Es ist für mich immer wieder verblüffend, wenn ich Rückmeldung bekomme, wie ich auf NTs wirke, die mich nicht kennen. Bei den meisten scheine ich Angst auszulösen. Ich bin 1.90 Meter groß, etwas über 100 Kilo schwer und eher muskulös als fett. Also eher der Türsteher als die adipöse Couch-Potato. Da ich im Freien fast immer eine tiefdunkle Sonnenbrille trage, mein Gesicht beinahe unbeweglich ist und ich kaum was sage, kann das einschüchternd wirken.
„Finster“ sei ich, bekam ich zu hören.
„Die Leute erschrecken vor dir.“
„Um den macht man lieber einen Bogen.“
Tja. Da kann man nichts machen. Da mir fast völlig gleichgültig ist, was die Leute über mich denken, werde ich weder an Mimik noch an Statur etwas ändern, nur um anderen zu gefallen.
Aber da kommt noch was hinzu – die NTs erleben ja ganz häufig eine Realität, die nur in ihrem Kopf existiert. Da könnte ich also machen, was ich wollte – wenn sie mich unbedingt als finster erleben wollen, dann werden sie das auch tun. Und davon will ich heute schreiben.
Seit vielen, vielen Jahren stattet mich mein Arbeitgeber mit einem Diensthandy aus. Das finde ich sehr freundlich von ihm. Das erspart mir die Kosten für so ein Ding und garantiert gleichzeitig, dass immer jemand für mich greifbar ist, wenn ich mal Schwierigkeiten mit der Technik habe. Ich kann auf berufliche und private Mails zugreifen, wann immer ich das will, habe unbegrenzten Zugang zum Internet, meine ganzen Schachprogramme sind da mittlerweile drauf – alles sehr angenehm also. Und – ach ja – telefonieren kann man damit auch noch. Mach‘ ich aber nur ganz selten. Ich hasse es zu telefonieren. Meinen Arbeitgeber nervt zwar immer wieder tierisch, dass ich telefonisch nicht erreichbar bin und immer nur der Anrufbeantworter anspringt. Meinen (stets wechselnden) Chefs habe ich deshalb immer wieder gesagt, dass ich mich dem „Terror der Erreichbarkeit“ systematisch entziehen würde und dass sie das Handy gerne wiederhaben könnten, wenn es sie so schrecklich nerven würde, dass ich telefonisch nicht erreichbar sei. Bislang hat nie ein Chef Anstalten gemacht, dieses Angebot anzunehmen.
Und so habe ich schon seit Jahren die Vereinbarung mit meinem Arbeitgeber, dass ich an Arbeitstagen mehrmals täglich schaue, ob jemand versucht hat, mich telefonisch zu erreichen und dass ich dann Kontakt mit diesem Menschen aufnehme.
Eine meiner beiden Töchter ist amtlich diagnostizierte Asperger-Autistin. Wir haben viel gemeinsam. So auch die Abneigung gegen das Telefonieren. Wenn wir beide alleine zuhause sind, und das Festnetz-Telefon klingelt, schauen wir uns beide kurz an und lassen es klingeln. Die Erfahrung zeigt, dass das auch irgendwann wieder aufhört mit dem Klingeln. Die Erfahrung zeigt weiterhin, dass man mit irgendwelchen NTs reden muss, wenn man ans Telefon geht. Dann schon lieber klingeln lassen.
Es ist also ein extrem ernsteres Warnsignal, wenn ich auf mein Handy schaue und dabei feststelle, dass meine Tochter mehrfach versucht hat, mich zu erreichen. Oft ist das dann flankiert von SMS, die ebenfalls in kurzen Abständen reinkamen: „Ey Papa, ruf mal an.“ „Son bisschen dringend.“
Das passiert ungefähr einmal im Jahr.
Einmal war es ein Wasserrohrbruch in der Küche, ein anderes Mal hatte sie eine Mitschülerin, die gerade einen psychotischen Schub hatte.
Vor ein paar Jahren, mitten im Winter, war ich mehrere hundert Kilometer von daheim entfernt auf einer Tagung und tief eingeschneit, als ich morgens solche Warnsignale auf meinem Handy fand. (Sie war damals 13 Jahre alt).
Ich rief zurück.
Meine Tochter hatte auf dem Weg zur Schule im tiefen Neuschnee den Bordstein verfehlt, war ausgerutscht und hatte sich dabei den Fuß böse umgeknickt. Sie hatte gerade so noch nach Hause humpeln können, aber danach ging bei ihr nichts mehr. Sie hatte rasende Schmerzen. Ich eruierte mit ein paar Fragen den Grad der Schädigung. Offenbar waren mehrere Bänder in ihrem Sprunggelenkt gerissen, denn der Fuß war in ziemlich jede Richtung frei drehbar.
„Damit musst du umgehend zum Arzt, Kind. Soll ich einen Notarzt für dich rufen?“
„Nee, will ich nicht. Kannst du nicht kommen und mich zum Arzt bringen?“
„Auf jeden Fall, Kind, aber ich werd‘ ein paar Stunden brauchen, bis ich daheim bin.“
„Kannst du denn dein Zeug da so einfach absagen?“
„Kind, ich werd’s einfach tun. Damit müssen die Leute hier leben. Kind geht vor. Aber wo ist die Mama, vielleicht kann die dich fahren?“
„Die hab‘ ich schon angerufen, die ist in [Name einer Großstadt in der Nähe]. Aber die muss über die verschneiten Berge, wenn sie wieder zurück will, die braucht bestimmt noch länger als du.“
„Machen wir’s so, Kind – ich komm heim, und die Mama kommt heim. Und wer von uns zuerst da ist, fährt dich in die Klinik und der andere kommt dann nach.“
So wurde es dann gemacht.
Schnee beim Autofahren macht mir nicht viel aus. Und so fuhr ich mit der Geschwindigkeit, die ich verantworten konnte, heim, immer in Gedanken an meine Tochter, die da voller Schmerzen zuhause saß.
Zuhause angekommen stellte ich fest, dass ich ganz knapp den zweiten Platz geschafft hatte. Obwohl die Frau, mit der ich de jure verheiratet bin, sich mit dem Auto durch den tiefverschneiten Taunus hatte herquälen müssen, war sie etwas schneller gewesen. Ich fuhr zur ambulanten Unfallchirurgie.
Als ich dort ankam, war meine Tochter mit ihrer Mutter bereits im Behandlungszimmer verschwunden. Mir wurde vom Praxispersonal gesagt, ich solle im Wartezimmer Platz nehmen, was ich auch tat. Nur wenige Minuten später ging im Behandlungszimmer die Tür auf und meine Tochter kam herausgehumpelt. Allein. Die Frau, mit der ich de jure verheiratet bin, hatte im Behandlungszimmer noch irgendwas mit dem Arzt zu besprechen. Meine Tochter kam auf mich zu. Sie hüpfte mehr auf einem Bein als dass sie lief. Ich stand auf, ging zu ihr hin und sagte ihr leise:
„Lauf, du Zwerg!“
Obwohl ich das sehr spontan sagte, waren die Worte gut gewählt und genau die richtigen für meine Tochter in dieser Situation. Sie grinste über das ganze Gesicht. Ich bin mir heute nicht mehr sicher, ob das Praxispersonal gehört hatte, was ich ihr da gesagt hatte. Aber es ist gut möglich.
Für meine Tochter ging das Abenteuer jetzt erst richtig los – Krücken kaufen, auf Krücken durch die Gegend humpeln, lernen, wie man mit Krücken eine Tür öffnet etc., etc.
Ein paar Tage später hatte ich mit ihr einen Termin beim Radiologen in der nahen Großstadt. Der behandelnde Arzt in der ambulanten Unfallchirurgie wollte wissen, ob die Bänder in ihrem Sprunggelenk durchgerissen oder nur gedehnt waren, und in dieser Sache sollte die Durchleuchtung Aufschluss geben. Deshalb waren wir beim Radiologen. Die Leute dort beschlossen, ihr Bein zum Durchleuchten in eine enge und schmale Röhre zu stecken. Das hielten wir (meine Tochter und ich) für eine vergleichsweise schlechte Idee, weil sie dafür ihren Fuß hätte überstrecken müssen. Das Praxispersonal insistierte, ich insistierte, und wie es dann im einzelnen weiter ging, weiß ich heute nicht mehr, aber schlussendlich wurde ihr Fußgelenk auf eine Art und Weise durchleuchtet, die schmerzfrei für sie war.
Damit waren wir in Ehren entlassen und sollten wieder zurück zur ambulanten Unfallchirurgie bei uns in der Kleinstadt, wo meine Tochter zuerst behandelt worden war. Ein paar Tage später kam dieser Termin zustande. Meiner Tochter war wichtig, dass ich mit ins Behandlungszimmer kam, und so saßen wir dort eine Weile schweigend und warteten auf den Arzt. Zehn Minuten oder so passierte nichts. Ich saß da, meine Tochter saß da, wir schwiegen beide, und alles war gut.
Dann ging die Tür auf, und anstatt des Arztes kam die Sprechstundenhilfe. Wo die Bilder von der Durchleuchtung seien, wollte sie wissen.
Meine Tochter und ich guckten uns an.
„Die von der Radiologie haben gesagt, dass sie sie Ihnen zuschicken werden“, antwortete ich. „Die müssten schon längst da sein.“
„Nein, das geht nicht“, beschied uns die Sprechstundenhilfe, „die Bilder müssen Sie selbst mitbringen.“
„Ich versichere Ihnen, dass uns in der Radiologie gesagt wurde, dass wir damit nichts zu tun haben, und dass die Radiologie Ihnen diese Bilder schickt.“
„Das stimmt nicht. Die Patienten müssen dafür sorgen, dass wir die Bilder rechtzeitig bekommen, sonst kann der Arzt Ihre Tochter nicht behandeln.“
Die Sprechstundenhilfe wirkte einigermaßen unwirsch auf mich.
„Habe ich das jetzt richtig verstanden“, fragte ich sie, „dass wir als Patienten wissen müssen, wenn Sie sich mit der Radiologie nicht einig sind und dann darauf zu reagieren haben?“
Die Sprechstundenhilfe wirkte verunsichert auf mich.
„Sie als Patienten müssen die Bilder mitbringen“, sagte sie dann.
„Ja. Gut, dass Sie uns das sagen. Dann werden wir schauen, dass wir die Bilder bekommen.“
Ich stand auf. Meine Tochter stand auf und griff nach ihrer Krücke . Wir verließen die Praxis und ich setzte mich mit der Radiologie in Verbindung, um den Verbleib der Bilder zu klären.
Einige Tage später musste die Frau, mit der ich de jure verheiratet bin, in dieser Sache alleine zur ambulanten Unfallchirurgie. Sie musste irgendein Rezept abholen oder sowas – keine große Sache. Als sie nach Hause kam, fand sie meine Tochter und mich im Wohnbereich vor. Meine Tochter saß an meinem Schreibtisch und machte irgendwas am Computer. Ich saß am Esstisch und las irgendwas. Wir schwiegen.
„Die in der Unfallklinik sind gar nicht gut auf dich zu sprechen“, eröffnete mir die Frau, mit der ich de jure verheiratet bin, unvermittelt.
Meine Tochter und ich schauten uns fragend an.
„Du musst da wirklich rumgetobt haben“, sagte die Frau, mit der ich de jure verheiratet bin. Sie schaute mich vorwurfsvoll an:
„Die Sprechstundenhilfen da haben alle Angst vor dir“, fuhr sie fort. „Und die eine, mit der du dich da so angelegt hast, will wohl gar nichts mehr mit dir zu tun haben. Nie wieder.“
Meine Tochter und ich schauten uns fragend an.
„Getobt?“ fragte ich dann. „Haben die das gesagt, oder ist das Wort von dir?“
„Nein, das haben die gesagt. Du musst da getobt und gewütet haben.“
„Getobt und gewütet“, sagte ich sinnierend. „[Name der Frau, mit der ich de jure verheiratet bin], du kennst mich mittlerweile seit fast 30 Jahren. Hast du schon mal erlebt, dass ich ‚getobt und gewütet‘ habe?“
„Nein.“
„Hast du in den letzten Jahren auch nur einmal erlebt, dass ich meine Stimme erhoben habe?“
„Nein, aber irgendwas musst du da gemacht haben, denn die haben mir alle das gleiche erzählt.“
„Ja“, sagte ich, „keine Frage.“
Tja. Viele NTs nehmen wahr, was sie wahrnehmen wollen. Und wenn die Wirklichkeit nicht zu der Realität passt, die sie wahrnehmen wollen, dann verfälschen sie eben ihre Wahrnehmung. So wird zwar aus der Wahrnehmung eine Unwahrnehmung, aber diese NTs, von denen ich hier rede, können alles Mögliche ertragen, jedoch nicht, dass sie ihr Weltbild und ihre Wahrnehmung an die Realität anpassen müssen. Deshalb sage ich an dieser Stelle schlicht: So sind wir Autisten eben. - Wir sind nicht nur finster und angsterregend, - nein, wir können auch toben und wüten, wenn uns danach ist. Und uns ist ziemlich oft danach.
Um uns macht man besser einen großen Bogen. Man weiß ja nie.
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NT-Aushalter (Dienstag, 09 Februar 2021 09:47)
Kassenmedizin!
Ja der Kassler (Kassenpatient!) ist stets auch Laufbursche und sogar in Corona-Zeiten muss er extra Formulare von Praxis A zu Praxis B befördern. Aber bitte zu einem anderen separaten Zeitpunkt. Fax, Email, wohl alles Teufelszeugs.
Und dann kommt natürlich noch die NT-Gleichschaltung hinzu, das heißt mehrere NTs sind dann wie die Batterien einer Taschenlampe gleich gepolt und dann gibt es richtig Spannung.
"Getobt", ja geht es noch, aber so etwas kommt dann oft auch zustande durch Weitergabe der Geschichte hintereinander, jeder übertreibt noch etwas beim Weitererzählen.
Widerlich!
Stiller (Dienstag, 09 Februar 2021 10:47)
Das ist ein sehr schöner Satz:
"Und dann kommt natürlich noch die NT-Gleichschaltung hinzu, das heißt mehrere NTs sind dann wie die Batterien einer Taschenlampe gleich gepolt und dann gibt es richtig Spannung."
Dass ich der "Laufbursche" des Gesundheitswesens bin, nehme ich achselzuckend zur Kenntnis. Ist eben so. Meistens erlebe ich das als Beitrag zur sogenannten "Entschleunigung".