Menschen zu beobachten ist mein ältestes Spezialinteresse. Damit habe ich angefangen, als ich noch ein Säugling war. Heute verdiene ich mein Geld damit: Neurotypische Menschen (NTs) zu verstehen ist mein Beruf. Mein Arbeitgeber ist ein internationaler Großkonzern. Dort habe ich mir eine enorm hohe Reputation als NT-Versteher erworben.
NTs zu verstehen ist ein sehr weites und sehr tiefes Feld. Niemand, der das ernsthaft betreibt, ist jemals an irgendeiner Stelle „fertig“. „Fertig“ in dem Sinne, dass er jetzt in dieser Sache genug gelernt hat und sich nicht mehr weiter entwickeln muss. Im Gegenteil: Jeden Tag, den ich mit NTs verbringe, lerne ich dazu. Ich lerne Neues, ich lerne Demut, ich lerne, dass ich beides bin: Absoluter Experte und ziemlicher Anfänger. Ich bin sehr sicher, dass ich mit den Besten meiner Branche mithalten kann. Gleichzeitig bin ich aber auch sehr sicher, dass ich nicht mal die Hälfte von dem weiß, was es hier alles zu lernen gibt. Und das nach über 50 Jahren intensiver Beschäftigung mit diesem Thema. Schon spannend.
Heute will ich davon schreiben, wie ich das Dasein der NTs erlebe. Was ich hier schreiben werde, trifft natürlich nicht auf alle NTs zu, sondern spiegelt nur wider, was ich in meiner kleinen und sehr begrenzten Welt erlebe. Aber vielleicht erkennt sich der eine oder andere NT hier wieder.
Um zu erklären, worum es mir geht, muss ich kurz skizzieren, auf welche Weise ich in der Welt bin:
In mir sind ganz viele kleine Kinder wuselig aktiv. Und die sind sehr, sehr neugierig. Sie wollen die Welt, in der sie leben, begreifen. Deshalb fragen sie mich sehr, sehr viel. Den ganzen Tag tun sie das. Manche dieser Fragen gebe ich nach außen. Und so werde ich von vielen NTs als ein Mensch erlebt, der sehr oft nachfragt. Das war noch nie anders. Schon viele NTs, die meinen Weg gekreuzt haben, sind schier daran verzweifelt, dass ich so oft wissen will, warum die Dinge so sind, wie sie eben sind und nicht ganz anders.
Das beginnt bei ganz kleinen Sachen. So drehe ich z.B. bei jedem Restaurantbesuch das Besteck lange prüfend zwischen meinen Fingern, um herauszufinden, wie es hergestellt wurde, wie elastisch es ist, wo sein Schwerpunkt ist etc.
Und das endet bei ganz großen Dingen: Warum ist überhaupt irgendwas uns nicht nichts? Wozu lebst du eigentlich? Was ist Zeit überhaupt?
Viele Fragen und nur ganz wenige Antworten.
Bei NTs interessiert mich fast immer am meisten, warum sie leben. Ich meine – sie könnten sich ja auch umbringen. Aber sie tun’s nicht. Also haben sie sich für’s Leben entschieden. Warum?
Diese simple Frage ist in aller Regel Ausgangs- und Endpunkt meiner Kontakte mit NTs:
Warum lebst du?
Wozu ist dein Leben gut?
Was macht dein Leben lebenswert?
Aus welchem Grund ziehst du dein Leben dem Tod vor?
In meiner beruflichen Laufbahn bin ich bislang ca. 10.000 NTs begegnet. Mit tausenden von ihnen habe ich intensivere Gespräche geführt. Ich habe nicht ein einziges Mal erlebt, dass ein NT mir Fragen dieser Bauart beantworten konnte.
Für mich und meine Kleinen sind das die wichtigsten Fragen überhaupt. Wenn uns die Antwort auf die Frage: „Warum lohnt sich dein Leben?“ abhanden kommt (was immer wieder passiert), dann haben wir (meine Kleinen und ich) ein ernstes Problem.
Ich habe Philosophie studiert. Da waren solche Fragen üblich. Aber die Antworten, die ich dort bekam, fand ich allesamt hanebüchen. Meine Kleinen haben sie buchstäblich in der Luft zerrissen: „Alles Quatsch!“
Die Antwort auf solche Fragen
- Warum lebst du?
- Wozu ist dein Leben gut?
- Was macht dein Leben lebenswert?
- Aus welchem Grund ziehst du dein Leben dem Tod vor?
findet sich nicht in Büchern. Und nach allem, was ich sehen kann, sind Philosophie-Professoren so ziemlich die Letzten, die man bei solchen Dingen zu Rate ziehen sollte. Die kennen ihre Bücher aber nicht das Leben. Das Leben muss gelebt werden. Es kann nicht gedacht werden.
Was mich aber bis heute jedes Mal aufs Neue völlig verblüfft, ist, dass die meisten NTs, die meine Welt bevölkern, keinen Kontakt zu diesen Fragen haben. Aus Gründen, die ich noch nicht vollständig verstehe, stellen sie sich diese Fragen nicht. Deshalb haben sie auch keine Antworten, wenn ich mit meinen neugierigen Fragen komme.
Ich bin deshalb schon vor vielen, vielen Jahren dazu übergegangen, aus Beobachtungen zu schließen, warum die NTs leben: Ich lasse mir von ihnen schildern, wie sie den Tag verbringen, was sie im Urlaub tun, was ihnen wichtig ist, was sie aus Begebenheiten gelernt haben etc., etc. Tausende Interviews habe ich in dieser Sache schon geführt. Dabei kristallisierten sich Muster heraus, die immer wiederkehren.
Tausende NTs haben mir geschildert, was ihr Leben bereichert: Familie, Hobbys, Freunde, beruflicher Erfolg, gemeinsam Spaß haben, sich für die Gemeinde engagieren, Verantwortung übernehmen, die Firma voranbringen, im Hobbykeller was basteln, die Lieben bekochen – und so weiter. Dabei lasse ich es aber nicht bewenden. Ich lasse es mir erklären: Wenn du dich mit Freunden triffst – was macht ihr dann? Wenn du deine Lieben bekochst – wie fühlst du dich dann? Und so weiter.
Ich will wissen, was die Menschen antreibt, sowas zu tun. Sie könnten ihre Zeit ja auch ganz anders verbringen. Tun sie aber nicht. Warum? Was ist der Kern? Was würde von ihnen übrig bleiben, wenn man all das, was sie da tun, von ihnen abziehen würde?
Und hier ist die Antwort:
Es gibt keinen Kern. Die NTs, die meine Welt bevölkern, leben nicht, sondern werden gelebt. Weit über 90% dessen, was sie tun, fühlen und sagen werden, kann ich derart genau vorhersagen, dass von „Freiheit“ in ihrem Leben kaum noch die Rede sein kann. Sie werden angetrieben von Kräften, die sie weder kennen noch verstehen – geschweige denn beherrschen. Das bemerken sie aber nur in ganz wachen Stunden (und die sind in ihrem Leben meistens sehr selten). Viele von ihnen glauben, der Reiter zu sein, dabei sind sie nur das Reittier. Das gilt auch und gerade für die, die sich mir gegenüber als die aktivsten Macher der Welt präsentieren und ständig unter Strom stehen. Auch die wissen nicht, warum sie eigentlich die ganze Zeit so aktiv sind, ständig Geld scheffeln und ein Großprojekt nach dem anderen durchziehen.
Was bleibt übrig, wenn man das Tun abzieht?
Vor einigen Jahren habe ich einen dieser „Macher“ auf einem Incentive mal angesprochen:
„Sag mal, du bist doch schon längst Millionär. Warum tust du dir das eigentlich an und schuftest dich buchstäblich zu Tode? Ist dir das mit den Incentives so wichtig?“
Er schaute mich müde an. Er vertraute mir.
„Stiller“, sagte er nach einer Weile, „was soll ich denn Zuhause rumsitzen und grüblen? Da kommt man doch nur mies drauf von.“
Mit den Jahren reifte in mir also die Erkenntnis:
Die NTs haben (außer Geld) nichts, was ich gerne hätte. Gar nichts. Ich muss meinen eigenen Weg finden und gehen (wie jeder andere auch). Ihre Art, in der Welt zu sein, unterscheidet sich so fundamental von meiner, dass wir buchstäblich keine Berührungspunkte haben.
Ich mag die NTs. Sie sind liebenswerte Geschöpfe. Aber ich erlebe sie beinahe alle als Automaten bzw. Androiden. Sie gehorchen Programmierungen, von deren Existenz sie meistens keine Ahnung haben. Wenn ich ihnen in meinen Seminaren Teile dieser Programmierung zeige, dann leite ich sie absolut logisch her: Aus A folgt B, aus B folgt C und so weiter. Und die Gesichter der meisten Teilnehmer werden von Stunde zu Stunde entsetzter. Viele von ihnen flüchten sich dann in aggressiven Irrationalismus:
„Das glaube ich jetzt nicht!“
Tja. Gegen vernünftige Erkenntnis hilft nur der feste Glaube. Die bibeltreuen Christen rund um die Welt machen vor, wie’s geht.
Man kann diese Programmierungen in sich aufspüren und stilllegen. Das ist nicht mal besonders kompliziert. Es dauert nur ziemlich lange. Was man dadurch gewinnt, sind vor allem zwei Dinge: Freiheit und Lebenslust. Beides erlebe ich bei NTs praktisch nie. Die Lebensfreude, von der sie sprechen, wenn sie mir erzählen, wie sie ihre Zeit verbringen, löst in mir meistens das Gefühl tiefer Kälte, Verlorenheit und Einsamkeit aus. Die Freiheit von der sie mir erzählen, ist für mich die Freiheit des Goldfischs in seinem Aquarium. Wer ein Gefangener seiner selbst ist, der kann mit seinen Euro-Millionen die ganze Zeit rund um die Welt jetten – Tokio, Rio, New York, Paris und wieder zurück – er wird stets ein Gefangener bleiben. Er kann seine Lieben bekochen, bis der Arzt kommt, er kann seinem Lieblingsverein rund um die Welt zu allen Auswärtsspielen folgen, er kann mit seinen Freunden Party ohne Ende machen, er kann mit den Jahren zur wichtigsten und angesehensten Stütze seiner Gemeinde avancieren: Er wird ein immer ein Gefangener bleiben.
Die NTs haben (außer Geld) nichts, was ich gerne hätte.
Aber diese NTs lassen es sich oft nicht nehmen, mir mit missionarischem Eifer nachzustellen und mich zu nötigen, ein Leben zu führen, das so gut ist wie ihres. Grundtenor ist:
Werde so wie ich, dann geht es dir gut.
Und dann schaue ich sie mir an. Ein Blick reicht mir meistens völlig, um zu erkennen, wie „gut“ es diesem NT wirklich geht. Und inzwischen kann ich dann auch ziemlich rabiat und wehrhaft sein. Meine Zeit ist mir zu kostbar, um in dieser Sache lange zu diskutieren. Ich erinnere mich da an den niedergelassenen Psychiater in unserer kleinen Stadt. Den musste ich öfters konsultieren, weil ich von ihm Überweisungen für die AS-Diagnose brauchte. Er machte da jedes Mal einen ziemlichen Aufriss, weil er sich übergangen fühlte. Er wollte mehr sein als ein Überweisungsschreiber. Deshalb tat ich ihm den Gefallen und brachte ihm das fertige Gutachten vorbei, das mich als AS auswies. Er las es. Dann schaute er mich freundlich an:
„Ich kann Ihnen helfen.“
Ich schaute mir sein Gesicht an: Dunkel. Es war vor allem ein dunkles Gesicht, das von tiefer Verlorenheit und Verzweiflung erzählte.
„Helfen?“ fragte ich ihn. „Wobei wollen Sie mir helfen?“
„Ich kann Sie therapieren.“
Ich schaute nochmal genau hin. Und dann sagte ich ihm spontan:
„So zu leben wie Sie – so stelle ich mir die Hölle vor.“
Das gilt aber nicht nur für ihn, sondern für buchstäblich alle NTs, die meine Welt bevölkern.
Die NTs haben (außer Geld) nichts, was ich gerne hätte.
Gar nichts.
Kommentar schreiben
NeoSilver (Sonntag, 18 Februar 2018 09:21)
Ich habe schon als kleiner Mensch die Diskrepanz zwischen meiner inneren Welt, meinen Vorstellungen und jener, aller anderen Menschen um mich herum idenzifiziert.
Natürlich war ich zu jung, als das ich mit 8-10 Jahren das Ausmaß wirklich begreifen und kognitiv verarbeiten konnte, weshalb ich es nur als Vermutung oder kindliche Erkenntnis definieren würde.
Fakt ist, und dies habe ich in den Jahrzehnten mitlerweile gut erkennen können, dass die Gesellschaft nach bestimmten fundamentalen Mustern agiert und funktioniert, welche zwar international leicht unterschiedlich sein können, reional und überregiona aber stets persistieren, welche aber nicht mein Fundament, meinen Antrieb im Leben bilden können.
Macht, Ruhm und als Katalysator und eigenständiger Faktor, Geld, sind für viele Menschen die Triebfeder des Lebens.
Gelebt wird um Geld zu verdienen.
Dabei bildet Geld leider nicht mehr nur den Katalysator sondern den Ursprung, wodurch Leben und Geld die Positionen tauschen und die Wertigkeit verschoben wird.
Eine schreckliche Vorstellung, müsste ich mich dieser Tatsache anpassen.
Das Leben als plumpes Schauspiel, einem gesellschaftlichen Manuscript folgend.
Ps:
Als witzig empfinde ich, dass deine Intention, die Welt zu verstehen und nicht nur zu "erleben", meiner fast identisch ist, auch wenn sich unsere Interessen dabei etwas unterscheiden.
Ich habe leider die Befürchtung, dass diese Facette des Lebens immer weiter in den Hintergrund gedrängt wird und schon Kinder, welche dieses Bedürfnis natürlicherweise vorweisen, immer mehr dazu getrieben werden, diesen infantilen Zustand schnellst möglich zu beenden.