Die neurotypischen Menschen (NTs), die meine Welt bevölkern, überraschen mich immer wieder. Heute fiel mir auf, dass wir offenbar völlig unterschiedlich mit unserer Lebenszeit umgehen. Was war passiert?
Wir waren einkaufen – die Frau, mit der ich de jure verheiratet bin und ich. Es war unser üblicher Wochenendeinkauf, bei dem wir uns mit Lebensmitteln eindecken. Ich hatte schon all meine Sachen in den Einkaufswagen gelegt. Die Frau, mit der ich de jure verheiratet bin, wollte noch eine Glühbirne kaufen. Also setzte ich mich im Kassenbereich auf eine Bank und wartete.
Als die Frau, mit der ich de jure verheiratet bin, mit ihrer Glühbirne kam, entschuldigte sie sich wortreich, sie habe die Birne noch darauf testen lassen, ob sie wirklich funktioniere. Dazu habe sie dies, das und jenes tun müssen.
Ich schaute sie erstaunt an: Sie reagierte – wieder einmal – auf Vorwürfe, die ich ihr nicht gemacht hatte. Ich habe ihr das schon öfters gesagt: „Die Vorwürfe, auf die du reagierst, sind in dir, nicht in mir …“ aber ich habe offenbar nie die richtigen Worte gefunden, um mich verständlich zu machen. Sie will weiterhin glauben, dass ich ihr Vorwürfe mache, also tut sie das.
Auf der Heimfahrt fiel mir auf, dass ich solches Verhalten auch von anderen NTs kenne: Wenn ich irgendwo auf sie gewartet habe, entschuldigen sie sich wortreich, wenn sie dann kommen. Ich gebe gerne zu, dass ich Mühe habe, das zu verstehen. Nach allem, was ich sehen kann, ist es für NTs ziemlich unangenehm, auf irgendwen zu warten. Warum sollten sie sich sonst für etwas entschuldigen, was ich ihnen nie vorgeworfen habe.
Wenn ich irgendwo auf irgendwen warte, dann bin ich dabei meistens ziemlich vergnügt. Im Supermarkt schau‘ ich mir die Leute an, die vorbeilaufen, ich erzähle mir Geschichten, ich beobachte die Schrittfolgen der Vorbeilaufenden, ich schaue mir an, was alles auf dem Boden liegt. Wenn ich draußen warte, schaue ich den Wolken nach, und wenn es regnet, dann schaue ich mir den Regen an. Ich schaue mir an, wie das Gras zwischen den Pflastersteinen wächst, ich beobachte Ameisenstraßen, ich schau‘, wie die Katze durch die Wiese läuft und dabei ihre Ohren in unterschiedliche Richtungen dreht. Wenn ich in geschlossenen Räumen warte, suche ich Muster in der Raufasertapete oder auf dem Fußboden, ich beobachte den Schattenwurf von Gegenständen. Kurz: Wenn ich warte, dann beobachte ich, dann nehme ich wahr, dann bin ich da. Meine Kleinen erzählen mir irgendwas oder stellen Fragen, ich höre ihnen zu und antworte so gut ich kann. Das kann von mir aus stundenlang so gehen. Und wenn ich mich irgendwann langweile, dann zücke ich mein Handy und trainiere Schach.
Ich habe keine Ahnung, was in den NTs vorgeht, wenn sie warten. Sie erzählen mir immer wieder von „toter Zeit“, die sie erleben, wenn sie warten. Ich habe keine Ahnung, was „tote Zeit“ ist, aber es hört sich ziemlich schrecklich an. Ich vermute, dass die meisten NTs, die meine Welt bevölkern, innerlich so abgestorben sind, dass sie mit der Zeit, die ihnen durch’s Warten geschenkt wird, nichts anfangen können. „Tote Zeit“ hört sich für mich so an, als ob die NTs nicht wirklich leben würden, sondern ihre Zeit panisch mit irgendwas vollstopfen würden, um ihre innere Leere und die Sinnlosigkeit ihres Lebens nicht spüren zu müssen. Ob das stimmt, weiß ich nicht.
Was ich immer wieder mitkriege, ist, dass sie nicht mit sich allein sein können. Sobald sie warten müssen, werden sie unruhig und zücken ihr Handy, um mit irgendwem in Kontakt zu treten. Sie scheinen permanent auf der Flucht vor sich selber zu sein. Und wenn man einfach nur so wartet, dann begegnet man sich selber. Das ist gar nicht zu vermeiden.
Wie ich an anderer Stelle schon schrieb:
„So zu leben wie Sie – so stelle ich mir die Hölle vor.“
Kommentar schreiben
NeoSilver (Sonntag, 11 März 2018 12:21)
"Nichts tun", was wie du sagst von NTs mit dem Warten assoziiert wird, ist so schwer, dass ein Mensch diesen Zustand tatsächlich doch nur im Stadium des Todes erreichen kann.
Wer tot ist, tut nichts mehr. Wer lebt tut immer etwas.
Ich denke aber, dass du deine Gedanken zu sehr auf den sozialen Aspekt - NTs müssen immer im Kontakt mit anderen NTs stehen, weshalb ihnen Warten so schwer fällt - fokussiert hast.
Es ist richtig, ohne Frage, allerdings m.M.n. nur ein Teil der Antwort.
Viele Menschen, und dass hast du in deinem Blogeintrag "So zu leben" sehr gut dargestellt, haben ein Problem damit die ihnen gegebene Zeit "nutzbar" zu machen.
Nutzbar muss dabei keinerlei Wertung unterliegen, außer der subjektiven Wertung.
Das Leben, welche sich diese Menschen kreiert haben, besteht nur noch aus Facetten der Selbstverwirklichung, Blendwerk der tatsächlichen Realität und viel mehr aus einer Abfolge von sozial, gesellschaftlich auferlegten Plänen.
Dabei wird jegliche Zeit, welche nicht für diese o.g. Ziele verwendet werden kann degradiert und wie du beschriebst, als "tote Zeit" betitelt.
Es ist also m.M.n. nicht der reine Drang mit anderen NTs in Kontakt zu treten, sondern ein Gesellschaftliches Konstrukt, welches sich die NTs erschaffen haben, welchem sie hörig sind und viel schlimmer, welches sie oft nicht mehr bezüglich der Richtigkeit hinterfragen, welches dafür sorgt, dass sie gar nicht mehr wissen, welches ihre tatsächlichen intrinsischen Vorstellungen sind.
-------------------------------------------------------
Auch wenn der Text schon etwas lang ist, möchte ich passend zum Thema eine Anekdote aus meiner Zeit im Krankenhaus niederschreiben.
Dort gab es einen Patienten, er war schätzungsweise 65 Jahre alt und wurde dort stationär bezüglich dem Verdacht auf Alzheimer behandelt.
Dieser Mensch saß die meiste Zeit in seinem Zimmer auf einem Stuhl und schaute umher oder starrte gedankenverloren auf einen Punkt.
Er las nichts, er schaute nicht Tv, aber er unterhielt sich gern, sollte das Gesprächsthema anregend sein.
In den Gesprächen mit ihm erzählten wir über fachgebundene Dinge der Sportphysiologie und Biomechanik.
Die anderen Mitarbeiter betitelten diesen Menschen als "komisch", "sonderlich", "dement", als sie ihn mir zur Behandlung übergaben.
In meinen Gesprächen mit ihm erzählte er mir dann auch, wieso er meist nur dort auf dem Stuhl oder dem Bett säße und die Antwort erstaunte mich.
Er sagte, dass er vollkommen erfüllt damit wäre nachzudenken.
Ich kann es nicht beschreiben, wie toll ich diese Antwort damals empfand, als wie ich sie auch Heute empfinde.
Stiller (Sonntag, 11 März 2018 18:47)
""Nichts tun", was wie du sagst von NTs mit dem Warten assoziiert wird,"
Nach allem, was ich sehen kann, sage ich das nicht. Zumindest war es nicht meine Absicht.
"ist so schwer, dass ein Mensch diesen Zustand tatsächlich doch nur im Stadium des Todes erreichen kann."
Das weiß ich nicht. Da ich nach allem, was ich weiß, bislang noch nicht tot war, kann ich das nicht beurteilen.
"Wer tot ist, tut nichts mehr."
Auch das kann ich nicht beurteilen.
Wenn ich etwas nicht wahrnehmen kann, ist das maximal ein Beleg, aber kein Beweis dafür, dass es nicht da ist.
"Das Leben, welche sich diese Menschen kreiert haben, besteht nur noch aus Facetten der Selbstverwirklichung, Blendwerk der tatsächlichen Realität und viel mehr aus einer Abfolge von sozial, gesellschaftlich auferlegten Plänen.
Dabei wird jegliche Zeit, welche nicht für diese o.g. Ziele verwendet werden kann degradiert und wie du beschriebst, als "tote Zeit" betitelt."
Das sind viele interessante Gedanken, finde ich.
Ich nehme an, dass die Zeit beim Warten für die NTs aus den von dir skizzierten Gründen "tote Zeit" ist. Aber ich kann es nicht wissen, da ich die NTs dazu noch nicht hinreichend befragt habe.
"Es ist also m.M.n. nicht der reine Drang mit anderen NTs in Kontakt zu treten, sondern ein Gesellschaftliches Konstrukt, welches sich die NTs erschaffen haben, welchem sie hörig sind und viel schlimmer, welches sie oft nicht mehr bezüglich der Richtigkeit hinterfragen, welches dafür sorgt, dass sie gar nicht mehr wissen, welches ihre tatsächlichen intrinsischen Vorstellungen sind."
Ich bin nicht sicher, ob ich dich richtig verstanden habe. Dass NTs nicht wissen, was sie wollen ('welches ihre tatsächlichen intrinsischen Vorstellungen sind'), das erlebe ich allenthalben. Immer wieder führe ich Gespräche, die länger als sechs Stunden (ohne Pause) sind, mit einzelnen NTs, um genau das herauszuarbeiten: Was sie eigentlich wollen. Ich kann mich nicht erinnern, dass ich auch nur in einem einzigen Fall am Ende dieses Gespräches ein greifbares Ergebnis gehabt hätte.
(Vielleicht stelle ich auch einfach nicht die richtigen Fragen). Ob damit in Zusammenhang steht, dass die Menschen das Warten als "tote Zeit" erleben, kann ich nicht beurteilen. Ich halte es aber für wahrscheinlich.
"Er sagte, dass er vollkommen erfüllt damit wäre nachzudenken."
Ja, das kann ich gut nachempfinden. Wenn ich über irgendwas nachdenke, kann mich das vollkommen ausfüllen.