs reden und mathematische Formeln lösen, ist für mich ein und dasselbe. Teilweise habe ich Jahrzehnte gebraucht, bis ich genug Daten zusammen hatte, um zu verstehen, was eine Redewendung bedeutet. Am schlimmsten war es mit „Der Teufel ist ein Eichhörnchen.“ Das hörte ich zum ersten Mal im April 2002. Es war ein sehr wichtiges Gespräch. Und ich hatte keine Ahnung, was mein Gesprächspartner mir sagen wollte. Das nächste Mal hörte ich diese Redewendung 2005, dann erst wieder 2007. Es dauerte ziemlich lange, bis ich begriff, dass die NTs diese Redewendung in drei verschiedenen Bedeutungen nutzten und kein einheitliches Verständnis dieser Redewendung existierte. Laut Internet bedeutet diese Redewendung: „Auch aus harmlosen Kleinigkeiten kann sich etwas Schlimmes entwickeln.“ Aber in diesem Sinnzusammenhang nutzten die NTs, die mit mir sprachen, diese Redewendung nicht. Sie meinten unter anderem:
a) Man muss auf jedes Detail achten.
b) Man weiß nie, wie die Dinge sich entwickeln werden.
c) Manchmal entwickeln sich die Dinge ganz anders als geplant.
Aber nochmal zurück zu den NT-Experten, die sich einig sind, dass man AS daran erkennen kann, dass AS die Sprache wörtlich nehmen und Redewendungen und Sprachbilder nicht verstehen. Warum rege ich mich so darüber auf, wenn es doch stimmt?
Nun, ich weiß aus meinem intensiven Umgang mit NTs, dass es bei ihnen genauso ist. Nur auf einer anderen Ebene. Wäre ich NT, würde ich jetzt vermutlich sagen: „Wer im Glashaus sitzt, der soll nicht mit Steinen werfen!“ Damit will ich ausdrücken: Warum werft ihr uns etwas vor, was ihr genauso tut, nur auf einer anderen Ebene?
Ich will das an Beispielen erläutern:
Als meine ältere Tochter drei Jahre alt war, rief sie mich an meiner Arbeitsstelle an. Sie war sehr aufgeregt, das hörte ich schon vor ihrem ersten Wort an der Art, wie sie atmete. Irgendwas Spannendes war passiert. Und sie sprudelte sofort los:
„Die Mama ist total krank!“, rief sie. „Die hat 50 Kilo Fieber!“
„Wow, Kind, das ist eine ganze Menge. Und wie geht es ihr jetzt?
Im Hintergrund hörte ich ihre Mutter – die Frau, mit der ich de jure verheiratet bin - :
„50 Kilo Fieber gibt es nicht.“
Wer hatte nun das Kind verstanden – sie oder ich?
Wer hatte was wörtlich genommen?
Gestern hatte ich mein erstes Gespräch mit meinem neuen Chef. Ich bin seit 19 Jahren im Konzern, er ist mein 16. Chef – mittlerweile habe ich mich an diese Erstgespräche gewöhnt. Da ich der Mann bin, dem die Kollegen vertrauen, weiß ich mehr über die Stimmung im Bereich als andere. Und die Stimmung bei uns ist derzeit schlechter als ich das je in meinem Berufsleben erlebt habe. Ich thematisierte das bei meinem neuen Chef. Ich sagte ihm:
„Auf der letzten Tagung hat mich ein Kollege gleich zu Beginn angesprochen und mir ungefragt gesagt: ‚Ich bin dauerdepressiv. Aber das musst du einfach weglachen.‘“
Der neue Chef antwortete spontan:
„Wenn er depressiv wäre, dann könnte er gar nicht zur Arbeit kommen.“
Ich antwortete ihm spontan:
„Du kannst verstehen oder Recht haben. Beides zugleich geht nicht.“
Wer hatte nun den Kollegen verstanden – er oder ich?
Wer hatte was wörtlich genommen?
Die NTs, die meine Welt bevölkern, neigen dazu, sich gegenseitig sehr wenig zuzuhören. Die Dialoge zwischen ihnen erlebe ich sehr häufig als zwei nebeneinander laufende Monologe. Sie neigen auch nicht gar so häufig dazu, sich zu verstehen. Sie hören sehr oft auf das, was der andere NT wörtlich gesagt hat und überhören, was er damit gemeint hat:
„Das ist ja schlimmer als im Knast hier!“
„Sei froh, dass du nicht im Knast bist. Da wäre es noch viel schlimmer.“
„Das hier ist kein Arbeitsplatz, das ist eine Diktatur!“
„Du wirst das hier doch wohl nicht mit dem Dritten Reich vergleichen wollen!“
Meine Erfahrung ist, dass die NTs dazu neigen, das zu hören, was sie hören wollen. Und dass sie sich deutlich häufiger missverstehen als verstehen. Sie neigen dazu, Sprache wörtlich zu nehmen und nicht zu verstehen, was der andere mit seinen Worten hat ausdrücken wollen. Da sie das bei sich nicht wahrnehmen wollen, dichten sie uns das an. Als Kinder haben wir dazu gesagt:
„Was man sagt, das ist man selber.“
Schlimm finde ich, dass die NT-Experten, die über uns reden und schreiben, das oft genauso machen. Sie projizieren das, was sie bei sich selber nicht wahrnehmen wollen auf uns und basteln sich so eine recht krude Symptomatik zusammen. Das verschwurbeln sie dann mit wissenschaftlich klingender Sprache und – voilà – fertig ist das Syndrom, das man bekämpfen oder zumindest bearbeiten kann.
Nach allem, was ich sehen kann, neigen die NT-Experten, die über AS reden oder schreiben, sehr häufig dazu, bei anderen das zu finden, was sie bei sich selber nicht akzeptieren können. Wenn die das dann aber beim anderen behandeln oder gar bekämpfen wollen, wenden sie sich an den falschen.
Und das ist für mich deutlich schlimmer als wenn jemand 50 Kilo Fieber hat.
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Susanne Niemuth (Montag, 11 Februar 2019 10:44)
Vielen Dank fuer Ihre Ausfuehrungen, ich habe sie gut verstanden und verinnerlicht!