Der rote Teppich

Die Erinnerungen an meine frühe Kindheit sind mir sehr nah und präsent. Natürlich habe ich wie beinahe jeder Mensch das allermeiste vergessen, was ich bislang erlebt habe. Aber wenn ich mir anhöre, was andere von ihren Kindheitserinnerungen zu berichten haben, dann stelle ich immer wieder fest: Verglichen mit diesen Menschen erinnere ich sehr, sehr viel.

 

Heute will ich vom roten Teppich schreiben.

 

Den schleppte mein leiblicher Vater eines Tages an, als ich zwei oder drei Jahre alt war. Er kam von der Arbeit nach Hause und hatte diese riesige, graue Rolle irgendwas dabei. Ich hatte keine Ahnung, was das war. Neugierig sah ich zu, wie diese graue Rolle im Kinderzimmer ausgebreitet wurde. Da lag dann auf einmal ein roter Teppich auf den Dielen. Mein leiblicher Vater nahm einen großen Hammer und ein durchsichtiges Kästchen voller eigentümlicher goldener Nägel. Dann kniete er sich auf den Teppich und begann, ihn an den Dielen festzunageln. Wir Kinder schauten dabei zu. Diese Nagelei dauerte und dauerte. Es war ein großer Teppich, und mein leiblicher Vater hatte viele, viele Nägel. Dann hörten meine Geschwister und ich, wie von unten jemand gegen den Fußboden klopfte. Uns gefiel das. Wir holten uns unsere größten Bücher und klopften damit zurück. Das Klopfen von unten wurde stärker. Wir klopften umso stärker zurück. Und mein leiblicher Vater kniete da am Rand vom Teppich und drosch die Nägel ins Holz. Er nahm keine Notiz von uns.

 

Der Teppich wurde das beherrschende Element in unserem ansonsten eher kargen Kinderzimmer. Es roch nicht mehr säuerlich nach Diele, sondern nach diesem Teppich. Er war rot, hatte bürstenartige kurze Haare und war ziemlich hart und kratzig, wenn man sich drauf legte.

 

Ich habe sehr, sehr viel Zeit auf diesem roten Teppich zugebracht. Ich konnte stundenlang dort liegen und mit dem Finger Figuren und Muster in den Teppich malen. Oder ich konnte, wenn ich fester aufdrückte, kleine Sandkörner hochhüpfen lassen, mit denen der Teppich voll war. Oft lag ich auf dem Rücken auf diesem Teppich und schaute mir die Zimmerdecke an. Es war sehr angenehm für mich, diesen harten, kratzigen Teppich unter mir zu spüren und einfach nur die Zimmerdecke anzuschauen. Wenn man da lange genug hinschaute, konnte man die großartigsten Muster erkennen. Das war jedesmal ein Fest, eine Wanderung durch eine karge Landschaft.

 

Im Sommer lag ich gerne auf diesem Teppich und schaute zu, wie die Sonnenstrahlen durch’s Fenster schienen und in ihrem Lichtkegel alle möglichen kleinen Staubteilchen tanzten Auch die machten ganz bestimmte Muster.

 

Als ich in der dritten Klasse war, begriff ich plötzlich, wie das mit den Zahlen funktionierte. Viele Stunden lag ich auf dem roten Teppich und kritzelte erfundene Rechenaufgaben in alte Taschenkalender, die ich von meinem leiblichen Vater bekommen hatte. Ich freute mich jedesmal ganz doll, wenn das wieder alles so aufgegangen war, wie das sein sollte.

 

Überhaupt – diese Taschenkalender …

Mit denen lag ich oft auf dem roten Teppich. Es war total faszinierend für mich, all die Sachen da drin anzuschauen und auswendig zu lernen. Da gab es zum Beispiel seitenweise bunte Bildchen. „Verkehrszeichen“ entzifferte ich. Und die sahen alle ganz toll aus. Ein besonders schönes hieß „Verbot für Fahrzeuge aller Art“. Ein anderes, das mir sehr gefiel, hieß „Dem Gegenverkehr Vorrang gewähren“. Ich hatte keine Ahnung, was das alles sollte. Ich ging gerade in die erste Klasse und meine Eltern waren Zeit ihres Lebens zu arm, um sich ein Auto leisten zu können. Deshalb waren Straßenschilder nie ein Thema für mich gewesen. Ich verstand nicht, was ich da las. Aber die Bildchen schaute ich mir sehr gerne an, und ich lernte alle ihre Namen.

 

Und dann war da diese Rubrik „Maße und Gewichte“. Ich hatte keine Ahnung, was ein „Maß“ war. Unter „Gewicht“ konnte ich mir allerdings was vorstellen. Und da las ich dann Worte wie Picometer oder Angström. Begeistert zählte ich die vielen Nullen, die da standen. Und lernte das alles mehr oder minder auswendig.

 

In diesen Taschenkalendern gab es kleine Landkarten und es gab „Angelsächsische Maße und Gewichte“ (Ich hatte natürlich wieder mal keine Ahnung, was das sein sollte). Es gab lange Listen mit irgendwelchen Feiertagen und alles mögliche. Ich verbrachte also viel, viel Zeit mit diesen Taschenkalendern auf dem roten Teppich.

 

Auch die beiden Lexika, die ich hunderte Male durchblätterte, las ich auf diesem Teppich. Später als die Atlanten dazukamen, lag ich viele selige Stunden auf dem roten Teppich und fuhr in Gedanken rund um die Welt. Ich weiß nicht, wie oft ich mir die einzelnen Karten anschaute. Aber als ich später in der Schule „Heimatkunde“ als Unterrichtsfach bekam, stellte ich fest, dass ich viele dieser Karten sehr, sehr gut kannte.

 

Als ich in der dritten Klasse war, zogen meine leiblichen Eltern um. Der rote Teppich hatte ausgedient. Aber er blieb Teil meines Lebens. Auch heute noch lese ich bevorzugt liegend auf dem Fußboden bzw. auf einer dünnen Matratze, die auf dem Fußboden liegt.

 

Eine besondere Rolle spielte dieser Teppich dann noch einmal, als ich abklären ließ, ob ich jetzt Autist war oder nicht. Wie die meisten Menschen mit Asperger-Syndrom hatte ich vor meiner Diagnose doch arge Zweifel, ob ich denn wirklich Autist war. Ich hatte so wenig vom „Rain Man“.

 

Ich habe mir die Diagnose mehrfach unabhängig voneinander stellen lassen, um wirklich sicher sein zu können. Mein erster Anlauf war ein niedergelassener Psychiater, den mir die Uniklinik Köln empfohlen hatte. Der hatte sich auf AS spezialisiert, der wusste Bescheid. Ich besuchte also diesem Menschen in seiner Praxis und stellte schon im ersten Moment fest, dass er mindestens genauso eigenartig war wie ich. Wir saßen da in seinem Behandlungszimmer und schwiegen einander an. Ein Sonderling begutachtete den anderen.

Irgendwann sprach er dann:

„Was führt Sie denn her?“, wollte er dann wissen.

„Ich hätte gerne die Lizenz zum Anderssein“, antwortete ich ihm.

 

Dann begann er einen Haufen Fragen zu stellen, die ich alle nach bestem Wissen und Gewissen beantwortete. Aber wir verstanden einander nicht. Was immer ich auch sagte, er missverstand es. Oder ich missverstand seine Fragen.

Dann fragte er mich, was ich in meiner Kindheit denn besonders gerne gemacht hätte. Und mir fiel spontan dieser rote Teppich wieder ein. Das wurde sehr lebendig in mir. Und mit eben dieser Lebendigkeit schilderte ich ihm, was ich auf diesem Teppich so alles gemacht hatte.

Ich erzählte, und er verstand.

Am Ende unserer zweiten Begegnung, als das mit diesen Fragen schier kein Ende nehmen wollte, sprach ich ihn direkt an:

„Glauben Sie, dass ich der Population derer zuzurechnen bin, die das Asperger-Syndrom haben?“

Er schien wie aus einem Traum zu erwachen. Ich hatte den Eindruck, dass ihm jetzt erst gewahr wurde, was ich eigentlich bei ihm wollte. Er dachte eine Weile nach.

„Ich denke ja“, sagte er dann.

 

 

Tja. Sieht so aus, als hätte ich diesen roten Teppich in typisch autistischer Weise genutzt. Ich habe überhaupt keine Ahnung, wie sich das anhören würde, wenn ein NT von dem Teppich in seinem Kinderzimmer berichten würde.

 

Dieser Teppich kam bei meiner zweiten Diagnose nochmal zur Sprache. Hier fragte mich der Professor, wie ich mit meinen Geschwistern gespielt hätte. Und da kam es mir wieder sehr lebhaft in Erinnerung:

Meine drei Geschwister (allesamt NTs) wollten immer wieder irgendwelche nervigen Rollenspiele mit mir spielen. Zoo, Zirkus, Bauernhof – ständig wollten sie irgendwelche Tiere spielen. Manchmal konnte ich mich retten, indem ich der Zoowärter oder der Bauer war und die meiste Zeit einfach in der Ecke sitzen konnte und dem Treiben dieser wilden und ungebändigten Tiere zuschauen konnte. Aber irgendwann wurde mir das zu blöd. Ich fand eine Lösung:

„Ich bin ein Löwe!“, verkündete mein älterer Bruder.

„Und ich ein Pferd!“, rief meine Schwester.

Und meine andere Schwester wollte auch ein Pferd sein.

Dann kam die Reihe an mich.

„Ich bin ein Regenwurm und heiße ‚Kringel‘“, sagte ich ihnen.

Da konnte ich mich dann auf diesem roten Teppich in einer Ecke zusammenrollen und wurde in Ruhe gelassen.

Das war sehr angenehm.

Sehr angenehm für mich, meine ich. Meine neurotypischen Geschwister nehmen mir heute noch übel, dass ich von Stund an immer ein Regenwurm war, wenn sie Tier spielen wollten.

 

Heute bin ich kein Kind mehr, und meine Anpassung an die NT-Welt ist so gut, dass ich da einigermaßen mitschwimmen kann. Viele NTs würden mir niemals glauben, dass ich Autist bin.

 

Der riesige Konzern, in dem ich arbeite, strukturiert gerade mal wieder massiv um. Und da ich der einzige in unserem Ressort bin, der das kann, fiel mir die Aufgabe zu, die einzelnen Bereiche bei dieser Umstrukturierung in Workshops zu begleiten.

Ein Spitzenmanager, mit dem ich mich sehr gut verstehe, sagte mir:

„Stiller, das ist eine große Chance für dich, für das Management sichtbar zu werden und dich für weitergehende Aufgaben zu empfehlen.“

Ich weiß, dass dieser Manager große Stücke auf mich hält und wollte ihn nicht vor den Kopf stoßen. Deshalb antwortete ich ihm:

„Du, ich hab‘ meine große Zukunft in diesem Konzern bereits hinter mir.“

 

Innerlich dachte ich jedoch:

„Danke. Ich bleibe lieber auf dem Teppich.“

Aber das hätte er wohl nicht verstanden, oder?

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