23. Dezember 2017

 

Father McKenzie

 

Die kleine Stadt, in der ich seit fast zwei Jahrzehnten wohne, hat viel von einem Dorf: Man kennt einander, man grüßt sich, man begegnet einander immer wieder. Das hat Vorteile, und das hat Nachteile. Aber ich habe für mich festgestellt, dass es mir umso besser geht, je kleiner die Gemeinde ist, in der ich wohne. Eine Gemeinde die mehr als 1.000 Einwohner hat, ist deutlich zu groß für mich. Die kleine Stadt, in der ich wohne, hat deutlich mehr Einwohner. Aber ich bin trotzdem hierhergezogen, weil ich meinen beiden Töchtern nicht zumuten wollte, in der Einöde groß zu werden.

 

Irgendwann werde ich von hier wegziehen und nicht mehr wiederkommen. In ein paar Jahren, aber nicht jetzt …

 

Kürzlich traf ich den hiesigen Pfarrer beim Einkaufen an der Fleischtheke. Er ist ungefähr mein Jahrgang. Wir kennen uns flüchtig. Meine Meinung vom Christentum ist wirklich nicht die beste. Aber als meine Töchter klein waren, haben sie mich immer wieder, wenn es Dezember wurde, in irgendwelche Krippenspiele geschleppt, die in der Kirche aufgeführt wurden. Ich sollte mir das unbedingt anschauen! Und welches kleine Kind könnte stolzer sein als das, das nach wochenlangen Proben als Engel den großen goldenen Stern vor den heiligen drei Königen hertragen darf und sicher ist, dass Papa und Mama im Publikum sitzen, zuschauen und Fotos von ihm machen?

 

Später gingen dann der Sohn des Pfarrers und meine ältere Tochter in dieselbe Jahrgangstufe. Sie verstanden sich gut.

 

Ich traf also den Pfarrer an der Fleischtheke. Er weiß, dass ich nicht zu den Redseligen gehöre. Er sprach mich also nicht an, und ich ließ meine Ohrstöpsel drin. Dann ein kurzer, wortloser Disput, wer von uns beiden an der Reihe wäre. Selbstverständlich hat ein Mann Gottes Vorrang. Mit knappen Gesten deutete ich ihm das an. Dabei musterte ich ihn kurz. Ich hatte ihn jetzt jahrelang nicht mehr gesehen. Irgendwas war anders an ihm. Aber ich wusste nicht, was. Ich konnte die Bilder, die in mir aufstiegen, nicht eindeutig interpretieren. Aber eines war klar: Wenn ich diese Bilder anschaute, hatte ich ein sehr schlechtes Gefühl dabei. Dann wurde er bedient, und ich wurde bedient. Wir nahmen unsere Fleischwaren entgegen und gingen unserer Wege. Er ging nach links. Ich ging nach rechts.

 

Als ich meinen Einkaufswagen zur Kasse schob, sah ich ihn in diesem langen, langen Mittelgang vor mir gehen. Er war mehr als 30 Meter entfernt. Ich zuckte zusammen. So wie er ging, ging sonst niemand – im ganzen Laden nicht. In der ganzen Stadt nicht! Ich hatte noch nie jemanden so gehen sehen. Es waren abgehackte, sehr kurze Schritte. Und bei beinahe jeder Bewegung, die seine Beine machten, schien es, als müsste er innere Widerstände überwinden. Manchmal, wenn eine DVD vom Rechner nicht schnell genug ausgelesen werden kann, kann man in Filmen Menschen sehen, die so ähnlich gehen. Das sah nicht gut aus! Das sah überhaupt nicht gut aus!

 

Ich schob meinen Wagen weiter hinter dem Pfarrer her und schaute mir an, wie er ging. Und plötzlich stiegen Bilder in mir auf. Es waren fast die gleichen Bilder, die ich vorhin an der Fleischtheke gesehen hatte. Es waren uralte Bilder. Ich ging dem nach. Und auf einmal hatte ich es: Diese Bilder waren in mir aufgestiegen, als ich noch ein Student war - in der Uniklinik Düsseldorf. Damals waren uns Patienten vorgestellt worden, die neurologisch erkrankt waren. Diese Bilder passten dazu.

 

Ich argumentierte kurz und intensiv mit mir selber: Sollte ich das ansprechen?

 

Ich fing den Pfarrer kurz vor der Kasse ab:

„Herr Pfarrer …?“ (Ich hatte seinen Namen vergessen. Und selbst jetzt, Tage später, kann ich ihn nicht erinnern).

Er drehte sich überrascht um und gab mir die Hand.

„Schön, Sie zu sehen“, sagte er.

„Herr Pfarrer, ich habe einen Blick für sowas … Ich habe Sie gehen sehen …“

Er schaute mich fragend an.

„Haben Sie Morbus Parkinson? Erstes Stadium?“

„Nicht dass ich wüsste.“

„Ihre Schrittfolge und Ihr Schrittrhythmus sind sehr ungewöhnlich. So wie Sie geht keiner hier.“

„Also ich weiß von nichts.“

„Vielleicht sollten sie das mal untersuchen lassen. Je eher man es weiß, desto mehr kann man machen.“

 

Ich überlegte, ihn noch mit meinem ganzen Fachwissen zuzutexten – Substantia Nigra, dopaminerge Bahnen, L-Dopa etc. etc.. Aber ich sah, dass ich mit dem, was ich da sagte, eh nicht so recht durchdrang. Wie sagt man einem Menschen, der im Supermarkt einkauft, dass man bei ihm beinahe dieselben synästhetischen Bilder sieht, die man vor einem Vierteljahrhundert gesehen hat, als ein Parkinsonpatient auf einem Stuhl saß und seine Lebensgeschichte erzählte?

 

Ich erinnerte mich an ein Gespräch mit dem Personalleiter eines mittelständischen Unternehmens vor vielen Jahren. Der hatte mir einen Schwung Personalakten in die Hand gedrückt, die ich begutachten sollte. Nach wenigen Minuten hatte ich ihn um Rücksprache gebeten:

 

„Kennen Sie diese Frau?“ hatte ich ihn gefragt.

„Ja sicher, das ist Frau [Name]. Die ist Sachbearbeiterin in der Abteilung [Name]. … Warum?“

„Mit der Unterschrift stimmt was nicht.“

Er nahm mir die Akte aus der Hand. Er begutachtete die Unterschrift:

„Wie, was stimmt da nicht?“

„Sehen Sie diese ganz feinen Linien? Und hier … und hier?“

„Ja, was ist damit?“

„Könnte Medikamentenmissbrauch sein. Vielleicht sollten Sie behutsam das Gespräch suchen.“

Genauso wie dieser Personalleiter damals, so schaute mich jetzt der Pfarrer an. Er ging zum Smalltalk über. Ich machte ein paar Sätze mit, und dann verabschiedeten wir uns freundlich.

 

Ich habe keine Ahnung, was der Pfarrer aus der Sache machen wird. Ich beobachte Menschen sehr genau beim Gehen. Ich nehme sehr intensiv ihre Körperspannung wahr und dabei entstehen synästhetische Bilder in mir, die ich interpretieren kann. Aber das kann er nicht wissen. Die Sachbearbeiterin damals war abhängig von dämpfenden Psychopharmaka gewesen. Aber das hatte der Personalleiter nicht wissen können.

 

Vieles, was andere sehen, entgeht mir völlig. Dafür nehme ich oft Dinge wahr, für die andere kein Auge haben. Ich war für kurze Zeit im Zweifel gewesen: Sollte ich ein weiteres Mal aktiv an meinem Ruf als Spinner arbeiten? Aber ich hatte mich dann schnell dafür entschieden, es dem Pfarrer zu sagen. Wenn ich mich irrte, war niemandem geschadet. Und wenn ich Recht haben sollte, könnte es sein Leben um ein paar Jahre verlängern.

 

Alle Autisten, die ich kenne, haben ausgeprägte Spezialinteressen, denen sie intensiv nachgehen. Manchmal folgt aus der jahrelangen, intensiven Beschäftigung mit diesen Themen, dass sie Dinge können, die andere nicht können.

 

 

 

 

16. Dezember 2017

 

Toben und wüten

 

Es ist für mich immer wieder verblüffend, wenn ich Rückmeldung bekomme, wie ich auf NTs wirke, die mich nicht kennen. Bei den meisten scheine ich Angst auszulösen. Ich bin 1.90 Meter groß, etwas über 100 Kilo schwer und eher muskulös als fett. Also eher der Türsteher als die adipöse Couch-Potato. Da ich im Freien fast immer eine tiefdunkle Sonnenbrille trage, mein Gesicht beinahe unbeweglich ist und ich kaum was sage, kann das einschüchternd wirken.

„Finster“ sei ich, bekam ich zu hören.

„Die Leute erschrecken vor dir.“

„Um den macht man lieber einen Bogen.“

 

Tja. Da kann man nichts machen. Da mir fast völlig gleichgültig ist, was die Leute über mich denken, werde ich weder an Mimik noch an Statur etwas ändern, nur um anderen zu gefallen.

 

Aber da kommt noch was hinzu – die NTs erleben ja ganz häufig eine Realität, die nur in ihrem Kopf existiert. Da könnte ich also machen, was ich wollte – wenn sie mich unbedingt als finster erleben wollen, dann werden sie das auch tun. Und davon will ich heute schreiben.

 

Seit vielen, vielen Jahren stattet mich mein Arbeitgeber mit einem Diensthandy aus. Das finde ich sehr freundlich von ihm. Das erspart mir die Kosten für so ein Ding und garantiert gleichzeitig, dass immer jemand für mich greifbar ist, wenn ich mal Schwierigkeiten mit der Technik habe. Ich kann auf berufliche und private Mails zugreifen, wann immer ich das will, habe unbegrenzten Zugang zum Internet, meine ganzen Schachprogramme sind da mittlerweile drauf – alles sehr angenehm also. Und – ach ja – telefonieren kann man damit auch noch. Mach‘ ich aber nur ganz selten. Ich hasse es zu telefonieren. Meinen Arbeitgeber nervt zwar immer wieder tierisch, dass ich telefonisch nicht erreichbar bin und immer nur der Anrufbeantworter anspringt. Meinen (stets wechselnden) Chefs habe ich deshalb immer wieder gesagt, dass ich mich dem „Terror der Erreichbarkeit“ systematisch entziehen würde und dass sie das Handy gerne wiederhaben könnten, wenn es sie so schrecklich nerven würde, dass ich telefonisch nicht erreichbar sei. Bislang hat nie ein Chef Anstalten gemacht, dieses Angebot anzunehmen.

Und so habe ich schon seit Jahren die Vereinbarung mit meinem Arbeitgeber, dass ich an Arbeitstagen mehrmals täglich schaue, ob jemand versucht hat, mich telefonisch zu erreichen und dass ich dann Kontakt mit diesem Menschen aufnehme.

 

Eine meiner beiden Töchter ist amtlich diagnostizierte Asperger-Autistin. Wir haben viel gemeinsam. So auch die Abneigung gegen das Telefonieren. Wenn wir beide alleine zuhause sind, und das Festnetz-Telefon klingelt, schauen wir uns beide kurz an und lassen es klingeln. Die Erfahrung zeigt, dass das auch irgendwann wieder aufhört mit dem Klingeln. Die Erfahrung zeigt weiterhin, dass man mit irgendwelchen NTs reden muss, wenn man ans Telefon geht. Dann schon lieber klingeln lassen.

 

Es ist also ein extrem ernsteres Warnsignal, wenn ich auf mein Handy schaue und dabei feststelle, dass meine Tochter mehrfach versucht hat, mich zu erreichen. Oft ist das dann flankiert von SMS, die ebenfalls in kurzen Abständen reinkamen: „Ey Papa, ruf mal an.“ „Son bisschen dringend.“

Das passiert ungefähr einmal im Jahr.

Einmal war es ein Wasserrohrbruch in der Küche, ein anderes Mal hatte sie eine Mitschülerin, die gerade einen psychotischen Schub hatte.

 

Vor ein paar Jahren, mitten im Winter, war ich mehrere hundert Kilometer von daheim entfernt auf einer Tagung und tief eingeschneit, als ich morgens solche Warnsignale auf meinem Handy fand. (Sie war damals 13 Jahre alt).

Ich rief zurück.

 

Meine Tochter hatte auf dem Weg zur Schule im tiefen Neuschnee den Bordstein verfehlt, war ausgerutscht und hatte sich dabei den Fuß böse umgeknickt. Sie hatte gerade so noch nach Hause humpeln können, aber danach ging bei ihr nichts mehr. Sie hatte rasende Schmerzen. Ich eruierte mit ein paar Fragen den Grad der Schädigung. Offenbar waren mehrere Bänder in ihrem Sprunggelenk gerissen, denn der Fuß war in ziemlich jede Richtung frei drehbar.

„Damit musst du umgehend zum Arzt, Kind. Soll ich einen Notarzt für dich rufen?“

„Nee, will ich nicht. Kannst du nicht kommen und mich zum Arzt bringen?“

„Auf jeden Fall, Kind, aber ich werd‘ ein paar Stunden brauchen, bis ich daheim bin.“

„Kannst du denn dein Zeug da so einfach absagen?“

„Kind, ich werd’s einfach tun. Damit müssen die Leute hier leben. Kind geht vor. Aber wo ist die Mama, vielleicht kann die dich fahren?“

„Die hab‘ ich schon angerufen, die ist in [Name einer Großstadt in der Nähe]. Aber die muss über die verschneiten Berge, wenn sie wieder zurück will, die braucht bestimmt noch länger als du.“

„Machen wir’s so, Kind – ich komm heim, und die Mama kommt heim. Und wer von uns zuerst da ist, fährt dich in die Klinik und der andere kommt dann nach.“

 

So wurde es dann gemacht.

 

Schnee beim Autofahren macht mir nicht viel aus. Und so fuhr ich mit der Geschwindigkeit, die ich verantworten konnte, heim, immer in Gedanken an meine Tochter, die da voller Schmerzen zuhause saß.

 

Zuhause angekommen stellte ich fest, dass ich ganz knapp den zweiten Platz geschafft hatte. Obwohl die Frau, mit der ich de jure verheiratet bin, sich mit dem Auto durch den tiefverschneiten Taunus hatte herquälen müssen, war sie etwas schneller gewesen. Ich fuhr zur ambulanten Unfallchirurgie.

 

Als ich dort ankam, war meine Tochter mit ihrer Mutter bereits im Behandlungszimmer verschwunden. Mir wurde vom Praxispersonal gesagt, ich solle im Wartezimmer Platz nehmen, was ich auch tat. Nur wenige Minuten später ging im Behandlungszimmer die Tür auf und meine Tochter kam herausgehumpelt. Allein. Die Frau, mit der ich de jure verheiratet bin, hatte im Behandlungszimmer noch irgendwas mit dem Arzt zu besprechen. Meine Tochter kam auf mich zu. Sie hüpfte mehr auf einem Bein als dass sie lief. Ich stand auf, ging zu ihr hin und sagte ihr leise:

„Lauf, du Zwerg!“

 

Obwohl ich das sehr spontan sagte, waren die Worte gut gewählt und genau die richtigen für meine Tochter in dieser Situation. Sie grinste über das ganze Gesicht. Ich bin mir heute nicht mehr sicher, ob das Praxispersonal gehört hatte, was ich ihr da gesagt hatte. Aber es ist gut möglich.

 

Für meine Tochter ging das Abenteuer jetzt erst richtig los – Krücken kaufen, auf Krücken durch die Gegend humpeln, lernen, wie man mit Krücken eine Tür öffnet etc., etc.

Ein paar Tage später hatte ich mit ihr einen Termin beim Radiologen in der nahen Großstadt. Der behandelnde Arzt in der ambulanten Unfallchirurgie wollte wissen, ob die Bänder in ihrem Sprunggelenk durchgerissen oder nur gedehnt waren, und in dieser Sache sollte die Durchleuchtung Aufschluss geben. Deshalb waren wir beim Radiologen. Die Leute dort beschlossen, ihr Bein zum Durchleuchten in eine enge und schmale Röhre zu stecken. Das hielten wir (meine Tochter und ich) für eine vergleichsweise schlechte Idee, weil sie dafür ihren Fuß hätte überstrecken müssen. Das Praxispersonal insistierte, ich insistierte, und wie es dann im einzelnen weiter ging, weiß ich heute nicht mehr, aber schlussendlich wurde ihr Fußgelenk auf eine Art und Weise durchleuchtet, die schmerzfrei für sie war. 

 

Damit waren wir in Ehren entlassen und sollten wieder zurück zur ambulanten Unfallchirurgie bei uns in der Kleinstadt, wo meine Tochter zuerst behandelt worden war. Ein paar Tage später kam dieser Termin zustande. Meiner Tochter war wichtig, dass ich mit ins Behandlungszimmer kam, und so saßen wir dort eine Weile schweigend und warteten auf den Arzt. Zehn Minuten oder so passierte nichts. Ich saß da, meine Tochter saß da, wir schwiegen beide, und alles war gut.

 

Dann ging die Tür auf, und anstatt des Arztes kam die Sprechstundenhilfe. Wo die Bilder von der Durchleuchtung seien, wollte sie wissen.

Meine Tochter und ich guckten uns an.

„Die von der Radiologie haben gesagt, dass sie sie Ihnen zuschicken werden“, antwortete ich. „Die müssten schon längst da sein.“

„Nein, das geht nicht“, beschied uns die Sprechstundenhilfe, „die Bilder müssen Sie selbst mitbringen.“

„Ich versichere Ihnen, dass uns in der Radiologie gesagt wurde, dass wir damit nichts zu tun haben, und dass die Radiologie Ihnen diese Bilder schickt.“

„Das stimmt nicht. Die Patienten müssen dafür sorgen, dass wir die Bilder rechtzeitig bekommen, sonst kann der Arzt Ihre Tochter nicht behandeln.“

Die Sprechstundenhilfe wirkte einigermaßen unwirsch auf mich.

„Habe ich das jetzt richtig verstanden“, fragte ich sie, „dass wir als Patienten wissen müssen, wenn Sie sich mit der Radiologie nicht einig sind und dann darauf zu reagieren haben?“

Die Sprechstundenhilfe wirkte verunsichert auf mich.

„Sie als Patienten müssen die Bilder mitbringen“, sagte sie dann.

„Ja. Gut, dass Sie uns das sagen. Dann werden wir schauen, dass wir die Bilder bekommen.“

Ich stand auf. Meine Tochter stand auf und griff nach ihrer Krücke . Wir verließen die Praxis und ich setzte mich mit der Radiologie in Verbindung, um den Verbleib der Bilder zu klären.

 

Einige Tage später musste die Frau, mit der ich de jure verheiratet bin, in dieser Sache alleine zur ambulanten Unfallchirurgie. Sie musste irgendein Rezept abholen oder sowas – keine große Sache. Als sie nach Hause kam, fand sie meine Tochter und mich im Wohnbereich vor. Meine Tochter saß an meinem Schreibtisch und machte irgendwas am Computer. Ich saß am Esstisch und las irgendwas. Wir schwiegen.

 

„Die in der Unfallklinik sind gar nicht gut auf dich zu sprechen“, eröffnete mir die Frau, mit der ich de jure verheiratet bin, unvermittelt.

Meine Tochter und ich schauten uns fragend an.

„Du musst da wirklich rumgetobt haben“, sagte die Frau, mit der ich de jure verheiratet bin. Sie schaute mich vorwurfsvoll an:

„Die Sprechstundenhilfen da haben alle Angst vor dir“, fuhr sie fort. „Und die eine, mit der du dich da so angelegt hast, will wohl gar nichts mehr mit dir zu tun haben. Nie wieder.“

Meine Tochter und ich schauten uns fragend an.

„Getobt?“, fragte ich dann. „Haben die das gesagt, oder ist das Wort von dir?“

„Nein, das haben die gesagt. Du musst da getobt und gewütet haben.“

„Getobt und gewütet“, sagte ich sinnierend. „[Name der Frau, mit der ich de jure verheiratet bin], du kennst mich mittlerweile seit fast 30 Jahren. Hast du schon mal erlebt, dass ich ‚getobt und gewütet‘ habe?“

„Nein.“

„Hast du in den letzten Jahren auch nur einmal erlebt, dass ich meine Stimme erhoben habe?“

„Nein, aber irgendwas musst du da gemacht haben, denn die haben mir alle das gleiche erzählt.“

„Ja“, sagte ich, „keine Frage.“

 

 

Tja. Viele NTs nehmen wahr, was sie wahrnehmen wollen. Und wenn die Wirklichkeit nicht zu der Realität passt, die sie wahrnehmen wollen, dann verfälschen sie eben ihre Wahrnehmung. So wird zwar aus der Wahrnehmung eine Unwahrnehmung, aber diese NTs, von denen ich hier rede, können alles Mögliche ertragen, jedoch nicht, dass sie ihr Weltbild und ihre Wahrnehmung an die Realität anpassen müssen. Deshalb sage ich an dieser Stelle schlicht: So sind wir Autisten eben. - Wir sind nicht nur finster und angsterregend, - nein, wir können auch toben und wüten, wenn uns danach ist. Und uns ist ziemlich oft danach.

 

Um uns macht man besser einen großen Bogen. Man weiß ja nie.

 

 

 

 

26. November 2017

 

Der Autodidakt

 

Siebte Klasse, Gymnasium. Mathematik-Doppelstunde. Klassenarbeit. Ich saß an meinem Platz, die anderen saßen an ihrem. Der Lehrer hatte gerade auf jeden Tisch ein Blatt Papier gelegt, mit der Schrift nach unten, damit alle gleichzeitig anfangen konnten. Jetzt gab er das Signal und wir drehten die Zettel um. Links und rechts von mir begannen die Leute, eifrig loszuschreiben.

 

Ich schrieb nicht. Ich musste mir das erst mal anschauen: Sieben Aufgaben: Fünf reine Rechenaufgaben, zwei Textaufgaben. Der Lehrer sagte irgendwas über diese Aufgaben. Wir schauten auf. Er redete weiter. Ich verstand beinahe nichts – wie üblich. Jahre später, bei der ärztlichen Untersuchung der Bundeswehr sollte sich herausstellen, dass ich nur 50 Prozent des normalen Hörvermögens hatte. Meine leiblichen Eltern hatten mich derart schwer misshandelt, dass meine Trommelfelle mehrfach gerissen waren. Das war nie erkannt, geschweige denn behandelt worden. Es hatte halt niemanden interessiert - meine leiblichen Eltern nicht aber auch sonst niemanden. Und jetzt schaute ich, wie der Lehrer da vorne seinen Mund bewegte. Hier und da verstand ich eine Silbe oder einen Vokal. Den Rest fügte ich durch Lippenlesen hinzu. Wenn Lehrer Bärte trugen oder in Richtung Tafel sprachen, war ich aufgeschmissen. Aber ich kannte es nicht anders.

 

Der Lehrer war fertig mit seiner Ansprache und setzte sich schweigend ans Lehrerpult. Sein Blick glitt prüfend über die Köpfe der Schüler. Die saßen über ihre Aufgaben gebeugt und schrieben schweigend vor sich hin. Ich schaute mir die Aufgaben an: Lauter merkwürdige Zeichen tauchten da auf. Die hatte ich vorher im Unterricht auch schon mal an der Tafel gesehen. Aber wie üblich hatte ich so gut wie nichts begriffen. Dass ich im Unterricht beinahe nichts begriff, war nicht neu für mich. Das war schon immer so gewesen: Wenn Lehrer redeten, war das, was sie sagten, ganz häufig nur ein halbverständlicher Klangbrei für mich. Es gab Lehrer, die verstand ich besser, es gab Lehrer, die verstand ich schlechter. Aber selbst, wenn ich jedes Wort verstehen konnte – dass ich begriff, was diese Leute eigentlich von mir wollten, war ziemlich selten.

 

Die Kommunikation zwischen den Lehrenden und mir stieß also auf gleich zwei fundamentale Barrieren:

 

1

Ich verstand rein akustisch viel zu wenig. (Schwerhörigkeit).

 

2

Auch wenn ich jedes Wort verstand, wurde mir beinahe nie klar, was die Lehrer eigentlich mitteilen wollten. Was sie erzählten war für mich in aller Regel unzusammenhängend und unstrukturiert. Es ergab keinen Sinn.

 

Das, was die Lehrer sagten, prallte also buchstäblich von mir ab. Für mich plapperten sie da einfach irgendwas vor sich hin. Wie alle anderen erwachsenen Menschen auch. Schule war eine sehr öde und triste Pflichtveranstaltung, eine lange, sinnlose Haftstrafe. Um nicht verrückt zu werden, schaltete ich ab und verdämmerte ungezählte Schulstunden in irgendwelchen Tagträumen. Aber so war das eben. Ich kannte es nicht anders.

 

Die Zeichen in der dritten Aufgabe ergaben ein erkennbares Muster. Ich begriff zwar nicht auf Anhieb, wie das funktionierte, aber ich erkannte ein Muster. Und ich wusste: Wo ein Muster ist, da ist die Rettung nicht weit. Den Textaufgaben entnahm ich, dass es in dieser Klassenarbeit um Ungleichungen ging. Im Unterricht hatte ich irgendwas von „größer als“ und „kleiner als“ mitbekommen. Und diese merkwürdigen Winkel hatten damit was zu tun. Ich hatte nie gelernt, wie man diese Zeichen richtig liest, also fing ich jetzt damit an. Nach ungefähr zwanzig Minuten hatte ich durch Raten und Ausprobieren herausgefunden, wie das in der Aufgabe 3 funktionierte. Ich war ziemlich sicher, die richtige Lösung gefunden zu haben. Jetzt suchte ich nach der zweitleichtesten Aufgabe. Dort suchte ich nach dem Muster und versuchte das, was ich mir in Aufgabe 3 beigebracht hatte, anzuwenden.

 

So war das bei Klassenarbeiten: Ich bestaunte den Aufgabenzettel und verbrachte die erste Hälfte der Zeit damit, mir den Stoff der letzten Wochen beizubringen. Das eine oder andere aus dem Unterricht war ja bei mir hängengeblieben. Und aus diesen Bruchstücken ließ sich zusammen mit diesem Aufgabenzettel meistens etwas machen. Die andere Hälfte der Zeit verbrachte ich damit, das, was ich mir beigebracht hatte, zu Papier zu bringen und auf das Beste zu hoffen. Das ging mir in Mathematik so, in Deutsch, in Latein, in Englisch, in Physik und so weiter – in ausnahmslos jedem Fach, in dem Klassenarbeiten oder Tests geschrieben wurden.  

 

Gemessen an den Ergebnissen war ich bis zur zwölften Klasse wirklich kein guter Schüler. Aber ich blieb immerhin nicht sitzen, und das war auch schon mal was.

 

Schule und ich – das ging nicht zusammen. Ich fasste mein Erleben gerne in zwei Sprüchen zusammen:

 

1

Der Lehrer ist der natürliche Feind des Schülers.

 

2

Die Hauptaufgabe des Lehrers ist es, den Schülern die Freude am Fach zu vermiesen.

 

Das meiste, was ich heute weiß, habe ich mir selbst beigebracht. In Englisch zum Beispiel war ich immer grottenschlecht. Ich stand regelmäßig zwischen vier und fünf und habe das Fach abgewählt so schnell ich konnte. Ich verließ die Schule in dem sicheren Bewusstsein, dass ich Englisch einfach nicht konnte.

Heute spreche ich verhandlungssicheres Englisch auf der Ebene C1. Alles selbst beigebracht.

 

Physik war einfach nur furchtbar. Eines der schlimmsten Fächer, die ich je hatte. Ein grauenvolles Fach. Ich verließ die Schule in dem sicheren Bewusstsein, dass ich Physik überhaupt nicht konnte, und dass dieses Fachgebiet der allerletzte Mist war.

Heute gehört die Beschäftigung mit theoretischer Physik zu meinen liebsten Freizeitbeschäftigungen.

 

Den Musikunterricht erlebte ich als Mischung aus militärischem Drill und öffentlicher Demütigung. Gelernt habe ich da buchstäblich nichts. Jedenfalls nichts, was Musik anbelangte. Notenschlüssel, Pausenzeichen, Kontrapunkte – alles hanebüchener Quatsch. Wir sollten da Lieder singen und uns auf beinahe jede nur erdenkliche Art vor den anderen blamieren. Im Lieblingslied des Musiklehrers hieß es unter anderem:

„Didel-dudel-dadel, schrumm, schrumm, schrumm,

Lustig im Kreis herum,

Heißa Kathreinerle, frisch immerzu.“

Das ließ er uns wieder und wieder und immer wieder üben und dann laut vorsingen. Seiner Ansicht nach war das für pubertierende Jugendliche genau das richtige Liedgut. Keine Ahnung, was diesem Mann fehlte. Aber ich konnte mich für sowas nie richtig erwärmen.

Vom ersten Geld, das ich in den Ferien mit Fabrikarbeit verdient hatte, kaufte ich mir eine Gitarre. Ich wollte Rockstar werden - und reich und berühmt. Und dann stand da diese Gitarre in meinem Zimmer und schwieg mich an. Tja – und nun? Ich nahm zwei Stunden Gitarrenunterricht und stellte sofort fest, dass das eine ganz, ganz schlechte Idee gewesen war. Also besorgte ich mir die entsprechenden Bücher und brachte mir das alles selber bei. Das änderte nichts daran, dass ich ein ausgesprochen unmusikalischer Mensch war. Aber ich lernte Noten lesen, Transponieren, Quintenzirkel, Tonika, Dominante und solche Sachen. 

 

Sportunterricht war auch so eine Hölle. Ich bin Asthmatiker. Das wurde in meiner Schulzeit nie erkannt oder gar behandelt. Es interessierte schlicht niemanden. Ich weiß nicht, wie viele schwere Asthmaanfälle ich im Sportunterricht hatte. Wer sowas nicht kennt, dem empfehle ich immer, sich mal einen dicken Strohhalm zu besorgen und ausschließlich durch diesen Strohhalm zu atmen. – So und jetzt geht’s auf zum 1.000 Meter Lauf. (Gerne auch im Freien bei voller Baum- und Grasblüte, das ist ja schließlich besonders gesund – jetzt bitte durch einen deutlich schmaleren Strohhalm atmen!)

Einer meiner Sportlehrer hieß Auwald. Das Gedankengut, das er verbreitete, war politisch eindeutig zu klassifizieren.

„Wehrsportgruppe Auwald zieht wieder ins Manöver!“, sagten wir Schüler dazu. Und dann war es wieder mal so weit: Unteroffizier Auwald ließ antreten. - Meine Lunge tat höllisch weh. Vom Sauerstoffmangel wurden meine Lippen blau. Manchmal dachte ich, dass sogar meine Fingerkuppen blau wurden. Für die, die das nicht kennen – so ein Asthmaanfall dauert! (Und die Todesangst, die man durch solche Erstickungsanfälle bekommt, dauert mindestens genauso lange). Manchmal bekam ich erst viele Stunden später wieder einigermaßen Luft. (Ich bin nicht nur Asthmatiker, ich habe auch deutlich weniger Eisen im Blut als gut wäre. Auch das wurde erst vor ein paar Jahren erkannt und wird seitdem behandelt. Eisen im Blut braucht man – stark vereinfacht gesagt -, damit das Blut den Sauerstoff aus der Lunge in den Körper transportieren kann. Ich bekam also nicht nur deutlich zu wenig Luft. Nein, diese Luft wurde dann auch nicht richtig in den Körper transportiert).

Sportunterricht war, wenn ich dem Erstickungstod nahe war und dafür wüst angeschnauzt wurde. So fügte sich dieser Unterricht nahtlos in das Bild ein, das ich allgemein von der Schule hatte.

 

In keinem Fach habe ich so viele Sechsen geschrieben wie in Mathematik. Zum Glück konnte ich auch dieses Fach in der Oberstufe sehr schnell abwählen.

Ich verließ die Schule mit dem sicheren Bewusstsein, dass Mathematik und ich nicht zusammengingen.

Im Psychologie-Studium stellte ich dann aber relativ schnell fest, dass hier die Mathematik so ziemlich alles durchdrang. Ungefähr 40% des Studiums bestanden aus höherer Mathematik. Im Vordiplom fiel ich mit einer 5,0 in der mündlichen Prüfung zur mathematischen Psychologie glatt durch. Das war einigermaßen bestürzend, denn wenn ich diese Prüfung nicht bestand, konnte ich kein Diplom machen. Ich wollte aber unbedingt Psychologe werden. Also setzte ich mich hin und brachte mir diesen ganzen Quatsch von der Pike auf selbst bei. Das dauerte zwar ein Weilchen, aber es gelang. Ich musste für die Prüfung einen Schwerpunkt in der Mathematik wählen, und ich entschied mich natürlich wieder mal für das Schwierigste, was ich finden konnte – „Neuere Testtheorie und Adaptives Testen“. Ich bestand den zweiten Anlauf mit einer 1,0. Ich hatte auf Nachfrage des Prüfers auch die „Spezifische Unabhängigkeit des Rasch-Modells“ mathematisch herleiten können und war in der Lage gewesen, den Unterschied zwischen Rasch- und Birnbaum-Modellen sowohl graphisch als auch mathematisch darzustellen. Ich hatte mich in diesem Fach also nicht zur Prüfungsbestehmaschine entwickelt, die auswendig gelernte Antworten präsentieren konnte, sondern ich hatte den Stoff tatsächlich auch begriffen. Es war wie immer – wenn ich mir die Sachen selbst beibrachte, dann verstand ich sie auch. Sonst nicht.

 

Deutschunterricht! Auweia! Dreihebige Jamben, Schiller, Goethe, Gedichte, Epik, textimmanente Interpretation, Inhaltsangabe, Gegenstandsbeschreibung, rhetorische Mittel … und was weiß ich. Es war fürchterlich! Mein zweitschlechtestes Fach. Nur in Mathematik schrieb ich noch schlechtere Noten.

Ich verließ die Schule im sicheren Bewusstsein, dass Deutsch nicht so das rechte für mich war.

Im ersten Semester an der Universität wurde in einem groß angelegten Projekt der IQ der Studierenden erhoben. Bei mir kam raus, dass mein sprachlicher IQ bei 154 lag. Mir kamen ernste Zweifel, ob die Rückmeldung, die ich im Deutschunterricht jahrelang von den Lehrern bekommen hatte, tatsächlich richtig war.

 

So ging das mit beinahe jedem Thema, das mir in der Schule nahegebracht worden war. Es hat sehr lange gedauert, bis ich wirklich begriffen und akzeptiert hatte, dass ich bei weitem nicht so dumm und so schlecht war, wie mich die meisten Lehrer in der Mittelstufe hatten sehen wollen. Ich stelle auch heute ganz oft fest, dass ich die Dinge nicht begreifen kann, wenn irgendwer sie mir erklären will. Da bleiben mir selbst die Zusammenhänge fremd, die objektiv gesehen recht einfach sind. Da wirke ich nach außen ziemlich dumm und begriffsstutzig.

 

Auf der anderen Seite habe ich durch Ausprobieren festgestellt, dass es keinen Stoff gibt, der so schwierig ist, dass ich ihn nicht begreifen könnte. Eher im Gegenteil – wenn ich mir die Sachen selber erkläre, dann werden selbst die schwierigsten Thematiken ganz, ganz einfach. Vieles mag hochkomplex sein. Aber beinahe nichts ist kompliziert. Und alles, was hochkomplex ist, lässt sich in ganz einfach zu lernende Einzelteile zerlegen, die sich genauso einfach wieder zusammenbauen lassen. Ein Haus mag komplex sein. Ziegelsteine, Sand und Zement sind es nicht.

 

Ich bin ein sehr, sehr wissbegieriger Mensch. Ich will begreifen. Ich will verstehen. Ich will lernen! Und mein Verstand will beschäftigt sein. Den größten Teil meiner Freizeit verbringe ich damit, Dinge zu lernen oder das Gelernte in der Praxis anzuwenden und auszuprobieren. Meistens bereitet mir nichts so viel Lust und Freude wie die Möglichkeit, etwas zu lernen. Wenn ich was lerne, kriegen die Dinge Struktur. Sie werden buchstäblich be-greif-bar: Ich kann sie greifen.

Aber nie wieder will ich Lehrer haben, wie ich sie in der Mittelstufe und immer wieder auch in der Oberstufe des Gymnasiums erlebte. Nie wieder! Nie wieder werde ich mich solchen sinnentleerten, demütigenden und knechtenden Prozeduren aussetzen. Nie wieder! Dass ich das Zwangssystem Schule verlassen konnte und die Erlaubnis bekam, mir alles selber beizubringen, hat meine Lebensqualität ganz erheblich verbessert.

 

Ich habe zu diesem Thema viele Jahre intensiv recherchiert und lange darüber nachgedacht. Sehr vieles spricht dafür, dass ich eine Persönlichkeit habe, für die unser Schulsystem einfach nicht gedacht ist. Ich gehöre zu denen, die nur sehr schlecht „beschulbar“ sind. Aber ein Schulsystem kann man ändern, eine Persönlichkeit nicht. Heute halte ich Vorträge an Universitäten zu diesem Thema. Ich glaube, wissenschaftlich belegen zu können, dass unser Schulsystem 20 bis 25 Prozent der Schüler aufgrund ihrer Persönlichkeit systematisch von der Teilhabe am sozialen und beruflichen Erfolg ausschließt. Diese 20 bis 25 Prozent der Schüler gelten dann als „schwierig“. Für diese Schüler hat unser Schulsystem eine klare und unmissverständliche Botschaft:

„Du hast die falsche Persönlichkeit! Besorg dir eine andere, oder du kannst sehen, wo du bleibst!“

 

Unser Schulsystem produziert mit Hochdruck Verlierer.

 

Ich habe diese Botschaft damals verstanden und umgesetzt. - Ich habe gesehen, wo ich blieb. Wenn ich heute Wissen abrufe, das ich mir vor 30 oder 40 Jahren selbst beigebracht habe, dann ist das immer noch präsent. Vor ein paar Monaten kam meine jüngere Tochter (15) zu mir. Es war kurz vor Mitternacht. Ich saß noch an meinem Schreibtisch, und sie konnte nicht schlafen.

„Papa“, kam sie fordernd auf mich zu, „wie rechnet man mit Moll?“

„Mit Moll?“, fragte ich sie. „Du meinst, wo da die Halbtonschritte bei Moll und bei harmonisch Moll sind?“

„Nein, dieses Moll, das man in der Chemie braucht.“

„Ach das. Ja, das nennt man Mol. Du willst wissen, wie man mit Mol rechnet?“

„Ja. Erklär‘ mir das.“

Ich nahm Stift und Papier zur Hand und erklärte ihr das. 1983 hatte ich zum letzten Mal auf diese Weise gerechnet. Ich erklärte, und sie verstand auf Anhieb. Wenn ich die Dinge erkläre, dann werden sie verständlich. Es sind nicht die Dinge, die schwer sind, sondern es sind die Lehrer, die die Dinge schwer machen. Das kann ich beweisen.

 

Gestatten – Stiller, Autodidakt.

 

 

 

P.S.

 

Ich hatte in meiner Schullaufbahn so ca. 50 Lehrerinnen und Lehrer.

Ich bedanke mich ausdrücklich bei

 

Angelika F. – Religionslehrerin

Lothar P. – Philosophielehrer

Frau R. – Kunstlehrerin

Herr M. - Chemielehrer

 

Es gibt Lehrerinnen und Lehrer, die den Unterschied ausmachen.

 

 

 

 

 

05. November 2017

Ein langer Weg 03 - Ich bin viele

Meine leiblichen Eltern waren hochtraumatisierte Kriegskinder. Als der zweite Weltkrieg zu Ende ging, waren sie 15 bzw. 14 Jahre alt und hatten viele Dinge gesehen und erlebt, die auch die Seele eines Erwachsenen zerstört hätten: Not, Tod, Heimatlosigkeit, dauerhafte, massive sexuelle Gewalt, lange Phasen der permanenten Todesangst, schwerste körperliche Entbehrungen, Elternlosigkeit – die Liste ließe sich noch lange, lange fortsetzen. Das Klima, in dem sie unabhängig voneinander groß wurden, war eines der puren, sinnlosen, stupiden, allgegenwärtigen Gewalt. Das ging vielen Kindern damals so.

 

Es gibt Menschen, die sagen: „Zeit heilt alle Wunden.“ Ich kann nur für mein Leben sprechen. Aber hier gilt: Die Zeit heilt gar nichts. Auch als der Krieg schon Jahrzehnte vorbei war, ging er in den Herzen meiner leiblichen Eltern weiter. Bis zu ihrem Tod hörte er nicht auf, in ihnen weiterzutoben. Sie sind immer die Kinder geblieben, die sie im Krieg gewesen waren: Verschreckt, verstört, retardiert, brutalisiert, in einer Welt lebend, in der die Gewalt allgegenwärtig ist und buchstäblich alles durchdringt. Ich kann mich nicht erinnern, dass ich meine leiblichen Eltern mal als „erwachsen“ im Wortsinne erlebt habe.

 

Die Gewalt war überall. Auch in der Sprache.

„Ich zwing‘ das nicht!“, sagte mein Vater, wenn er meinte: „Ich schaffe das nicht.“

„Irgendwie – Hauptsache mit Gewalt!“, sagte er, wenn es ihm wieder mal gelungen war, durch rohe Körperkraft irgendeine Aufgabe zu bewältigen.

„Da musst du dich zwingen!“, sagten meine Eltern, wenn uns Kindern irgendwas nicht gelang.

Gewalt war ihre Antwort auf so ziemlich alles.

„Davon stirbt man nicht!“, sagten sie regelmäßig, wenn sie wieder mal ihren Krieg auf uns übertrugen. Nein, davon starb man tatsächlich nicht. Aber das war auch schon alles: Man starb nicht. Jedenfalls nicht sofort.

 

Mein leiblicher Vater war stark tablettenabhängig. Er fraß Tabletten wie andere Bonbons. Vor allem Tabletten, die Angst und Gefühle reduzierten. Das einzige Gefühl, das er noch empfinden konnte, war Wut. Wut war seine Reaktion auf so ziemlich alles. Und da er ein leidenschaftlicher Sadist war, lebte er das auch an seinen Kindern aus. Jeden Tag.

 

Meine leibliche Mutter war nach allem, was ich sehen kann, Autistin. Sie hatte sich als Kind und Jugendliche dadurch gerettet, dass sie alle Gefühle in sich abtötete. Sie fühlte so ziemlich gar nichts mehr. Ich kann mich kaum erinnern, bei ihr mal wirkliche Gefühle gesehen oder erlebt zu haben. Sie war vielleicht keine Sadistin. Aber sie ernährte sich von Angst. Wenn ihre Kinder Angst hatten, dann blühte sie auf. Todesangst war am besten. Dann musste sie die Wüste in ihrem Herzen nicht mehr so stark spüren. Aber auch Angst, alles zu verlieren, verkauft zu werden, verrückt zu werden oder niemals wirklich leben zu können, waren ihr ganz recht. In Sachen Angst war sie eine Kennerin, eine Genießerin. Angst war ihr Grundnahrungsmittel. Sie hing an ihren Kindern wie ein Vampir. Und wir ernährten sie.

 

Und so sah mein Leben denn auch aus, als ich ein Kind war:

Ständige Gewalt. Unentrinnbare Gewalt. Sinnlose, stupide, alles durchdringende, totale Gewalt – nirgendwo konntest du ihr entgehen. Auf keine Weise konntest du ihr entgehen – da konntest du machen, was du wolltest. Andere Kinder atmeten Luft. Meine Geschwister und ich atmeten Gewalt. Jeden Tag. Rund um die Uhr. Andere Kinder kamen nach Hause und fühlten sich da wohl. Wir kamen nach Hause und wurden auf beinahe jede erdenkliche Art, erniedrigt und gequält. Jeden Tag. Tag und Nacht. Es gab bei uns daheim buchstäblich nichts, was alltäglicher gewesen wäre als der blanke, nackte Terror. Die Angst, die uns umgab, durchdrang jede Faser unseres Seins. Wir kannten nichts anderes.

 

So bauten meine leiblichen Eltern für ihre Kinder die Kriegsrealität nach, die sie selbst erlebt und verinnerlicht hatten. Sie waren sehr stolz auf sich.

 

Dass Kinder sowas unbeschadet überstehen, gibt es nur in schnulzigen Filmen und in kitschigen Geschichten. Selbstverständlich wurden die kleinen Kinderseelen von meinen Geschwistern und mir vollständig und restlos zertrümmert. Wir existierten noch. Aber wir lebten nicht mehr. (Stichwort: „Davon stirbt man nicht!“) Wir retteten uns von einem Tag in den nächsten. Jede Nacht war voller Furcht, was die Nacht bringen würde und – noch viel schlimmer! – vor dem, was der neue Tag bringen würde. Und wenn der Tag angebrochen war, galt es, ihn irgendwie zu überstehen. Niemand von uns konnte wissen, welche Form und Intensität der Folter dieser neue Tag für ihn bringen würde. So ist das in Terrorregimen: Du lebst von einem Tag auf den nächsten. Und wenn die Folterer dich erwischt und in ihre Folterkeller verschleppt haben, dann … ja, dann kann jeder Moment dein letzter sein. Dann lebst du von einem Moment zum nächsten. Und die Angst wird zur stärksten und einzigen Macht auf Erden. Es gibt nichts, nichts, nichts mehr auf der Welt außer Angst und Schmerzen. Die Schmerzen füllen dich aus und höhlen dich aus. Irgendwann beginnen Angst und Schmerzen, eigenartige Dinge mit deinem Verstand und deinem Herzen anzustellen.

 

Ich fand einen Weg, mit diesem Terror und diesen Schmerzen umzugehen. Meine Geschwister fanden andere Wege, aber meiner war vermutlich der erfolgreichste:

Ich wurde viele.

 

Wann genau ich das angefangen habe, weiß ich heute nicht mehr. Ich muss etwas über ein Jahr alt gewesen sein, als ich anfing, mich zu zerlegen. Ich merkte, dass ich dem Terror besser gewachsen war, wenn ein Teil von mir ihn erlebte und ein anderer Teil ihn wie von ganz weit weg beobachtete. Wenn meine Eltern mich also verprügelten oder anschrien, hatte das noch den vollen physikalischen Impact: Ich kugelte unter ihren Schlägen durch die Gegend, meine Ohren schmerzten von dem Gebrüll, mein Gesicht brannte fürchterlich unter all diesen Schlägen …

 

… aber ein Teil von mir schaute von außen zu und machte Notizen. Es waren Notizen, um niemals zu vergessen. Ich wurde mein eigener Zeuge. Und so habe ich nur wenig von dem, was mir angetan wurde, vergessen.

 

Das wurde später zur Regel, ja geradezu zum Reflex. So wie die Folter anfing, waren Teile von mir woanders und protokollierten mit. Ich wurde von meinen leiblichen Eltern so hart geschlagen, dass meine Trommelfelle rissen. Ich schrieb das mit. Mein leiblicher Vater drückte meinen Kopf unter Wasser. Ich registrierte das. Mein kleiner Po wurde so übel malträtiert, dass er anschwoll und aussah wie ein Pfirsich. Ich merkte mir das. Mein leiblicher Vater hob mich an den Ohren hoch und trug mich so durch die Gegend. Ich schrieb das auf.

 

Hunderte, tausende, zehntausende Szenen. Und ich zerfiel immer mehr. Ich kannte es nicht anders. Ich wusste keinen anderen Weg. Mein leiblicher Vater baute sich vor mir auf und brüllte mich mit wutverzerrtem Gesicht in einer Höllenlautstärke an. Ich nahm keinen Ton mehr wahr, sondern sah nur noch sein Gesicht wie in einer langen Folge von Standbildern. Ich merkte, dass ich sein Gesicht größer und kleiner werden lassen konnte. Und wenn es gar zu arg wurde, machte ich sein Gesicht ganz klein, so dass es aussah, als würde ich ihn durch ein umgedrehtes Fernrohr betrachten. Ich hörte kein einziges Geräusch mehr und starrte dieses kleine, kleine Gesicht an. Alles war totenstill. Und dann kam aus der Ferne diese riesige Hand auf mich zu und schlug mich ins Gesicht, dass ich umfiel. Dann fiel ich um. Aber es war eigentlich nur ein Wechsel der Perspektive.

 

Schwieriger wurde es, wenn sie irgendwelche Werkzeuge zum Prügeln nahmen – Gürtel, Schuhe, Messer, Bücher, Aktenordner, Spaten – in den Händen meiner leiblichen Eltern konnte alles zu einer tödlichen Waffe werden. Wenn sich irgendwas zum Schlagen eignete, wurde es auch dafür genutzt. Ich wurde mit Papierkörben geschlagen, mit Hosenträgern, mit einem Topf, mit Kleidungsstücken, Handtüchern, Stofftieren, Werkzeug. Hier bestand unmittelbare Lebensgefahr. Ich fand dafür keine Lösung.

 

Meine leiblichen Eltern prügelten und schrien sich durch den Tag. Das war ihre Art, in der Welt zu sein. Und ich zerlegte mich in immer mehr Teile. Sie konnten ein paar von mir erwischen, wenn sie wieder eine Prügelorgie veranstalteten. Aber keinesfalls alle. Mir wurde rasch klar, dass das hier eine Frage von Leben und Tod war. Ich wusste, dass meine leiblichen Eltern mich vernichten wollten und ich es irgendwie schaffen musste zu überleben. Nur so lange, bis ich „groß“ war. Ich wusste, dass sie mir nichts mehr tun konnten, wenn ich erst mal „groß“ war. Und so lange hieß es jeden Tag: Überleben. Und überleben hieß, zu zerfallen. Davon stirbt man nicht.

 

So war ich schon von frühester Kindheit an viele. Und ich wurde immer mehr. Irgendwann fing das an, den Alltag zu beeinträchtigen. Ich kann mich erinnern, dass ich in der sechsten Klasse die Aufgabe hatte, nach der Schule das Klassenbuch zum Lehrerzimmer zu bringen und dort in einen Kasten zu stecken. Ich habe keine Ahnung mehr, wie ich zu dieser Aufgabe kam. Aber sie galt als ehrenvoll und ich erfüllte sie gewissenhaft.

 

Aber eines Tages war das Klassenbuch nicht mehr aufzufinden. Und ich wurde gefragt, wo es geblieben sei. Natürlich gab ich die ehrliche Auskunft, dass ich es nach dem Ende der letzten Schulstunde in diesen Kasten gesteckt hatte. Der Kasten wurde nochmal durchsucht – da war es nicht. Wo war es also? Woher sollte ich das wissen? Ich hatte es in den Kasten gesteckt, und damit endete meine Verantwortung.

 

Aber dass ein Klassenbuch verschwand, das war wirklich eine ernste Sache. Der gesamte Lehrkörper nahm das sehr, sehr wichtig. Das konnte man nicht einfach so hinnehmen. Die gesamte Schulbehörde schien alarmiert zu sein. Jetzt fingen intensive Nachforschungen an, die viele Tage dauerten. Immer wieder wurde ich in dieser Sache befragt. Immer wieder schilderte ich, was ich mit dem Klassenbuch gemacht hatte.

 

Und dann kam ich in ernste Schwierigkeiten:

Es stellte sich heraus, dass Schüler einer anderen Schule mich gesehen hatten. Sie hatten mich dabei beobachtet, wie ich mit dem Klassenbuch das Schulgebäude verlassen hatte. Ich war damit in den Müllraum im Keller der Schule gegangen und hatte es dort in einem Müllcontainer verschwinden lassen. So jedenfalls die unabhängigen Zeugenaussagen. Mindestens drei Schüler anderer Schulen hatten auf Befragen diese Aussagen gemacht. Mein Klassenlehrer meinte es gut mit mir. Er nahm mich beiseite:

„Du bist schwer belastet worden“, eröffnete er mir. Und er bat mich eindringlich, dass ich sagen sollte, was ich mit dem Klassenbuch gemacht hatte. Ich blieb bei meiner Version, denn es war ja die Wahrheit.

 

Also kam es zu einer Gegenüberstellung. Die Schüler, die mich gesehen hatten, wurden hereingebeten. Sie sollten mich identifizieren. Das fiel ihnen leicht. Dann erzählten sie, was sie gesehen hatten.

Ich fiel aus allen Wolken: Diese Zeugen waren absolut glaubwürdig. Auch für mich. Also hatte ich das Klassenbuch verschwinden lassen. Aber ich hatte absolut keine Erinnerung daran. Es war als hätte ein anderer Teil von mir die komplette Steuerung von Körper und Bewusstsein übernommen. Ich hatte eine ganz deutliche Erinnerungslücke:

Ich konnte mich daran erinnern, wie ich den Kasten öffnete, in dem die Klassenbücher aufbewahrt wurden. Dann erinnerte ich nichts mehr bis zu dem Zeitpunkt, an dem ich den Müllraum verlassen hatte und nach Hause ging.

 

Solche frappierenden Erinnerungslücken kamen in meinem Leben nicht häufig vor, aber sie kamen vor. Ein paar Stunden sind aus meinem Leben verschwunden als wären sie in irgendein schwarzes Loch geraten. Bis heute weiß ich nicht, was ich in diesen Stunden getan habe.

 

Später kamen dann die Halluzinationen. Das war so ein ganz eigenes Kapitel. Das fing erst an, als ich Jugendlicher war. Ich entwickelte ein intensives Gefühl dafür, wie gefährdet meine gesamte Existenz war.

 

Und dann fing ich mit dieser Psychotherapie an. Ich erinnere es noch wie heute, dass ich meinem Therapeuten mal so richtig erzählen wollte, was ich als Kind alles erlebt hatte. Ich fing an, ihm Szenen zu schildern, die ich als kleines Kind mitgeschrieben hatte. Er unterbrach mich schon nach ganz wenigen Worten:

„Und was fühlst du dabei?“, wollte er wissen.

Ich hielt inne und schaute ihn völlig verblüfft an. Ich dachte nur:

„Was ist denn das für eine abstruse Frage ?!!“

Aber mir wurde deutlich, dass ich buchstäblich nichts dabei fühlte. Gar nichts. Es war als seien die Gefühle, die zu dieser Szene gehörten, in irgendeiner anderen Dimension gelagert, die mir nicht zugänglich war.

Mein Therapeut war ein sehr energischer und erfahrener Mann. Er ließ sich nicht abwimmeln:

„Und was fühlst du dabei?“

Und so begann ich zu fühlen. Zuerst sehr holpernd und stockend. Aber allmählich – so nach und nach und über viele, viele Jahre – wurden diese versteinerten Gefühle wieder flüssig und lebendig.

 

Es gibt Dinge, die angenehmer sind.

Aber so beginnt Heilung.

 

Auch heute noch bin ich viele. Sehr, sehr viele. Ich kann das nur grob schätzen, aber vermutlich bin ich beinahe tausend. Immer, wenn ich einen Teil von mir finde, wird der nach einem bestimmten ritualisierten Verfahren aufgenommen und integriert. Und dann ist er da und wuselt da in dem Garten rum, den wir in uns angelegt haben. Ein riesiger Garten …

 

Ich habe schon frühzeitig in der Therapie aufgegeben, einer werden zu wollen. Das hat nie funktioniert. Aber ich kann prima damit leben, dass ich viele bin. Das eröffnet mir sehr viele Möglichkeiten, die anderen, die tatsächlich nur einer sind, immer verschlossen sein werden. So kann ich zum Beispiel Tag und Nacht über Dinge nachdenken. Ich kann dabei Problemstellungen auf mindestens fünf Ebenen gleichzeitig analysieren. Und so weiter.

 

Es gibt Teile von mir, die ganz außergewöhnliche Fähigkeiten haben. Diese Fähigkeiten betreffen sowohl Wahrnehmung als auch Interpretation dieser Wahrnehmung. Ich nehme Dinge wahr, die andere ganz offenbar nicht wahrnehmen können und kann diese Wahrnehmung nutzen, um Probleme zu lösen, an denen andere scheitern.

 

Und vieles mehr.

 

Ich habe den Teilen in mir eine einzige Bedingung gestellt:

Ich habe die Oberhoheit über das Ganze. Ich vertrete uns nach außen. Niemand sonst darf das. Und ich bestimme, was von dem, was in mir ist, handlungswirksam wird und was nicht. Das wurde nach vielen Jahren des intensiven Ringens akzeptiert. Die Kleinen in mir nennen mich seit einigen Jahren respektvoll den „Meister“, weil sie mit meiner Herrschaft so zufrieden sind. Umgekehrt bin ich jedem Teil in mir jederzeit auskunftspflichtig und kann jederzeit vor ein Parlament in mir zitiert werden, wo ich Rede und Antwort stehen muss.

 

Einige Teile in mir haben den Status einer „teilautonomen Struktur“ bekommen. Höher kann man bei mir nicht aufsteigen. Was diese Teile tun, entzieht sich weitgehend meinem Bewusstsein. Aber nach intensiver Absprache habe ich das akzeptiert, denn das, was diese Strukturen tun, wirkt nur nach innen und wird nicht handlungswirksam.

 

Ich entscheide. Aber die Kleinen in mir bestimmen darüber, ob wir Lust am Leben haben oder nicht. Sie steuern die Energiezufuhr – habe ich Energie oder nicht? Sie bestimmen Art, Richtung und Färbung unseres Lebens. Und deshalb grinse ich häufig, wenn ich gebeten werde, mich vorzustellen:

„Gestatten, Stiller.“

Das ist ziemlich gelogen. Aber wie sollte ich jemandem das bei der Begrüßung erklären?

Ich bin Stiller, klar. Aber ich bin nur der Regent und der Außenminister eines ziemlich großen Haufens kichernder und lebenslustiger kleiner Strolche. Und dann gibt’s da noch die weniger agilen, die verträumten, die verspielten, die kreativen (auf meinen Einfallsreichtum kann ich mich immer verlassen), die nachdenklichen, die neugierigen und wissensdurstigen und – ach du liebe Güte … in diesem riesigen Garten, der in mir ist, gibt es so ziemlich alles.

 

Ich bin unter anderem deshalb so schweigsam, weil ich den ganzen Tag in Kontakt mit meinen Kleinen bin. Von morgens bis abends (und oft auch nachts) sind wir zusammen. Jede Sekunde. Ohne jede Unterbrechung. Dass ich mal nicht in Kontakt mit meinen Kleinen bin, kommt beinahe nie vor. Und wenn wir uns besprechen, dann können diese Gespräche sehr, sehr lange dauern. Da schweige ich dann nach außen.

 

Ich wirke nach außen oft sehr einsilbig und regelrecht farblos. Aber in mir geht es richtig zur Sache, das kann ich euch versichern. In mir ist es farbig. Und wie! Und in mir finden so ziemlich alle Begegnungen gleichzeitig statt, die man sich nur denken kann. Manchmal sind wir auch alle zusammen für lange Zeiträume einfach still. Wir sind dann sehr intensiv zusammen und einfach nur da und einfach still. Das kann geradezu paradiesisch sein.

 

Also: Für die, für die ich mich habe verständlich ausdrücken können:

Gestatten, Stiller. Ich bin viele.

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22. Oktober 2017

Monk

Die Frau, mit der ich de jure verheiratet bin, hat sich früher immer wieder darüber aufgeregt. Seitdem schweige ich in der Regel.

 

Worum geht’s?

 

Es geht darum, dass ich manche Dinge wahrnehme und registriere, an denen andere vielleicht unachtsam vorüberlaufen. Natürlich nehme ich das meiste, was ich wahrnehmen könnte, nicht wahr – so wie jeder andere Mensch auch. Natürlich vergesse ich das allermeiste, was ich wahrnehme, sofort wieder – so wie jeder andere Mensch auch. Aber oft habe ich einen Blick für Muster, den andere offenbar nicht so haben.

 

Bevor ich das unterband, schilderte mir die Frau, mit der ich de jure verheiratet bin, an jedem Abend, wenn ich von der Arbeit nach Hause kam (und sie noch wach war), was alles an diesem Tag in ihrem Leben passiert war.

Das fing meist an, wenn ich die Wohnungstür noch in der Hand hatte:

„Michelle (Freundin unserer jüngeren Tochter) war heute ganz lange zu Besuch.“

„Ja (Seufzer), ich weiß.“

Ich habe zahlreiche Rituale, die in einer bestimmten Reihenfolge ablaufen müssen, wenn ich nach Hause komme. – Schlüssel in einer ganz bestimmten Art und Weise aufhängen, Mütze in einer ganz bestimmten Art und Weise weglegen etc. Wenn ich diese Rituale nicht durchführen kann, fehlt etwas Wichtiges in meinem Leben. Meine Frau ist das ziemliche Gegenteil eines ordentlichen Menschen. In unserer Wohnung sieht es sehr, sehr wüst aus (auch nach den Maßstäben nichtautistischer Menschen). Umso mehr bin ich auf das stringente Einhalten meiner Rituale angewiesen.

 

Nachdem ich Schlüssel und Mütze abgelegt habe, gehe ich dann immer die paar Schritte zu meinem Schreibtisch, um dort die restlichen Sachen abzulegen (Brille, Gürteltasche etc.). Alles folgt einem bestimmten Muster. Die ganze Zeit wurde ich dabei von der Frau, mit der ich de jure verheiratet bin, begleitet und eifrig vollgeschnattert:

„Und dann bin ich mit [Name unserer älteren Tochter] bei der Apotheke gewesen.“

„Ja (Seufzer), ich weiß.“

Wenn ich mit den Ritualen am Schreibtisch fertig bin, gehe ich zurück zur Diele und hänge meine Jacke auf. Dann geht es wieder zurück zum Schreibtisch. Dort sichte ich meine Post (wenn ich welche bekommen habe) und suche nach sonstigen Neuigkeiten. Manchmal legt mir die Frau, mit der ich de jure verheiratet bin, dort Zettel hin, manchmal finde ich Hinterlassenschaften meiner Töchter. Bis ich das unterband, wurde ich bei diesen Ritualen weiter zugetextet, ohne Punkt und Komma.

„Und dann waren wir im Garten und ich habe es endlich geschafft, mein Kartoffelbeet anzufangen.“

„Ja, ich weiß.“

 

Irgendwann merkte die Frau, mit der ich de jure verheiratet bin, dass irgendwas nicht so lief, wie sie sich das gedacht hatte.

„Woher weißt du das alles schon wieder?“, wollte sie dann wissen. „Hat eines der Kinder mit dir telefoniert?“

„Nein, [Name der Frau, mit der ich de jure verheiratet bin], niemand von euch hat heute mit mir telefoniert.“

Mittlerweile war ich bei den Ritualen angelangt, die bei mir immer das Abendessen einleiten:

Ich nehme immer dasselbe Besteck, lege es immer in der gleichen Reihenfolge an immer dieselbe Stelle etc., etc.

Die Frau, mit der ich de jure verheiratet bin, insistierte:

„Hat dir es sonst jemand erzählt?“

„(Seufzer) Nein, [Name der Frau, mit der ich de jure verheiratet bin], niemand hat mir das erzählt. Ich habe den ganzen Tag gearbeitet und sonst nichts anderes gemacht, heute.“

„Dann kannst du das gar nicht wissen

„Doch, das kann ich. Darf ich jetzt essen?“

 

Ich stand gerade am geöffneten Kühlschrank und schaute hinein. Selbstverständlich folgt auch die Auswahl und die Reihenfolge der Speisen den immer selben Ritualen. Wenn ich z.B. gerade in meiner „Cornflakes mit Milch“-Phase bin (sowas kann Wochen dauern), dann folgt jetzt der Griff zur Milch (immer mit der linken Hand), und danach geht’s rüber zum Gewürzregal, wo ich zur Süßstoffflasche greife (immer mit der rechten Hand).

 

Die Frau, mit der ich de jure verheiratet bin, ist nicht nur deutlich kommunikativer als ich, sie neigt auch dazu, Recht zu haben und Dinge nicht undiskutiert im Raum stehen zu lassen. Ich saß mittlerweile am Esstisch und ordnete die Sachen, die ich dort vorfand.

Sie stellte sich neben mich, stemmte die Arme in die Seiten und sagte:

„Dann sag‘ mir doch mal, woher du alles weißt, wenn es dir niemand gesagt hat und du auch sonst keine Spione hier hast. Du kannst das nämlich gar nicht wissen. Du sagst das nur, damit ich endlich still bin.“

„Wenn ich es dir sage – darf ich dann essen?“

„Ja, natürlich.“

„Ich meine so richtig essen – ohne, dass du mir laufend was erzählst oder mich was fragst?“

„Nun tu‘ nicht so …“

„[Name der Frau, mit der ich de jure verheiratet bin], ich bin sehr, sehr müde. Lässt du mich bitte in Ruhe, wenn ich dir gesagt habe, woher ich das alles weiß?“

„Ja, sicher. Aber du kannst das alles gar nicht wissen, weil du nämlich nicht hier warst …“

„[Name der Frau, mit der ich de jure verheiratet bin], willst du es nun hören oder nicht?“

 

Die Frau, mit der ich de jure verheiratet bin, nahm sich einen Stuhl und setzte sich seitlich vor mich. Sie liebt Verhöre. Sie mag es, mit ihrem brillanten Verstand nach Widersprüchen und Auslassungen in meinen Aussagen zu fahnden und mich mit schonungsloser Offenheit darauf aufmerksam zu machen.

„Ja“, sagte sie, „dann lass‘ ich dich in Ruhe. (Pause). Jetzt bin ich aber mal gespannt.“

 

„Also – als erstes sagtest du mir, dass Michelle (Freundin unserer jüngeren Tochter) da gewesen ist. Du hast gesagt, dass sie ganz lange da war. Ich vermute, dass sie erst am Nachmittag oder frühen Abend wieder gegangen ist.“

„Ja, die war bis ca. 16 Uhr hier. Zuerst haben die ganz lange Bauernhof gespielt, und dann haben sie zusammen irgendwelche Bilder gemalt. Und Michelle wollte immer noch mehr Rotstifte von mir und ich wusste gar nicht, wo ich noch welche hernehmen sollte. Ich hab‘ dann [Name unserer älteren Tochter] gefragt, aber die wollte natürlich keine rausrücken. … Das kann ich verstehen, das hätte ich an ihrer Stelle auch nicht gemacht.  … Aber sag‘ mal, du wolltest mir doch erzählen, woher du das weißt.“

„Nun, die Schuhe von [Name unserer jüngeren Tochter] standen heute früh, als ich zur Arbeit ging, links von der Tür. Sie standen dort akkurat aufgereiht, so wie das so ihre Art ist. Als ich heute Abend zurück kam, standen sie immer noch so da, aber jetzt war da eine Lücke, in die exakt ein weiteres Paar Kinderschuhe passte. Das konnte nur bedeuten, dass [Name unserer jüngeren Tochter] die Wohnung verlassen hat, dass sie dann mit jemandem wiederkam, und dass dieser Jemand seine Schuhe genau neben ihre gestellt hat. [Name unserer jüngeren Tochter] hat dann ihre Schuhe einfach daneben gestellt. Dann hat dieser Jemand die Wohnung verlassen und [Name unserer jüngeren Tochter] ist hiergeblieben. Nur so ist diese Lücke zu erklären. Und Michelle ist die einzige Person in ihrem Leben, bei der sowas im Moment vorstellbar ist.“

 

Die Frau, mit der ich de jure verheiratet bin, war sprachlos. Dann fing sie sich:

„Und das hast du alles beim Reinkommen gesehen?“

„Das habe ich alles beim Reinkommen gesehen.“

„Und dass ich mit [Name unserer älteren Tochter] in der Apotheke war?“

 

„Neben der Mikrowelle liegen drei Medikamentenschachteln auf einem Stapel. Die lagen heute früh noch nicht da. Die untere ist oft benutzt worden und vermutlich beinahe leer. Die beiden anderen sind neu.“

„Aber ich hätte auch alleine bei der Apotheke sein können.“

„Dann wären die Schachteln jetzt im Schrank und nicht vor der Mikrowelle. Offenbar hat [Name unserer älteren Tochter] sie nochmal ansehen wollen.“

„Ich hätte auch mit [Name unserer jüngeren Tochter] bei der Apotheke gewesen sein können.“

„Nein, die Schachteln sind nicht der Größe nach geordnet, und sie sind nicht akkurat, sondern eher zufällig dahin gelegt worden. Das hätte [Name unserer jüngeren Tochter] nie so gemacht.“

„Und das hast du alles gesehen, als du auf dem Weg zum Schreibtisch an der Küche vorbei gelaufen bist?“

„Ja.“

 

„Und dass ich heute mit [Name unserer älteren Tochter] im Garten war?“

„An ihren Schuhen ist ein brauner Rand, der heute früh noch nicht da war. So sehen die nicht aus, wenn sie normalerweise vom Spielen zurückkommt. Der Schrank, in dem deine Arbeitshandschuhe liegen, war heute früh zu, jetzt ist er einen Spalt offen. Die Schranktür ist nicht ganz geschlossen, weil der Daumen eines deiner Handschuhe die Tür verklemmt. Deshalb nehme ich an, dass ihr heute früh mit dem Kartoffelbeet zugange wart, von dem schon so lange die Rede ist. … Kann ich jetzt essen?“

 

Solche Szenen gab es häufiger. Die Frau, mit der ich de jure verheiratet bin, war immer wieder ziemlich ungehalten:

„Du sollst das nicht immer alles schon wissen – ich will es dir doch erzählen!“

„Aber wenn ich es doch schon weiß?“

„Ich will es aber erzählen!“

„Na schön, dann sage ich halt nicht mehr, was ich weiß.“

Damit war die Frau, mit der ich de jure verheiratet bin, zufrieden.

 

Heute lebe ich diese Art, die Dinge zu sehen, vor allem bei der Arbeit aus. Manchmal mache ich mir einen Spaß daraus, wie weiland Sherlock Holmes Kollegen, Coachees oder Seminarteilnehmer mit Schlussfolgerungen zu verblüffen, die sich aus meinen Beobachtungen ergeben. Aber meistens mache ich das ohne jeden Showeffekt: Ich sehe etwas, daraus schlussfolgere ich etwas, und diese Schlussfolgerung stelle ich zur Diskussion:

„Deine Schrift wird von Stunde zu Stunde akkurater …“

„In diesen drei Tagen habe ich nur vier Wortmeldungen von dir gezählt. Drei davon betrafen das Thema …“

„Die Jalousie in deinem Büro sind sonst immer ein paar Handbreit heruntergelassen. Jetzt sind sie ganz oben. Die Fenster sind aber nicht frisch geputzt und auch die Blumen stehen an der gleichen Stelle wie sonst auf dem Fensterbrett …“

„Du benutzt dein Lineal mal mit der linken, mal mit der rechten Hand …“

 

„Monk!“, rief irgendwann jemand in einem Seminar, „Stiller, du bist wie Monk!“

Monk ist das englische Wort für Mönch. Ich nahm an, dass es sich hier um eine Anspielung auf mein lichter werdendes Haupthaar handelte. Auf meinem Kopf sieht es allmählich tatsächlich aus wie eine Tonsur. Trotzdem begriff ich nicht ganz ...

„Monk!“, fielen die anderen eifrig ein, „Monk!“ Anscheinend waren sie sich ziemlich einig. Das schloss aus, dass in diesem Fall Monk das englische Wort für Mönch war. Es musste sich um irgendwas anderes handeln. Vermutlich irgendwas aus dem Fernsehn.

 

Ich erinnerte mich an meine Anfangszeit als Trainer. Immer wieder hatte irgendwer im Seminar plötzlich gerufen:

„Dafür gibt es drei Länderpunkte!“

Die anderen hatten dann meistens zugestimmt.

Und ich konnte mir beim besten Willen keinen Reim darauf machen, bis mir jemand erklärte, dass das irgendwas aus einer angesagten Spielshow war.

 

Hier war es diesmal tatsächlich genauso:

Monk ist irgendein Fernsehdetektiv, den wohl auszeichnet, dass er reichlich seltsam ist und über eine ungewöhnliche Beobachtungsgabe verfügt. Ich habe keine Ahnung, wer das ist. Aber inzwischen haben mir so viele Menschen zu ganz unterschiedlichen Zeitpunkten diesen Vergleich nahe gelegt, dass ich diesen Begriff manchmal nutze, um Leuten mit wenigen Worten was zu erklären. So zum Beispiel letzte Woche bei meinem Hausarzt:

 

„Wissen Sie, wer Monk ist?“, fragte ich ihn. (Leider wusste er es nicht, und ich musste ein paar weitere Worte der Erklärung nachlegen, um ihn auf das vorzubereiten, was ich loswerden wollte):

„Rechts neben ihnen liegt eine Medikamentenschachtel. Da sind Tranquilizer drin. Diese Packung ist sehr oft geöffnet und geschlossen worden. Muss ich mir Sorgen um Sie machen?“

 

Ich bin nicht Monk. Ich bin Stiller. Und anders als Monk nehme ich sehr, sehr vieles nicht wahr. Aber wenn ich aufmerksam wahrnehme, bilden sich in mir automatisch Muster. Und diese Muster kann ich in aller Regel interpretieren oder zumindest Hypothesen bzw. Fragestellungen aus ihnen ableiten. Das scheint etwas zu sein, was den meisten NTs in dieser Form eher fremd ist.

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Kommentare: 3
  • #1

    NeoSilver (Sonntag, 22 Oktober 2017 16:56)

    Hallo Stiller,

    mir wurde ein mal beschrieben, dass dies Achtsamkeit genannt wird.
    In diesem Beispiel, ging es um eine psychologische Therapie von Zwangsstörungen, bei denen Patienten den Akt, also die Ausführung des Zwanges nicht mehr wahrnehmen und dies durch Achtsamkeit wieder erlernen sollen.

    Ich vermute, dass ich achtsamer in Situationen bin, welche mit meinen Interessen und Ritualen zu tun haben, habe aber auch schon feststellen müssen, dass meine Wahrnehmung anders ist, als jene meiner mich umgebenen Menschen.

    Aber ich möchte dich etwas zu deinen Ritualen, bzw. Ritualen im allgemeinen fragen.
    Rituale sind für viele Menschen wichtig und vermutlich für Autisten noch wichtiger, um die verbrauchte Energie-Ausgabe etwas zu reduzieren.

    Denkst du, dass sie den Energieverbrauch auch erhöhen können, weil die ausführende Person, bei Unterbrechungen oder Änderungen, in verschiedenen Situationen zu unflexibel ist?
    Sind sie dadurch nicht auch sehr zwiespältig zu betrachten und sollten auf die Logik bezogen, überprüft werden?

  • #2

    Stiller (Mittwoch, 01 November 2017 09:28)

    Hallo NeoSilver,

    ich bin nich sicher, ob ich deine Fragestellung richtig verstanden habe.

    a) Rituale erhöhen bei mir den Energieverbrauch nicht. Aber die Unterbrechung von Ritualen kann den Energieverbrauch enorm erhöhen.
    b) Rituale an sich sind weder logisch noch unlogisch. Aussagen sind logisch oder unlogisch. Deshalb können Rituale nicht "auf die Logik bezogen" überprüft werden.

    Ich vermute, dass deine Frage so zu übersetzen ist:
    Kann es sinnvoll sein zu überprüfen, ob es sinnvoll ist, bestimmte Rituale beizubehalten? (Speziell vor dem Hintergrund, dass eine Unterbrechung dieser Rituale so viel Energie kosten kann).
    Meine Antwort:
    Ja, das kann sinnvoll sein.

  • #3

    NeoSilver (Mittwoch, 01 November 2017)

    Du hast es gut entschlüsselt, denn genau das wollte ich aussagen.

    Ich habe mich auch verschrieben, "verbrauchte Energie-Ausgabe" ist natürlich unsinnig und sollte nur "Energie-Ausgabe" bedeuten.
    Damit meinte ich, das Rituale dafür sorgen können, das in verschiedenen Situationen effizienter mit der Energie umgegangen werden kann.

    Als ich dies nun aber schrieb fiel mir etwas auf, was ich dich noch fragen möchte. Allerdings fällt es mir nun im schon dritten Anlauf, schwer dies in gut verständliche Sätze zu formulieren.

    Tatsächlich benutzte ich Rituale mehr dazu, verbrauchte Energie zu regenerieren als tatsächlich der Effektivität zu dienen.

    Wie ist es bei dir, warum hast du Rituale?
    Denkst du, dass du mehr Rituale hast, als andere Menschen?

    Ist der "Aufbau" des Rituals ebenso wichtig für die Energie-Regeneration oder nur ein Mittel, ein Trigger um sie einzuleiten?
    Fängt die Wirkung des Rituals bei dir direkt bei der ersten Aktion, also dem Schlüssel aufhängen, an oder tritt der Effekt erst später ein?

    Wenn du unterbrochen werden solltest, vollendest du das Ritual dann zeitversetzt oder brichst du es ab?
    Musst du es dann vom neuen beginnen oder reicht ein nahtloser Ansatz an die letzte Aktion?

15. Oktober 2017

Bunte Welt – die anderen AS und ich 01

Faszinierend!

 

Manchmal klicke ich mich interessehalber durch das, was andere AS im Netz veröffentlichen. Für mich ist das ein bunter Marktplatz an Meinungen, Möglichkeiten, Ideen, Gedanken und Selbstauskünften. Mit der Betonung auf bunt.

 

Aber ich bin nicht nur AS und hypersensibel. Ich bin auch Synästhet. Und die Welt, die in mir ist, die ist ziemlich bunt. Jeder Gedanke, jedes Gefühl, jede Wahrnehmung löst optische Eindrücke in mir aus. Diese optischen Eindrücke haben mit der objektiv wahrnehmbaren Welt nichts zu tun. Manche Gedanken sind malvenfarben. Der Geschmack von Zwiebeln kann intensiv silbern sein. Viele meiner Gefühle und Ahnungen kreieren filigrane dreidimensionale Figuren in mir. Natürlich sind auch diese Figuren farbig.

 

Und dann gibt’s da diese Welt im Internet mit ihren vielen bunten Bildern. In aller Regel passen die Farben und Bilder, die ich dort wahrnehme, überhaupt nicht zu den Bildern, die gerade in mir sind. Was ich im Internet finde, ist beinahe immer viel zu intensiv und viel zu farbig für mich. – Geradezu erdrückend. Das ist oft beinahe so, als würde ich irgendwo auf der Wiese sitzen und konzentriert dem Wind zuhören und auf einmal dröhnt ohne jede Vorwarnung direkt neben mir ein Lautsprecher mit Rapmusik los.

 

Ich stehe also jedes Mal unter einer gewissen Spannung, wenn ich dem Link zu einem AS-Blog folge. Und fast immer sind da diese Bilder. Manchmal kann man sie wegscrollen, manchmal nicht. Dann behelfe ich mir damit, dass ich den Bereich des Bildschirms, der so farbig ist, mit einem Buch oder dergleichen abdecke, damit ich in Ruhe lesen kann.

 

Schon allein, dass da auf Facebook diese unzähligen kleinen Fotos und Bilder sind, mit denen die Nutzer ihrem Namen ein Gesicht geben … tut mir leid – zu viel für mich. Geht nicht. Will ich nicht. Ich entwickle bei Facebook ziemlich schnell Symptome, die an Seekrankheit erinnern. Aber dann diese gehäuften Großaufnahmen von Wassertropfen, Vögeln, Schmetterlingen, Blumen etc. etc. – tut mir leid: Ich bin raus. Ich kann mir das nicht anschauen. Ich verkrafte das nicht.

 

In der Wohnung, in der ich lebe, gibt es einen kleinen Bereich, in dem ich die Hoheit darüber habe, wie es dort aussieht. Dort hängt nur Tapete an der Wand. Sonst nichts. Kein Foto, kein Zettel, kein Kunstwerk, kein Symbol – nichts. Und diese Tapete ist beinahe weiß gestrichen. Nur so eine Ahnung von Gelb ist dabei. So ist es genau richtig für mich.

 

Für mich ist es faszinierend, wie unterschiedlich wir in der Welt sind, obwohl wir alle Autisten sind. Diese Bilder in den Posts tauchen da ja nicht zufällig oder gezwungenermaßen auf, sondern aus freien Stücken. Ich mutmaße, dass die AS diese Bilder posten, weil sie sie schön finden und ihr Anblick für sie angenehm ist. Für mich sind sie immer wieder geeignet, intensive Alpträume auszulösen.

 

Ich nehme im Umkehrschluss an, dass die optische Gestaltung meines Blogs für viele Leser öde, leer, langweilig, stumpf und verloren wirkt.

Jedenfalls bekomme ich vergleichbare Rückmeldungen, wenn Kollegen zufällig sehen, welches Farbschema ich auf dem Laptop habe, den ich beruflich nutze. Dabei gibt es da tatsächlich auch eine Farbe. Sie ist jedoch vergleichsweise wenig intensiv.

 

Bevor ich meinen Blog startete, habe ich mich fast einen ganzen Tag mit Farbschemata abgemüht. Nichts passte. Dann habe ich beschlossen, dass exakt diese schlichte Gestaltung die ich in der Voreinstellung fand, die richtige für mich war. So kann ich meinen Blog jederzeit öffnen, ohne mich fürchten zu müssen. Ich weiß, er wird immer in der gleichen optischen Schlichtheit da sein.

 

Die Welt, in der ich lebe, ist sehr, sehr bunt. Aber diese Farben sind in mir. Meine Innenwelt ist voller Farben und Bilder. Und speziell wenn ich müde und erschöpft bin, kann ich keinen optischen Input von außen mehr ertragen. Er würde den Rhythmus der Bilder und Farben in mir völlig durcheinander bringen. So trage ich auch beinahe ausschließlich graue oder schwarze Kleidung.

 

Einschub

Dass ich beinahe immer in schwarzer oder grauer Kleidung rumlaufe, ist auch Seminarteilnehmern von mir öfters aufgefallen. Einmal – vor ein paar Jahren im Sommer – sprachen die Teilnehmer das offen an. Ich erklärte ihnen, warum ich das so mache. Sie wollten mich ermutigen, farbige Kleidung zu tragen. Und so kam ich am nächsten Tag nicht in einem schwarzen T-Shirt ins Seminar, sondern in einem dunkelblauen. Es war so ein Nachtblau, also nur beinahe schwarz. Es gab großes Hallo.

„Stiller!“, rief einer der Wortführer, „Du verrückter, wilder Kerl, du!“

Einschub Ende

 

Ich habe meine Farben und meine Bilder innen. Andere haben sie – zumindest teilweise – außen. Selbst, wenn sie Autisten sind.

 

Faszinierend!

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Kommentare: 1
  • #1

    alliance hacker (Mittwoch, 11 September 2019 13:12)

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06. Oktober 2017

Eine Woche im Leben

Die Menschen, die mein Leben bevölkern, sind beinahe ausschließlich NTs. Aus Gründen, die ich immer noch nicht ganz verstanden habe, erzählen mir zahlreiche von ihnen gerne und oft, wie schwer ihr Leben ist. Wie viel sie zu tun haben, womit sie alles zu kämpfen haben, wie schwer das alles für sie ist. Und ja natürlich – sie arbeiten ohne Unterlass, Pause und Aussicht auf Besserung. Ja, ja. Tun sie. Und anschließend erzählen sie mir das. Nicht nur einmal, immer wieder erzählen sie mir das. Früher dachte ich dann manchmal:

„So schwer kann dein Leben gar nicht sein. Du hast ja immer noch Kraft zum Reden.“ Heute sehe ich die Dinge differenzierter. Dennoch:

In diesem Zusammenhang habe ich vor ein paar Jahren mal eine Arbeitswoche von mir mitprotokolliert – einfach, um mal die Möglichkeit zu haben, NTs, die mich mit den wilden Geschichten von ihrer Arbeit zutexteten, mit Fakten zu konfrontieren.

 

 

Ich arbeitete damals als Verkaufstrainer in einem großen multinationalen Konzern (Konzern A), der von einem anderen, noch größeren multinationalen Konzern (Konzern B) gerade geschluckt worden war. Die Arbeitswoche war hart gewesen, das gebe ich gerne zu. Aber es gab wirklich zahlreiche Wochen, in denen es noch wesentlich strammer zuging.

 

Das war vor gut zehn Jahren. Heute arbeite ich etwas weniger. Aber vor allem telefoniere ich nicht mehr beim Autofahren und schaue mir keine Filme mehr an: Ich habe in meinem Leben nach und nach all diese kleinen Energiefresser beseitigt. Damals wusste ich noch nicht, dass ich Autist bin. Seitdem ich meine Diagnose habe, habe ich sehr viel Zeit und Energie investiert, um mein Leben autismusgerechter zu gestalten.

 

Vor ein paar Tagen habe ich diesen Text nochmal hervorgekramt und mir angeschaut. Er gefällt mir so gut, dass ich ihn hier veröffentlichen will. Um niemanden bloßzustellen, habe ich an ein paar Stellen Namen verändert, um die gebotene Anonymität zu gewährleisten. Aber ansonsten ist der Text unverändert. Ich wohne im Großraum Frankfurt. Von dort fahre ich immer los. Nach dorthin fahre ich immer zurück. Unterwegs bin ich ausschließlich mit dem Auto (brumm-brumm!).

 

Los geht’s.

 

Sonntag 16:00 Uhr

Das Auto ist gepackt, ich habe alles, was ich für die nächste Veranstaltung brauche, im Kofferraum. Am Montag habe ich um 09:00 Uhr einen Auftritt in Hannover. Ich fahre los. Ich hoffe, dass ich vor 21:00 Uhr dort bin.

 

Sonntag 18:00 Uhr

Auf den Autobahnen wird überall gebaut. Ich bin in zwei Stunden 130 Kilometer voran gekommen. Das ist sonst das Pensum für eine Stunde. Die Baustellen nehmen kein Ende. Ich hoffe, vor 23:00 Uhr in Hannover zu sein. Ich telefoniere 20 Minuten mit der Frau, mit der ich de jure verheiratet bin.

 

Sonntag 22:00 Uhr

Nach einigen Irrungen habe ich das Hotel in Hannovers Zentrum erreicht. Ich hoffe, dass ich beim griechischen Schnellrestaurant neben Karstadt noch ein Abendessen bekomme. Als ich noch in Hannover wohnte, war das mein Stammlokal für’s Mittagessen.

 

Sonntag 23:00 Uhr

Zurück im Hotel. Ich gehe die Planung für den nächsten Tag durch und schaue mir noch einen englischen Film an. „Jumping Jack Flash“ mit Whoopie Goldberg.

 

Montag 01:00 Uhr

Licht aus!

Morgen wird ein langer Tag.

 

Montag 06:30 Uhr

Aufstehen. Nochmal den Tagesablauf durchgehen. Duschen, frühstücken etc. Ich telefoniere mit der Frau, mit der ich de jure verheiratet bin. Beim Auschecken sagen sie mir an der Rezeption, dass ich den Wagen aus der Tiefgarage rausfahren muss, weil sie heute viele Gäste erwarten. Das bereitet mir Missvergnügen, weil es in Hannovers Innenstadt schwer ist, Parkplätze zu kriegen.

 

Montag 08:30 Uhr

Ich habe meinen Wagen geparkt. Ich habe die Gebietsdirektion, wo ich die Schulung leiten werde, erreicht. Alles ist vorbereitet. Nur die Teilnehmer sind nicht da. Sollte ich mich geirrt haben? Treffen wir uns irgendwo anders?

 

Montag 08:45 Uhr

Es stellt sich heraus, dass die Teilnehmer eine halbe Stunde später kommen. Das wirft meinen Zeitplan über den Haufen. Aber ich bin es gewohnt zu improvisieren.

 

Montag 09:30 Uhr

Es stellt sich heraus, dass nicht die verabredeten Teilnehmer eingeladen wurden, sondern andere. Ich muss mein Programm umstellen. Der Zeitplan ist nicht mehr einzuhalten.

 

Montag 16:00 Uhr

Die Veranstaltung ist fast pünktlich zu Ende gegangen. Und obwohl so viel zu improvisieren war, ist die Veranstaltung ein voller Erfolg gewesen. Ich bin sicher, dass es einigen anwesenden Verkäufern in Zukunft leichter fallen wird, ihre Miete zu zahlen. Ich soll unbedingt wiederkommen für einige zweitägige Veranstaltungen. Das ist gut, weil es meinen Ruhm mehrt, was gut ist, weil es meinen Arbeitsplatz sichert. Aber in diesem Jahr habe ich keinen Termin mehr frei. Das ist vielleicht das beste daran. (Dann habe ich nämlich keine Zusatzarbeit mehr in diesem Jahr).

 

Montag 16:30 Uhr

Hannover ist eine schöne Stadt. Besonders, wenn man im Stau steht. Dann hat man nämlich Zeit, die neoklassizistischen Gebäude anzuschauen, die da überall am Straßenrand stehen. Ich fürchte, dass ich nicht mehr rechtzeitig nach Hause kommen werde, um meine Kinder wach zu sehen. Das ist ziemlich schlimm. Für mich. Und für meine Kinder. Die haben notgedrungen gelernt, mit sowas zu leben. Aber sowas ist jedes Mal fürchterlich.

 

Montag 17:00 Uhr

Auf der Autobahn vor Hildesheim ist es auch schön. Die Bäume haben ein sehr schönes sattes Grün und ihre Konturen heben sich sehr deutlich vor dem blauen Himmel ab. 10 Kilometer Stau sagt das Radio. Übersetzt heißt das: 2 Stunden Verspätung. Ich telefoniere lange mit der Frau, mit der ich de jure verheiratet bin.

 

Montag 21:30 Uhr

Ich verlasse die Autobahn für eine ausgiebige Rast und ein gutes Abendessen. Bis nach Hause sind es noch gut hundert Kilometer.

 

Montag 23:00 Uhr

Die Frau, mit der ich de jure verheiratet bin, ist noch wach und schaut sich die Mel Brooks Version von „Robin Hood“ an. Ich setze mich mit meiner Atemmaske zu ihr. Wir haben noch eine sehr schöne halbe Stunde zusammen.

 

Montag 23:30 Uhr

Jetzt aber ab ins Bett. Morgen wird ein langer Tag.

 

Dienstag 06:00 Uhr

Jetzt aber raus aus den Federn!

Ich muss nach Karlsruhe. Den Tagesablauf dort haben wir noch kurzfristig umgestellt, aber ich denke, dass das alles klappen wird. Bevor ich weg fahre, habe ich noch ein wenig Zeit für die Frau, mit der ich de jure verheiratet bin und für die Kinder. 

 

Dienstag 17:30 Uhr

Die Veranstaltung in Karlsruhe war ein voller Erfolg. Paul (mein Kollege) und ich sind hoch zufrieden. Von unseren Unternehmungen in Karlsruhe spricht mittlerweile der gesamte Konzern A. Und beim Konzern B sprechen sie wahrscheinlich auch davon. Wieder ein Schritt auf dem Weg, den Arbeitsplatz zu sichern. In der Tiefgarage wünscht mir Paul gute Fahrt. Er fährt nach Hause. Ich fahre nach Neuruppin. Das ist nordwestlich von Berlin. Ich hoffe, dass ich vor 01:00 Uhr da sein werde. Ich leite dort eine Strategietagung der gesamten Region Nord-Ost. Wir werden zu fünft sein. Die Teilnehmer werden zu 60 sein. Wir werden insgesamt neun Workshops leiten. Und ich bin der Spiritus Rector. Leider hatten wir sehr wenig Zeit, die Veranstaltung vorzubereiten. Ich beschließe, aus dem Auto heraus mit meinen vier Kollegen zu konferieren – ich habe sie mit fein aufeinander abgestimmten Tagesabläufen bedacht. Aber wir wissen alle, dass sich daran wieder kein Schwein halten wird.

 

Dienstag 18:00 Uhr

Auf dem Handy hat die Frau, mit der ich de jure verheiratet bin, eine dringende Nachricht hinterlassen: Die Kinder haben den Computer kaputt gemacht. Ich rufe daheim an und versuche, die Fehlerbehebung telefonisch zu regeln. Aber es gelingt mir nicht. Die Frau, mit der ich de jure verheiratet bin, macht mir Vorwürfe, wir beenden das Gespräch.

 

Dienstag 18:15 Uhr

Ein Kollege, der auch in Neuruppin sein wird, hat mir vier Nachrichten auf dem Handy hinterlassen, ohne einen Betreff zu nennen. Die Nachrichten hören sich immer dringender an. Das klingt nach Krise. Ich habe noch mindestens fünf Stunden Autofahrt vor mir. Da kann man noch manches am Telefon regeln.

 

Dienstag 18:30 Uhr

Ich habe mit dem Kollegen, dieser dummen Nuss, alles geklärt. Alles halb so schlimm, kriegen wir alles geregelt. Ich telefoniere länger mit der Frau, mit der ich de jure verheiratet bin. Dann schalte ich das Handy ab. Ich bin für niemanden mehr zu sprechen. Mein Chef wird mir das verübeln (der ist schon in Neuruppin), aber das Leben ist eh ein einzig auf und ab.

 

Dienstag 22:30 Uhr

Abendessen in Zorbau. Wer weiß schon, wo Zorbau ist? Irgendwo zwischen Karlsruhe und Berlin. Die Lasagne war ganz gut. Ich kaufe mir noch koffeinhaltige Fliegerschokolade. Als Nachtisch, und damit mir die Kuckerchen nicht zufallen.

 

Mittwoch 00:00 Uhr

Dieses Berlin ist aber auch ewig weit weg. Schneller als 200 will ich in der Nacht nicht fahren. Man muss wissen, wo seine Grenzen sind.

 

Mittwoch 01:00 Uhr

Dieses Berlin nimmt aber auch kein Ende. Ich fahre schon seit über einer halben Stunde mit hohem Tempo an Berlin vorbei in Richtung Norden. Aber immer noch heißen alle Abfahrten irgendwie Berlin. Berlin-Werder, Berlin-Spandau, Berlin-Irgendwas. Ich bin mir sicher, dass ich auf der richtigen Autobahn bin. Aber wenn ich Berlin-Travemünde erreicht habe, bin ich definitiv zu weit gefahren.

 

Mittwoch 01:30 Uhr

Das ist also Neuruppin. Das Hotel ist sehr schön an einem See gelegen. Aber davon bekomme ich nichts mit. Denn es ist finstere Nacht. Schnell ins Bett. Morgen wird ein langer Tag.

 

Mittwoch 07:30 Uhr

Aufstehn. Die Sonne kräht und der Hahn geht auf. Oder so ähnlich. Der Wasserhahn geht nicht auf. Und das ist auch schon mal was.

 

Mittwoch 09:00 Uhr

Mein Chef hat mir vier Nachrichten auf Band gesprochen. Er versucht verzweifelt, mich zu erreichen. Naja, man kann nicht alles haben. Irgendwann werde ich zurückrufen und schuldbewusst tun. Alles folgt hier fein abgestimmten Regeln. Mein Chef kriegt vor solch’ großen Veranstaltungen regelmäßig die Krise und gerät in Panik. Jeder hat so seine Art, mit dem Lampenfieber umzugehen.

 

Mittwoch 10:00 Uhr

Besprechung mit dem Chef. Wir gehen noch mal den Tagesablauf durch. 70 Teilnehmer in dreimal drei Workshops und ich habe die Oberhoheit und alles ist wieder mal ganz anders als geplant und ein Haufen wichtiger Leute hat in der letzten Minute nochmal Änderungen durchgesetzt. Business as usal.

Unsere Workshops sind erst morgen. Jetzt müssen wir uns erst mal Referate anhören, wo’s um Änderungen im Unternehmen geht. Diese Änderungen müssen wir morgen in unseren Workshops thematisieren und verarbeiten.

 

Mittwoch 12:30 Uhr

Vortrag im Plenum. Der Provinzfürst spricht. Ich sitze in der ersten Reihe. Ich habe seit Wochen nur sechs bis sieben Stunden pro Nacht geschlafen. Die wahre Kunst besteht jetzt darin, nicht in aller Öffentlichkeit einzuschlafen. Ich schätze den Provinzfürsten menschlich und persönlich sehr. Ein toller Mann. Aber wenn ich jetzt einschlafe, habe ich ein ernstes Problem. Ob ich Andi (meinen Chef), der neben mir sitzt, bitte, mir regelmäßig und in kurzen Abständen eins überzuziehen? Oder würde der Provinzfürst das missverstehen?

 

Mittwoch 13:30

Besprechung. Wir gehen die veränderten Tagespläne noch mal durch

 

Mittwoch 15:00 Uhr

Besprechung

 

Mittwoch 16:00 Uhr

Telefonate. Der Internetzugang an meinem Rechner ist kaputt gegangen. Wenn man so viel unterwegs ist wie ich und gleichzeitig derart auf Fernkommunikation angewiesen ist wie ich, kann sich das zu einem echten Problem auswachsen. Zum Glück kann mir niemand helfen. Dann muss ich mich auch nicht drum kümmern.

 

Mittwoch 17:00 Uhr

Ich bekomme die Geheimwaffe unseres Unternehmens an die Strippe. Willi. Willi das Computerwunder. Wenn sein Chef wüsste, wie oft er mir schon geholfen hat, würde Willi wahrscheinlich Haue kriegen. Der Internetanschluss geht wieder. (Willi ist der größte!) Dafür sind zwar ein paar andere Sachen auf dem Rechner kaputt gegangen, aber darum kümmern wir uns ein andermal. Am Freitag, wenn ich wieder in der Zentrale bin. Oder wann anders. Jetzt erst mal die Mails. 30 ungelesene Mails in meinem Postfach. In fast 20 bieten mir Menschen, die ich nicht kenne, Viagra und Valium zu konkurrenzlos günstigen Preisen an. Na, vielleicht mach’ ich ein andermal Gebrauch davon.

 

Mittwoch 18:00 Uhr

Besprechung

 

Mittwoch 19:00 Uhr

Der Provinzfürst hat eingeladen: Bootsfahrt auf dem Neuruppiner See. Mit einem Ausflugsdampfer. Über 90 Fach- und Führungskräfte sind an Bord. Dazu mein Moderatorenteam, mein Chef und ich. Das alles soll dazu dienen, dass sich die Schlüsselpersonen der beiden Konzerne mal näher kennenlernen. Getränke werden gereicht. Zu Essen gibt’s dann später an Land. Der See gefällt mir. Ich telefoniere kurz mit der Frau, mit der ich de jure verheiratet bin. Ich trinke einen halben Liter Bier und rufe einen Kollegen an, der auf Kreta Urlaub macht. Ich spreche ihm auf Band, dass der Chef ihn dringend sprechen will. Als der Kollege kurz darauf den Chef anruft, heuchele ich Unschuld.

 

Mittwoch 22:30 Uhr

Ab ins Bett. Morgen wird ein langer Tag.

Ich habe Lampenfieber. Am liebsten würde ich gleich wieder nach Hause fahren. Vielleicht fällt mir in der Nacht ja ein Stein auf den Kopf. Dann muss ich die Workshops nicht machen.

 

Donnerstag 06:30 Uhr

Und wieder mal beginnt ein neuer Tag.

Mein Chef hat mir nachts eine Mail geschrieben. Gut, wenn an einen gedacht wird. Einer der Moderatoren ist immer noch nicht da. Vielleicht ist er in der Nacht angereist und in den See gefallen.

 

Donnerstag 08:30 Uhr

Besprechung. Der Tagesablauf ist umgeschmissen worden. Gut, wenn der Chefmoderator davon erfährt. Improvisation ist Trumpf.

 

Donnerstag 09:15 Uhr

Das Publikum richtet seine Augen erwartungsvoll auf mich. Und ich weiß, dass alles gut gehen wird.

 

Donnerstag 15:30 Uhr

Die Veranstaltung ist vorbei. Ich zittere vor Anstrengung am ganzen Leib. Mein Chef und die anderen Jungs sind fix und fertig. Es war ein voller Erfolg. Wir haben viel Lob bekommen. Wir dürfen wiederkommen. Das ist immer das höchste denkbare Lob. Wir sitzen noch eine halbe Stunde erschöpft am See und trinken Limos und dergleichen. Uns graust vor der Heimfahrt. Das wird lang. Sehr lang.

 

Donnerstag 18:00 Uhr

In Magdeburg fahre ich in den Sonnenuntergang. Obwohl ich permanent Tempo 200 fahre, überholen mich immer wieder welche. Ich brauche eindeutig ein schnelleres Auto.

 

Donnerstag 19:00 Uhr

Langes Telefonat mit der Frau, mit der ich de jure verheiratet bin. Ich fahre gerade an Braunschweig vorbei. Sie ist in [Heimatort]. Sie ist deprimiert. Ich bin das nicht. Und ich denke mir, dass sie ihre Probleme gefälligst selber lösen soll. Ich muss meine ja auch lösen. Aber das sage ich ihr nicht.

 

Donnerstag 22:30 Uhr

Abendessen in Homberg. Gleicher Ort wie am Montag. Über 100 Kilometer von daheim. Nach dem Essen fühle ich mich völlig erschöpft. Ich schaff’ es kaum noch, zum Auto zu laufen. Ich fürchte, dass der restliche Heimweg schwierig wird. Vielleicht sollte ich mich in einer Sänfte tragen lassen. Wenn die Zeiten anders wären, würde ich sicher weniger arbeiten. Aber das haben die Zeiten so an sich, dass sie nie anders sind.

 

Freitag 00:30 Uhr

Endlich zuhause. Ich bin fix und alle. In dieser Woche bin ich 2.500 km mit dem Auto gefahren. Ich hoffe, dass der Freitag nicht so anstrengend wird, damit ich mich ein bisschen erholen kann. Die nächste Woche wird wieder sehr anstrengend. Ich fahr’ da zwar nicht ganz so viel, aber ich habe wieder vier Tage „unter Flutlicht“, wie wir das nennen. Zwei zweitägige Veranstaltungen. Dann schaut wieder das ganze Unternehmen zu und prüft, ob ich tatsächlich der Wundermann bin, von dem jetzt alle reden oder nicht nur ein ganz gemeiner Scharlatan. Zum Glück habe ich an allen vier Tagen Paul dabei. Paul, meinen Partner (so wie in einem amerikanischen Polizeifilm, er ist der bad cop, ich bin der good cop). Paul, der Panzer wird mich schon raushauen. Aber wenn ich unerholt in die Woche gehe, habe ich ein ernstes Problem. Freitagvormittag habe ich zwei relativ wichtige Besprechungen. Beide habe ich nicht vorbereiten können. Ich werde mal wieder improvisieren müssen. Improvisation ist die Hälfte des Lebens. Was die andere Hälfte ist, habe ich im Moment vergessen. Aber das fällt mir sicher morgen früh wieder ein. Morgen ist auch noch ein Tag.

 

 

Das war vor etwas über zehn Jahren. Wenig später begann ich, für den Konzern B Verantwortung in strategischen Projekten zu übernehmen und international tätig zu werden. Das bedeutete, nochmal richtig Gas zu geben – es gab total interessante Aufgaben. Je interessanter die Aufgabe, desto schwerer fällt es mir, nein zu sagen.

 

Viele Jahre habe ich dann beinahe jedes Wochenende gearbeitet. Auch im Urlaub war ich online und habe auf Mails reagiert und für die Firma telefoniert. Wenn ich daheim war, bin ich oft nachts heimlich aufgestanden, um noch ein paar Dinge wegzuarbeiten, die mich am Schlafen hinderten. Ich habe die Stunden, die ich arbeitete, damals nicht mehr gezählt. Aber sicher war die 80-Stunden-Woche eher die Regel als die Ausnahme.  

 

Heute trete ich beruflich kürzer. Ich bin deutlich weniger leistungsfähig als früher und brauche deutlich mehr Zeit, um mich wieder zu erholen. Meine große Zukunft im Beruf habe ich also schon hinter mir. Es kommt nicht mehr so oft vor, dass ich binnen 48 Stunden 36 Stunden arbeite, aber es kommt noch vor. Auch sind die 60-Stunden-Wochen immer noch deutlich häufiger, als ich das will. Und ich fahre immer noch deutlich über 40.000 dienstliche Kilometer pro Jahr. Aber insgesamt bin ich – was die Arbeitsleistung anbelangt – wie ein Passagierflugzeug, das in den Sinkflug übergegangen ist. Meine Reisehöhe habe ich bereits verlassen. Jetzt orientiere ich mich Richtung Flughafen.

 

In der Arbeitspsychologie werden die Begriffe Belastung und Beanspruchung voneinander unterschieden:

Unter „Belastung“ sind die objektivierbaren Einflüsse zusammengefasst, die die Arbeit auf uns ausübt:

a)    physisch – z.B. Lärm, Temperatur, körperliche Belastung etc.

b)    psychisch – z.B. Zeitdruck, widersprüchliche Anweisungen, Mehrdeutigkeit der Situation, Störung und Unterbrechung des Arbeitsablaufes etc.

„Beanspruchung“ ist das, was wir dabei erleben.

Also können Menschen, die objektiv gleicher Belastung an der Arbeit ausgesetzt sind, dabei ganz unterschiedliche Beanspruchungen erleben: Was für den einen leicht ist, beansprucht den anderen bis zur Erschöpfung.

 

Ich erlebe es so, dass sich vor allem NTs, die sich durch ihre Arbeit sehr beansprucht fühlen, mit detailreichen – stets gleichen - Schilderungen ihrer Arbeit an mich wenden. Ich habe den Eindruck, dass sie sich von meinem Zuhören Entlastung bei ihrer Beanspruchungssituation versprechen.

Gleichzeitig erlebe ich es so, dass ich deutlich belastbarer bin als sie.

 

Vor Jahren habe ich mich bei solch einer Erzählung mal zu dieser Reaktion hinreißen lassen:

„Ich könnte deinen Job tun. Wenn du meinen Job tun müsstest, würde dich das in kürzester Zeit ins Krankenhaus bringen.“

An Gesichtsausdruck und Körperspannung meines Gegenübers konnte ich deutlich ablesen, dass meine Reaktion nicht die gewünschte war.

Wenn wir uns gerade sehr beansprucht fühlen, dann haben wir wohl alle gerade den schwersten Job der Welt.

 

Meistens ist es besser, wenn ich schweige.

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24. September 2017

Der Klugscheißer

Ich weiß nicht, ob es dieses Gen gibt. Aber wenn es das gibt, dann habe ich das sicher in ausgeprägtem Maße: Das Klugscheißergen.

 

Schon als Kind habe ich deutlich mehr gelesen, als meine Altersgenossen. Und während andere Kinder, die viel lasen, sich mit Erzählkonzepten wie „Hanni und Nanni“ oder „Jan und das Wildpferd“ auseinandersetzten und voll darin aufgingen, durften es bei mir gerne Lexika, Atlanten oder populärwissenschaftliche Bücher sein. Natürlich habe ich hier und da auch Kinderbücher gelesen. Aber deutlich mehr Zeit verbrachte ich mit dem Studium von Fakten. Es konnte sehr schön sein, ungestört auf dem roten Teppich im Kinderzimmer zu liegen und stundenlang im dicken Konversationslexikon meiner Eltern zu schmökern. Meine Eltern waren beide dumm wie Brot. Durch den zweiten Weltkrieg war ihnen jede nennenswerte Schulbildung versagt geblieben. Und nach dem Krieg zeigten sie kein Interesse, das Versäumte nachzuholen. Sie begriffen nicht mal im Ansatz, wie die Welt und alles in ihr funktionierte: Plattenspieler, Fernseher, Radio, Lichtschalter – es interessierte sie einfach nicht. Wie eine Zeitung hergestellt wurde, wie die Kuhmilch aus dem Euter in die Tüte kam, warum die Wolken diese Form hatten und keine andere, warum es so viele unterschiedliche Bäume gibt, warum Klebstoff klebt … Sie hatten kein Interesse an solchen Fragestellungen.

 

Sie waren fast immer zu arm, um sich Radio oder Fernseher leisten zu können. Und bevor ich in die Schule kam, hatte ich nur Zugriff auf die Bücher, die sie daheim hatten. Also blieb mir vorerst nur dieses eine Lexikon. In dem las ich kunterbunt drauflos und allmählich kumulierte mein Wissen.

 

Zeitsprung

 

Als ich anfing zu studieren, spielten wir trotz der aufkommenden Computer immer wieder analoge Gesellschaftsspiele. Eine Zeitlang war bei meinen Mitstudenten „Trivial Pursuit“ besonders beliebt. Das war so ein Spiel, bei dem man reihum würfelte, sein Männchen auf dem Spielfeld verschob und dann irgendwelche beknackten Fragen beantwortete.

Es stellte sich heraus, dass es völlig unmöglich war, mich zu schlagen. Auch wenn alle anderen sich gegen mich zusammentaten. Es konnte Entsetzen auslösen, wenn ich nicht nur die Fragen beantworten konnte, sondern auch alles drumherum.

„Wer überschritt 55 v.C. südlich von Koblenz den Rhein?“, stand auf einer Karte. Das sollte ich beantworten. Und mein Klugscheißergen brach durch:

 

„Das war Julius Caesar. Der hatte mit den Germanen auf der anderen Seite des Rheins noch eine Rechnung offen, weil die seiner Ansicht nach immer wieder wagten, ihre Brüder auf der linken Seite des Rheins durch kleinere Kommandounternehmen zu unterstützen. Vor allem Ariovist ist hier wichtig gewesen, obwohl der zu diesem Zeitpunkt bereits nicht mehr aktiv war …“

 

Meine Mitstudenten sprachen irgendwann von der „Sendung mit dem Stiller“ (anstatt „Sendung mit der Maus“)

 

Meine erste Festanstellung nach dem Studium hatte ich in einer kleinen Unternehmensberatung. Das Projekt, in dem ich arbeitete, brauchte dringend personelle Unterstützung. Deshalb führte ich zahlreiche Gespräche mit Bewerbern.

„Ich komme gebürtig aus Marokko“, ließ mich eine ausländische Studentin wissen.

Ich stutzte. Dafür war sie zu dunkel.

„Wo aus Marokko?“, wollte ich wissen.

„West-Sahara.“

„West-Sahara?“ Ich war erstaunt. „Und dann studieren Sie hier? Gehören Sie zur Polisario-Front?“

Im Gesicht der Studentin wechselten sich heftige Emotionen ab. Offenbar befürchtete sie für einige Momente, ich würde zu irgendeiner Form von Geheimdienst oder Geheimpolizei gehören. Aber dann beschloss sie offenbar, dass ich tatsächlich der hilfesuchende Unternehmensberater war, für den ich mich ausgab. Ihr Gesicht hellte sich auf:

„Ja!“, sagte sie, „Ich bin Polisario! Aber woher kennen Sie das?“

„Ich lese mehr als andere.“

 

Ein Jahrzehnt später arbeitete ich in einer ganz anderen Firma. Ich hatte mit meinem Chef in Berlin einen Auftrag erledigt. Nun fuhren wir mit dem Auto zurück nach Frankfurt. Ich saß am Steuer, und er telefonierte wild in der Gegend herum. Ich war der introvertierteste Mensch, den ich je kennengelernt hatte. Er war der extravertierteste Mensch, den ich je kennengelernt hatte. Als ich ihn mal darauf angesprochen hatte, hatte er gelacht:

„Ja, geradezu hysterisch extravertiert!“

Jetzt sah er an der Autobahn ein Schild:

„Schau mal Stiller, Lützen. Hier könnten wir rausfahren und uns das Schlachtfeld von Lützen anschauen.“

Ich steuerte schweigend den Wagen durch sächsische Landschaft. Das nahm er als Ermutigung, weiter zu reden.

„Die Schlacht von Lützen! Hier ist Gustav Adolf gefallen. Wir fahren sozusagen über historischen Boden.“

Ich schwieg und steuerte.

„Das muss dramatisch gewesen sein“, fuhr er fort.

In seinem früheren Leben war er Geschichtslehrer gewesen. Er kannte sich aus. Aber ich machte keine Anstalten, die Fahrt zu verlangsamen oder sonstwie erkennbar zu reagieren. Dieser Chef liebte das dramatische. Er schilderte mir die Schlacht in groben Zügen, um mich zu animieren, die Autobahn zu verlassen.

„… und zum Schluss ist Gustav Adolf vom Pferd gefallen und mehrere Kilometer mitgeschleift worden, bevor sie sein durchgegangenes Pferd zum Stehen bringen konnten.“

Zeit für mein Klugscheißergen:

„Nein.“

„Wie, nein? Willst du dir das nicht anschauen?“

„Gustav Adolf ist nicht mitgeschleift worden. Er war extrem kurzsichtig und ist im letzten Drittel der Schlacht zu nah an die kaiserlichen Linien geritten, ohne das zu merken. Die haben ihn mit mehreren Pistolenschüssen aus dem Sattel geholt. Er ist tot vom Pferd gefallen, liegengeblieben und noch an Ort und Stelle ausgeplündert worden.“

„Der ist mitgeschleift worden. Viele Kilometer!“

„Nein.“

„Aber wenn ich es dir doch sage!“

„Nein.“

Zum nächsten Arbeitstag brachte ich ihm ein paar Kopien aus einem meiner militärgeschichtlichen Bücher mit.

 

Ich kann dieses Verhalten kaum steuern. Wenn die NTs um mich herum irgendwelchen Sozialkram diskutieren, lässt mich das völlig kalt. Welcher Schauspieler mit wem die Ehe gebrochen hat. Welcher Fußballstar durch wen an welchen Verein verhökert wurde. Ob der Lippenstift von Hera Lind tatsächlich aus Elchmilch hergestellt wird – interessiert mich alles nicht. Da bleibt in mir alles inaktiv.

Aber sobald jemand die Muster und Rhythmen in mir durcheinanderbringt, werde ich hellwach und aktiv.

 

„Hitler war ja drogenabhängig, hast du das gewusst?“

„Das ist wie der sich drehende Mond.“

„Columbus war ja der erste Europäer, der amerikanischen Boden betrat.“

„Phosphor spielt in der organischen Chemie ja kaum eine Rolle.“

„Wenn es überhaupt ein christliches Fest gibt, dann ist das Weihnachten."

„James Watt hat die Dampfmaschine erfunden.“

„Napoleon war ja sehr klein …“

Alles Stuss, und meistens reagiere ich dann reflexhaft, um die Muster und Rhythmen in mir zu schützen.

 

Das hat mich schon oft in Schwierigkeiten gebracht. Viele NTs denken dann, dass ich sie bloßstellen will und reagieren entsprechend. Aber warum sollte ich einen NT bloßstellen wollen? Davon habe ich als AS überhaupt keinen Nutzen. Ich will immer wieder angeben, ja. Ich kann, was das Intellektuelle angeht, ziemlich eitel sein. Aber warum sollte ich jemanden düpieren wollen?

Aber bei aller Eitelkeit: Der Reflex dient dazu, die Muster und Rhythmen in mir zu schützen. Er dient nicht dazu, vor anderen zu glänzen.

 

So wird es wohl immer wieder Szenen geben wie diese. (Das ist mittlerweile ein paar Jahre her, mir aber sehr nachdrücklich in Erinnerung geblieben):

 

Ich sitze ganz vertieft in einer Aufführung des Faust (Der Tragödie erster Teil). Normalerweise schaue ich mir sowas nicht an, aber die Frau, mit der ich de jure verheiratet bin, hatte großes Interesse daran. Es ist still im Zuschauerraum. Hier und da hustet es leise und unterdrückt. Irgendwo fällt ein Handy klappernd zu Boden. Oben auf der Bühne deklamiert mit zerfurchter Stirn ein suchender und irrender Faust nach Kräften vor sich hin. Das Publikum ist gebildet und so richtig ergriffen: Hier bricht sich die aufgewühlte Seele Bahn, hier wird an den Urgründen menschlichen Seins gerührt. Die Dramaturgie nimmt Fahrt auf. Die Deklamatorik erreicht nie gekannte Höhen. Auf einmal fahre ich hoch und rufe empört halblaut in die Stille:

„Ey! Der hat zwei Zeilen ausgelassen!“

Hätte ich die Blicke, die ich dafür bekam, in Dosen abfüllen und an die Bundeswehr verkaufen können, dann wäre ich jetzt reich.

Ich mach‘ das doch nicht mit Absicht! Ich mach‘ das doch nicht, um andere zu ärgern! In mir rebelliert alles, wenn die Rhythmen und Muster gestört werden. Und nein, ich kann den Faust nicht auswendig, beileibe nicht. Aber es gibt einige Stellen in diesem Stück, die mir viel bedeuten.

 

Da das so häufig passiert, habe ich natürlich bei den NTs, die mich umgeben, meinen Ruf weg:

„Unser Wikipedia!“, sagen sie.

„Frag Stiller, der weiß alles.“

Mein Gedächtnis ist heute nicht mehr so gut wie früher. Und verglichen mit dem, was Menschen wissen können, ist mein Kenntnisstand sehr, sehr überschaubar. Ich weiß deutlich mehr als die meisten anderen, keine Frage. Aber verglichen mit dem, was wissbar wäre, weiß ich buchstäblich nichts.

 

Meine beiden Töchter (und zahlreiche Kollegen) haben mir immer wieder gesagt, ich solle mich bei „Wer wird Millionär“ anmelden. Da mich meine Töchter so bedrängten, habe ich mal zugeguckt, als sie sich so eine Sendung anschauten. Dabei sah ich offenbar etwas ganz anderes als die meisten anderen Fernsehzuschauer:

Ich sah einen blasierten und gelangweilten Vielredner, der es offenbar als seine Hauptaufgabe ansah, andere durch sein permanentes Gequassel beim Nachdenken zu stören. Danke! Kein Interesse! Ich bin kein Zirkusclown. Ich freue mich, wenn diese Sendung bei den NTs so viel Zuspruch findet. Aber für mich ist sowas überhaupt gar nichts.

 

Wenn ich in irgendeiner Sendung auftrete, um ein gelangweiltes Publikum zu unterhalten, das mit seiner kostbaren Lebenszeit nichts Besseres anzufangen weiß, hilft das den Rhythmen und Mustern in mir in keiner Weise. Da bleibe ich lieber daheim und schmökere in irgendeiner Wissenschaftszeitschrift oder in einem Lexikon. Im „Kulturfahrplan“ zum Beispiel. Den habe ich erst sechs Mal gelesen.

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Kommentare: 1
  • #1

    NeoSilver (Sonntag, 24 September 2017 11:21)

    Über diese Thematik habe ich schon auf ähnlicher Weise des öfteren nachgedacht und auch mir sind die Spitznamen "Besserwisser" oder "Alleswisser" zugewiesen worden.

    Auch in mir entsteht eine gewisse Unruhe, wenn ich bemerke das Jemand Fakten falsch weitervermittelt, vor allem wenn es sich dann auch noch um meine Spezialinteressen handelt.

    Was ich allerdings bisher nie nachvollziehen konnte, ist das geringe Interesse vieler Menschen, neue Dinge zu erlernen.
    Ich schreibe nicht davon, dass die Menschen mehr Bücher lesen oder sich z.B. eine zweite oder dritte Sprache aneignen sollen, sondern vom Grundinteresse, von der natürlichen Neugierde.

    Ich bin neugierig. Ich erforsche Dinge, welche ich nicht verstehe und habe den Drang sie zu verstehen.
    Der Großteil der Erwachsenen Menschen in meiner Umgebung scheint diesen Drang allerdings gänzlich verloren zu haben und lässt die Wissenslücken ohne Bedenken weiter bestehen oder füllt sie mit falschem, nicht überprüftem Wissen.



17. September 2017

Der Schockwellenreiter in der Waschmaschine

Von einer berühmt gewordenen Autistin wurde geschrieben, sie sei eine „Anthropologin auf dem Mars.“ Ich finde das ein sehr schönes Bild. Aber wenn ich meine eigene Situation betrachte, kommt mir ein anderes Bild in den Sinn:

Ich bin ein Schockwellenreiter. Ein Schockwellenreiter in einer Waschmaschine.

 

Ich arbeite in einer Branche, durch die seit über 25 Jahren Schockwelle auf Schockwelle läuft. Diese Schockwellen zerreißen so ziemlich alles, was mal Bestand hatte. Das ist so, als würden wir im inneren einer gigantischen Waschmaschine arbeiten – und die Wäschetrommel wird laufend von schweren Explosionen erfasst. Umfassende Krise und tiefste Verunsicherung sind in meiner Branche ständige Begleiter. Seit 25 Jahren kann niemand absehen, wie es weiter gehen wird. Globalisierung, technischer Fortschritt, politische Dynamik und demografische Entwicklung hinterlassen tiefe, tiefe Spuren. Ein Ende dieser Entwicklung ist nicht abzusehen.

 

Ich habe fast mein gesamtes Berufsleben in dieser gigantischen Waschmaschine verbracht. Ich kenne nichts anderes. Die Maschine läuft – und so wie es aussieht, wird sie noch lange, lange so weiter laufen. Mal läuft sie vorwärts, mal läuft sie rückwärts – mal gibt es Massenentlassungen, mal wird so ziemlich alles umstrukturiert. Jacke wie Hose. Schockwellen laufen durch das Innere der Waschmaschine. Sie kommen aus allen Richtungen. Wir kommen niemals zur Ruhe. Und ich – ich bin von Beruf Schockwellenreiter.

 

Die Unternehmen dieser Branche werfen weiterhin fabelhafte Gewinne ab, das ist es nicht. Der Konzern, in dem ich jetzt arbeite, ist weltweit der größte seiner Art. Die Zahlen, die regelmäßig in den konsolidierten Bilanzen auftauchen, sind länger als die Seriennummern, die man auf der Rückseite von Elektrogeräten findet. Den Konzernen geht es gut. Aber den Beschäftigten geht es regelmäßig an den Kragen. Die haben zu leiden.

 

Ich habe schon in verschiedenen Unternehmen dieser Branche gearbeitet: Kleinunternehmen, mittlere Unternehmen, Großkonzerne – alles war dabei. Bislang ist ausnahmslos jedes Unternehmen, in dem ich gearbeitet habe, vom Markt verschwunden: Aufgekauft, aufgelöst, dicht gemacht. Es arbeiten deutschlandweit immer noch hunderttausende in dieser Branche. Aber wir werden immer weniger. In den letzten 20 Jahren wurden in Deutschland ca. 20% der Stellen in dieser Branche abgebaut. Ich sage, dass die Leute entlassen werden. Das Management spricht in gleicher Situation gerne davon, dass die Kollegen „sozialverträglich abgebaut“ bzw. „dem Markt zur Verfügung gestellt“ werden. Nun ja, ich sehe ja auch Menschen, und das Management sieht in gleicher Situation „Humankapital“, „Zitronen“, „Mitarbeiterkapazitäten“ und „Ressourcen“. (Vermutlich kommt es immer auf die Perspektive an). Wie dem auch sei - wir werden immer weniger. Aber ich bin immer noch dabei. Ich reite die Schockwellen und hoffe, da irgendwie wieder heil rauszukommen.

 

Seit beinahe 20 Jahren arbeite ich in diesem Großkonzern. In diesen fast 20 Jahren hatte ich bislang 14 Vorgesetzte. Ich habe aufgehört zu zählen, wie viele verschiedene Aufgaben ich in diesem Konzern schon hatte. Ich weiß auch nicht mehr, wie viele Umstrukturierungen und Massenentlassungen ich schon überlebt habe. Zählen ist sinnlos geworden. Es geht ja eh immer so weiter. Ich zähle ja auch nicht die Tropfen, wenn es regnet oder die Blätter, die im Herbst von den Bäumen fallen.

 

Ich zähle nicht mehr. Ich registriere es auch nicht mehr, wenn der Konzern mal wieder mit riesigem Getöse eine neue Strategie verkündet – in spätestens zwei Jahren gibt es sowieso wieder eine neue. Irgendwer ist Vorstand für irgendwas geworden? Interessiert mich nicht: Den Job macht nächstes Jahr sowieso ein anderer. Wir kriegen ein neues Unternehmensdesign? Interessiert mich nicht: Das wird demnächst sowieso wieder geändert. Mittlerweile merke ich mir nicht mal mehr die Namen meiner neuen Kollegen, die im gleichen Bereich arbeiten wie ich. – Nach der nächsten Umstrukturierung sind es sowieso wieder andere. Ich konzentriere mich nur auf die Schockwelle und wie ich sie reite.

 

Die Bedingungen, unter denen wir arbeiten, sind seit mindestens 20 Jahren buchstäblich unmöglich. Für mich ist die Arbeit oft besonders unmöglich, weil ich meistens im Zentrum der Schockwelle eingesetzt werde. Die Frau, mit der ich de jure verheiratet bin, fragte mich vor ein paar Jahren mal, wie es denn sei, meinen Job zu machen. Ich versuchte, es ihr mit einem Bild zu erläutern:

„Stell dir vor, du stehst auf einer Rolltreppe. Diese Rolltreppe läuft abwärts. Du musst aber die Rolltreppe hoch laufen.“

„Das ist dein Job?“, fragte sie atemlos.

„Nein“, antwortete ich ihr. „Mein Job ist es, Enten zu schießen.“

Sie schaute mich verständnislos an.

„Enten? Ich dachte, du stehst auf einer Rolltreppe.“

„Ja“, erklärte ich ihr. „Diese Enten fliegen weit entfernt vorbei. Ich laufe dabei eine Rolltreppe hoch, die abwärts läuft. Die Rolltreppe selber befindet sich im freien Fall. In meiner Hand halte ich eine verrostete und verbogene Schrotflinte. Und mit der soll ich auf diese Enten schießen.“

„Und das geht?“, wollte sie wissen?

„Nein. Ich habe keine Munition. Das Geld, das der Vorstand bewilligt hat, das hat nur für diese Flinte gereicht. Man kann nicht alles haben.“

Das Gesicht der Frau, mit der ich de jure verheiratet bin, wechselte von verständnislos auf vorwurfsvoll:

„Aber ich dachte, dass du auf Enten schießt! Das geht nicht ohne Munition!“

„Sehr gut erkannt. Ich wünschte, alle bei uns im Konzern wären so klug wie du. Aber ich habe nicht gesagt, dass ich auf Enten schieße. Ich habe nur gesagt, dass das mein Job ist.“

„Und was machst du ohne Munition, wenn du nicht schießen kannst?“

„Ich mache Peng-Peng-Geräusche.“

„Und so triffst du die Enten?“

„Nun, hin und wieder kriegt eine einen Schreck und fällt tot vom Himmel.“

„Und so schießt ihr Enten?“

„Den ganzen Tag. Und abends in der Jägerkneipe erzählen wir uns dann immer gegenseitig, was wir alles getroffen haben.“

Die Frau, mit der ich de jure verheiratet bin, schaute mich recht merkwürdig an. Sie hat noch nie in einem Großkonzern gearbeitet. Ich hatte nicht den Eindruck, dass ich ihr hatte verständlich machen können, worum es geht.

 

Die Bedingungen, unter denen wir arbeiten, belasten die Beschäftigten extrem. Jedes Jahr steigt in unserer Branche der Krankenstand bei den Angestellten ein bisschen mehr. Wer seinen Job noch hat, der fürchtet, ihn zu verlieren. Wer bleibt, der macht die Arbeit der gegangenen Kollegen gleich mit.

In den letzten 10 Jahren ist der Krankenstand in der Branche um beinahe 50% gestiegen. Ein Ende ist nicht abzusehen. In dem Unternehmen, in dem ich arbeite, liegt der Krankenstand traditionell 10 - 20% über dem Branchenschnitt.

 

Das geht für mich immer so weiter, bis ich mich irgendwann in die Rente verabschiede. Damit habe ich mich abgefunden. Es würde auch nicht besser werden, wenn ich das Unternehmen oder die Branche wechseln würde. Es würde anders werden, aber nicht besser.

 

Bislang habe ich mich bei uns im Konzern so ziemlich jeder Aufgabe gewachsen gezeigt. Deshalb bleibt aller möglicher Mist an mir hängen. Denn bei uns gilt wie in jedem anderen Großkonzern auch: „Die Belohnung für gut Arbeit ist … noch mehr Arbeit.“ (Soviel zu Themen wie „Gehaltserhöhung“ oder „Leistungszulage“). Jeder, der noch nicht zusammengebrochen ist, kriegt noch was draufgepackt. Hinzu kommt: Ich habe Fähigkeiten, die eher selten sind, und die stark nachgefragt sind, wenn es sich im Unternehmen anfühlt wie im Inneren einer Waschmaschine. Projektleiter und „Change Agents“ und „Veränderungsmanager“ „Promoter“ und wie sie alle heißen, die gibt es wie Sand am Meer. Aber es gibt nur einen Stiller.

 

Im letzten Großmerger hatte ich wieder einmal eine dieser verantwortungsvollen und unmöglichen Aufgaben bekommen. Ich nenne sie regelmäßig „Scheißdreck!“ Das Management spricht in gleicher Situation gerne von „Herausforderung!“ (Vermutlich kommt es immer auf die Perspektive an). Eine Kollegin aus einem anderen Ressort schrieb mir eine Mail. Wir kennen uns seit vielen Jahren. Wir verstehen uns wirklich gut. Sie hatte von meiner neuen Aufgabenstellung gehört.

„Na?“, wollte sie wissen. „Wie geht’s? Hast du alles fest im Griff?“

„Hahaha!“, schrieb ich ihr postwendend zurück, „Das einzige, was ich in meinem Leben fest im Griff habe, ist abends der Stiel meiner Zahnbürste …“

 

Man kann die Dinge auch anders sehen, ich weiß das:

Ein politisch interessierter, deutlich links stehender junger Idealist sprach mich vor ein paar Jahren an. Er fragte mich, ob es nicht so sei, dass Menschen wie ich dieses Chaos überhaupt erst möglich machen würden. Ohne Leute wie mich wären die Konzernlenker doch aufgeschmissen. Ich schaute ihn an. Ich dachte nach. Ich versuchte, nicht zu großväterlich rüberzukommen.

„Vermutlich hast du Recht“, sagte ich ihm. „Menschen wie ich machen dieses Missmanagement erst möglich. Aber ohne uns würde dieses Chaos nicht aufhören, sondern nur durch ein anderes ersetzt werden. Ob das besser wäre, will ich lieber nicht ausprobieren.“

„Aber …“

„Ich habe diese Welt nicht gemacht“, fuhr ich fort. „Ich lebe nur in ihr.“

(Ich habe mal gelesen: „Wer jung ist und ist kein Sozialist, der hat kein Herz. Wer alt ist und immer noch Sozialist ist, der hat kein Hirn.“)

 

Ausblick

Für den nächsten Monat hat mich das Management mal wieder zum Gespräch gebeten. Der Konzern strukturiert gerade mal wieder massiv um. Mehr als zehn Prozent der Mitarbeiter in Deutschland werden „sozialverträglich abgebaut“ oder bekommen andere Aufgaben. Die Konzernspitze hat die Losung ausgegeben, dass sich das Unternehmen weltweit in den nächsten fünf Jahren stärker verändern werde als in den 50 Jahren davor.

Die spöttischen Teile in mir kommentieren das so:

„Ja, da kommt Frohsinn auf – Lachen ohne Anfang!“

Und so gibt es da also mal wieder ein paar Herausforderungen, und die Leitung des Ressorts ist sich mal wieder sicher, dass ich der geeignete Mann wäre …

Es geht immer so weiter. Bis ich in Rente gehe.

 

 

Ich habe mal von einer Welt geträumt, die in Ordnung ist, in der alles Sinn macht und in der sich jeder zurechtfindet. Das ist schon lange, lange vorbei.

Gestatten: Stiller, Autist - von Beruf Schockwellenreiter. Experte für Waschmaschinen.

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25. August 2017

Ein langer Weg 02 - Danke

Ich wurde in einer westdeutschen Großstadt groß. Diese Großstadt war heruntergekommen, dreckig, hässlich, grau, zubetoniert. Sie war völlig überbevölkert. Diese Großstadt war ringsum umgeben von weiteren Großstädten, in denen es ganz ähnlich aussah. Wenn da zufällig ein paar Bäume nebeneinander standen, nannten sie das „Wald“ oder Hain. Es gab beinahe keinen Ort in diesen „Wäldern“ oder Hainen, in denen man den Straßenlärm nicht hören konnte. Und es gab buchstäblich keinen Ort in diesen „Wäldern“ oder Hainen, in denen man nachts nicht die Lichtdome der umgebenden Großstädte sah.

 

Ich war das Kind armer Leute. Materiell, seelisch und geistig waren meine leiblichen Eltern geradezu bettelarm. Sie waren darüber hinaus grausam, brutal, heimtückisch und sadistisch. Sie waren im zweiten Weltkrieg Kinder gewesen. Der zweite Weltkrieg ging in ihren Herzen weiter bis sie irgendwann starben. Und bis dahin gaben sie den Krieg in ihren Herzen an ihre Kinder weiter. Das taten sie so detailgetreu und so realistisch wie es ihnen möglich war.

 

Kinder solcher Eltern nannte man damals „sozial schwach“. Für „sozial schwache“ Kinder gab es in den großen Ferien immer ein Programm, das sich „Stadtranderholung“ nannte. „Stadtranderholung“ bedeutete, dass die Kinder am frühen Morgen in einen Linienbus stiegen, bis zur Endstation fuhren und den Tag unter Betreuung irgendwo am Stadtrand verbrachten. Abends fuhren wir dann wieder heim in unsere private Hölle, die sich Zuhause nannte. Wir machten das, denn wir kannten nichts anderes.

 

Die „Stadtranderholung“ wurde von öffentlichen Stellen bezahlt. Da wurden wir in Schulen untergebracht und irgendwelche Sozialarbeiter dachten sich irgendwelche Sachen aus, damit wir irgendwie sinnvoll beschäftigt waren. Vor allem gingen wir in diesen „Wäldern“ spazieren. Wir gingen auch ins Schwimmbad oder in den Zoo. Ich erinnere mich vor allem an das Gefühl drückender Hitze und nicht endender Ödnis. Wir Kinder wurden nicht gefragt. Wir wurden aufbewahrt. Unsere Eltern konnten sich keinen Urlaub leisten, und irgendwo mussten wir ja hin. Ich habe viele Wochen in den Sommerferien so verbracht.

 

In dieser Stadtranderholung hatten die Christen das Sagen. Ihre „frohe Botschaft“ wurde uns Kindern vor allem durch das gemeinsame Absingen christlichen Liedguts nahe gebracht. Jeden Morgen und jeden Abend wurde erst mal ausgiebig gesungen. Vor allem ein Machwerk ist mir in Erinnerung geblieben. Es gab Jahre, da wurde das in der „Stadtranderholung“ an jedem Morgen und an jedem Abend gesungen. Im Chor. Wir Kinder wurden nicht gefragt. Wir machten mit. Wir kannten nichts anderes:

 

Danke

 

Danke für diesen guten Morgen,

Danke für jeden neuen Tag.

Danke, dass ich all meine Sorgen

Auf dich werfen mag.

 

Danke für alle guten Freunde,

Danke oh Herr für jedermann,

Danke, wenn auch dem größten Feinde

Ich verzeihen kann.

 

Danke für meine Arbeitsstelle,

Danke für jedes kleine Glück.

Danke für alles Frohe, Helle

Und für die Musik

 

Danke für alle Traurigkeiten,

danke für jedes gute Wort.

Danke, dass deine Hand mich leiten will

An jedem Ort.

 

Über sechs oder sieben Strophen ging das so. Die Melodie war eingängig - den meisten von uns Kindern ging dieser Singsang den ganzen Tag nicht mehr aus dem Kopf. Viel später begriff ich, dass die Gehirnwäsche gerne musikalisch und honigsüß daherkommt.

 

Ich hatte drei Geschwister. So ziemlich jeder Tag, an dem wir aufwachten, war für uns ein grässlicher Tag. Ein Tag der Folter, ein Tag des Grauens, ein Tag der leeren Hoffnungslosigkeit.

Danke für diesen guten Morgen, Danke für jeden neuen Tag …

Unsere leiblichen Eltern schlugen uns jeden Tag. Sie machten uns absichtsvoll und systematisch das Leben zur Hölle. Sie dachten sich laufend neue Methoden aus, uns Lebensfreude und Vertrauen auszutreiben.

Danke für alle Traurigkeiten …

 

Und Sorgen – ich ging damals noch zur Grundschule. Manchmal schien mir mein ganzes Leben nur noch aus Sorgen zu bestehen. Und so viel ich auch versuchte, sie auf den Herrn zu werfen – sie wurden einfach nicht weniger.

Und als Autist hatte ich natürlich auch keinen einzigen Freund. Weder einen guten noch einen schlechten.

 

Und so weiter.

 

Aber jeden Morgen und jeden Abend ging das in der „Stadtranderholung“ mit diesem aufgezwungenen Singsangsing los:

„Danke, für diesen guten Morgen …“

Es gibt viele Arten, ein Kind verrückt zu machen – das ist eine davon.

 

 

Später kamen mir die Christen abermals mit ihrer „Dankbarkeit“ daher. Diesmal gepaart mit Vergebung bzw. Verzeihung. Ich erinnere mich gut, wie ich als Jugendlicher in einem Kloster mit einem Mönch fürchterlich aneinander geriet, weil ich sein Konzept des generellen Verzeihens nicht ungeprüft übernehmen wollte. Für mich hatten die Christen so ziemlich allesamt einen am Sträußchen: Vergebt, wie ich euch vergeben habe – du kannst mich mal!

Aber ich kam lange Jahre nicht los von diesem Christentum.

 

 

Als junger Erwachsener sah ich keinen Ausweg mehr und begann eine extrem intensive Psychotherapie. Das war eine von diesen Therapieformen, die es nicht auf Krankenschein gibt. Aber ich war am Ende. Ich wusste mir keinen Ausweg mehr. Es war eine Gruppentherapie. Wir redeten nicht, in dieser Therapie. Wir gingen in unsere Gefühle. Was wir da erlebten, war jenseits jeder Beschreibung.

Anfangs hatte ich geplant, ein paar Wochen in diese Therapie zu gehen, maximal anderthalb Jahre. Danach wollte ich geheilt sein. Am Ende wurde es 16 Jahre.

 

 

Mit den Jahren ging es mir allmählich besser. Es ging mir nicht gut. Aber ich und andere merkten, dass der nicht endende Alptraum, in dem ich immer gelebt hatte, allmählich leichter wurde.

 

Und irgendwann – nach zehn Jahren oder so - saß ich nach Ende einer dieser mehrstündigen Therapiesitzungen noch in meinem Auto. Das Auto stand auf dem Parkplatz vor der Praxis der Therapeuten. Es war ein lauer Sommerabend. Und anstatt das Auto zu starten und heimzufahren (mehrere hundert Kilometer) saß ich im Auto und war einfach nur da. Ich saß im Auto und war da. Sonst nichts. Ich schaute auf die hohe, rote Ziegelmauer, hinter der der Garten des Therapeutenpaars lag. Die Schatten der Ziegel veränderten sich mit dem Lauf der Sonne. Ich sah das und ich war einfach nur da. Sonst nichts. Und es war gut. Alles war gut. Alles durfte sein. Das erlebte ich zum ersten Mal in meinem Leben. Ich war über 30 Jahre alt.

 

 

Als ich heimfuhr, wuchs in mir ein tiefes Gefühl der Dankbarkeit. Ich kannte nicht die Quelle und ich wusste auch nicht, wofür ich da im einzelnen dankbar war. Aber ich war dankbar, und es war gut.

Das war aber meilenweit entfernt von dem aufgezwungenen psychotischen Singsangsing meiner Kindheit.

Das hier war echt. Das hier kam von innen. Das hier nahm alles wahr und auf. Das Denken war nicht abgeschaltet. Das Fühlen war nicht abgeschaltet. Ich war da und nahm wahr.

 

 

Heute ist Dankbarkeit in meinem Leben eine so starke Kraft geworden, dass ich beschlossen habe, dass das auf meinem Grabstein stehen soll:

„Danke“

sonst nichts.

 

Ich habe es verflucht schwer gehabt in meinem Leben. Ich habe beinahe nie jemanden getroffen, bei dessen Schilderungen ich den Eindruck hatte: „Oh, den hat es ja noch schwerer erwischt als mich!“ Die Hypothese, an der ich zur Zeit in diesem Zusammenhang arbeite ist:

Wen es als Kind substantiell schwerer getroffen hat als mich, der hat nicht überlebt.

Oder anders ausgedrückt:

Es gibt ein gewisses Quantum an Grausamkeit, das ein Kind erfahren und überleben kann. Und dieses Quantum habe ich abbekommen.

 

Dennoch:

Ich habe auch unheimlich viel Glück gehabt.

·      Ich bin mit einem Maß an Resilienz ausgestattet, das locker für drei bis fünf Personen reichen würde.

·      Ich habe immer wieder die richtigen Leute getroffen, die mir weiter helfen konnten.

·      Immer wieder ist mir in entscheidenden Situationen der blanke Zufall zu Hilfe gekommen.

·      Ich habe das Asperger-Syndrom und bin dadurch seelisch deutlich belastbarer als die meisten anderen Menschen.

·      Und so weiter.

 

Einschub

Und nein, ihr lieben Christen, euer „lieber Gott“ hat damit sicher nichts zu tun. Wenn der so „lieb“ wäre, wie ihr behauptet, hätte er in seinem „unerforschlichen Ratschluss“ nicht meine drei Geschwister so grausam zugrunde richten lassen. Ich habe vor allem meine jüngere Schwester über alles geliebt. Und meine leiblichen Eltern haben Stück für Stück die Seele aus ihr rausgedroschen. Und wer noch nie erlebt hat, wie ein Kind unter der permanenten Folter zusammenbricht und schließlich zerbricht, dem verweigere ich in dieser Sache kategorisch jedes Mitspracherecht. Euer Gott, den ihr euch ausgedacht habt, hat sicherlich nichts damit zu tun. Singt ihr in euren Kirchen und Vereinigungen weiterhin eure frohen Lieder und lasst mich in Ruhe.

Einschub Ende

 

Die Dankbarkeit, die in mir gewachsen ist, ist ziemlich umfassend

·      Ich fahre und gehe auf Straßen, die ich nicht gebaut habe. Das hat irgendwer (auch) für mich getan – vielen herzlichen Dank dafür.

·      Wenn ich den Wasserhahn aufdrehe (den ich weder produziert noch installiert habe) fließt da zuverlässig klares und sauberes Wasser raus. Das hat irgendwer (auch) für mich in die Wege geleitet. Vielen herzlichen Dank dafür.

·      Wenn ich Zahnschmerzen habe, kann ich zuverlässige Schmerzmittel bekommen, die ich gut vertrage. Als ich Kind war, haben meine Eltern einen Zahnarzt für mich gefunden, der genauso sadistisch veranlagt war wie sie. Ich hatte in sämtlichen Backenzähnen tiefe Löcher. Die hat er allesamt aufgebohrt, ohne Schmerzmittel zu benutzen. „Denn jeder Schmerz erfüllt einen tieferen Zweck“. Wer das als Kind erlebt hat – sämtliche Backenzähne ohne Betäubung aufgebohrt zu bekommen bis zur Wurzel, ohne Schmerzmittel – der weiß in ungefähr, was Schmerzen sind. Vor diesen Schmerzen bin ich dank dieser Schmerzmittel in Zukunft auf immer gefeit. Diese Mittel habe ich nicht erfunden. Das hat irgendwer (auch) für mich getan. Vielen herzlichen Dank dafür!

·      Diese Liste ließe sich beinahe endlos fortsetzen: Jedes Mal, wenn ich mein Auto starte, weiß ich, dass da über 2.000 Jahre emsige Forschungs- und Entwicklungsarbeit von Millionen von Denkern, Wissenschaftlern und Ingenieuren drinsteckt. Und irgendwer hat dieses Auto gebaut, so dass ich es fahren kann – ich selber könnte das nicht. Wenn ich Traktoren über die Felder fahren sehe, erinnere ich mich oft an die lebhaften Schilderungen meines Vaters, der als kleiner Junge in der traktorlosen Zeit auf dem Feld arbeiten musste – was war das für eine Knochenarbeit! Und so weiter, und so weiter.

 

Ich sage nicht, dass mein Leben aus reiner Dankbarkeit besteht. Aber sie ist ein beherrschender Teil meines Lebens geworden. Ich bin einfach nur da und nehme wahr und empfinde diese tiefe Dankbarkeit.

 

Damit da keinerlei Missverständnisse aufkommen:

Ich bin weder Heiliger noch erleuchtet oder sonstwas. Ich stecke immer noch hüfttief – und tiefer – in der Vergangenheit, aus der ich kam.

Wenn wir als Kinder Gefühle haben, die zu schlimm sind, als dass wir sie erleben könnten, töten wir diesen Teil in uns ab und spalten ihn ab. Wir schieben ihn aus dem Bewusstsein. Diese toten, abgespaltenen Teile von uns speichern wir in unserem Körper – vor allem in unseren Muskeln und in unseren Organen. Mein Körper ist auch heute noch randvoll unerlöster Gefühle. Mein Körper ist so voll mit dieser noch unbewältigten Vergangenheit wie Dagobert Ducks Geldspeicher mit Talern voll ist.

Es vergeht kein Tag und beinahe keine Nacht, in der meine fürchterliche Kindheit nicht zu Gast bei mir ist. Das ist Teil meines Lebens und wird es für immer sein.

 

Seit einigen Wochen ist in mir wieder sehr präsent, dass meine Eltern mich abtreiben wollten, als meine Mutter im achten Monat schwanger mit mir war. Ein brutaler, grausamer Angriff auf mich noch im Mutterleib. Ich erinnere nicht alle Einzelheiten, aber ich bin dicht dran.

Danke für diesen guten Morgen

Nach der Geburt ging das nahtlos so weiter. Unter irgendeinem Kissen oder sowas sollte ich erstickt werden. Ich habe immer noch keinen guten Zugang zu diesem Teil von mir. Aber ich komme diesem Ersticken und dieser schrecklichen Angst immer näher.

Danke für jeden neuen Tag

Meine leibliche Mutter wollte mich nicht haben. Sie wollte mich tot oder zumindest weg haben. (Kein Wunder, dass ich später verkauft werden sollte). Für sie und ihren Körper war ich derart tot, dass sie schon anderthalb Monate nach meiner Geburt erneut schwanger wurde. Das alles hat sich in mir von frühester Zeit an ganz tief eingeprägt. Ich habe als Kind immer gewusst, dass es viel besser ist, tot zu sein als lebendig. Das ist sozusagen in mein Genom eingestempelt. Zahllose Situationen aus meinen ersten Lebenstagen und –wochen sind da in mir präsent und verlangen, dass ich mich ihrer annehme.

Danke, dass ich all meine Sorgen auf dich werfen mag.

 

 

Die meisten Christen haben für mich ziemlich einen am Sträußchen.

Aber es gibt Wege aus dieser alles verschlingenden Schwärze.

Und dafür bin ich zutiefst dankbar.

Und für vieles, vieles andere auch.

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21. Juli 2017

Die Glotzgesichter

Ich kenne nicht viele AS. Mit einigen habe ich gesprochen. Mit einigen tausche ich Emails aus. Und von wieder anderen habe ich gelesen, was sie in ihren Blogs bzw. in Foren schreiben. Es sind zahlenmäßig nicht viele. Aber bei den meisten fiel mir auf, dass sie ganz offensichtlich immer die Furcht haben, übergriffig zu sein bzw. anderen ungewollt zu nahe zu treten.

 

Ich kenne bestimmt über 1.000 NTs so gut, dass ich sagen kann, dass ich sie „einigermaßen“ gut kenne. Oder anders ausgedrückt: Ich kenne sie mindestens ebenso gut wie ich die AS kenne, von denen ich oben schrieb. Ich arbeite in einem beruflichen Umfeld, das mich unweigerlich in häufigen, intensiven Kontakt mit NTs bringt. Und das nicht auf einer sachlich-distanzierten Ebene, sondern auf einer sehr intensiven und persönlichen Ebene.

Ich kenne also hinreichend viele NTs hinreichend gut. Und bei den allermeisten von ihnen fällt mir auf, dass sie ganz offensichtlich nicht die Furcht haben, übergriffig zu sein bzw. anderen zu nahe zu treten. Es gibt Ausnahmen, klar. Aber die überwiegende Anzahl der NTs wird von der überwiegenden Anzahl der AS vermutlich als distanzlos und übergriffig erlebt.

 

Das scheint ein ziemlicher Unterschied zwischen NTs und AS zu sein – unser Verhältnis zu Nähe bzw. Distanz: Wann ist ein ungewolltes zu nahe sein tatsächlich zu nah? Wann ist jemand distanzierter, als er sein sollte?

Es gibt NTs, die verglichen mit anderen NTs ziemlich introvertiert sind. Die scheinen einen ähnlichen Respekt vor dem Distanzbedürfnis des anderen zu haben, wie ich ihn auch bei den AS regelmäßig erlebe.

Aber die Masse der NTs …

 

Ich will das für die NTs unter meinen Lesern an einem Beispiel aus dem täglichen Leben deutlich machen, das mir immer wieder ziemlich unangenehm auffällt: Die Glotzgesichter.

 

Mir fällt das jedes Mal auf, wenn ich bei uns im Supermarkt einkaufe und an den zahlreichen Zeitschriften vorbeigehe, die dort zum Verkauf ausliegen: Speziell bei den auflagenstarken Magazinen – Fernsehzeitschriften, Klatsch- und Tratschpostillen, Frauenpresse – scheint auf buchstäblich jedem Titelblatt ein Gesicht abgebildet zu sein. In Farbe. Seitenfüllend. Und dieses Gesicht … Das! Starrt! Dich! An! Distanzloser geht es nicht.

 

Ich bin da jedes Mal aufs Neue fassungslos. Aber es scheint genau das zu sein, was NTs mögen: Dass irgendein menschliches Gesicht sie grinsend anstarrt. Anders kann ich mir das nicht erklären. Die Blattmacher haben ja sicher zahlreiche Untersuchungen dazu gemacht, welche Form von Titelblattgestaltung die Impulskäufer am ehesten anzieht und zum Kauf verleitet. Ganz offenbar ist es ein starrendes menschliches Gesicht.

 

Aus meinem Psychologiestudium kenne ich zahlreiche Untersuchungen, die zeigen, dass schon Säuglinge Gesichter wesentlich länger anschauen als andere Motive – Landschaften, abstrakte Muster etc. Irgendwas in den NTs wird durch Augen, die sie anschauen, wie magisch angezogen. Sie müssen da hingucken. Sie finden das sympathisch. Vermutlich hat das mit ihrer permanenten Suche nach emotional-sozialer Zuwendung zu tun.

 

Ich werde durch sowas wie magisch abgestoßen. Ich empfinde das als zudringlich, als übergriffig, als distanzlos. Ich bin angewidert davon. Ich will nicht angestarrt werden. Ich finde das nicht schön. Ich finde das nicht einladend. Wenn die Frau, mit der ich de jure verheiratet bin, solche Postillen nach Hause bringt und irgendwo hinlegt, drehe ich sie immer so, dass das Titelbild nach unten zeigt. Dummerweise ist auf der Rückweise der Zeitschrift in der Regel irgendeine Werbung abgebildet. Und auf eben dieser Werbung ist wieder ein seitenfüllendes Gesicht. In Farbe. Und dieses Gesicht … Das! Starrt! Dich! An! Die reine Distanzlosigkeit.

 

Für mich ist das dann jedes Mal wie ein Alptraum, der nicht endet. Ich lege dann immer ein Tuch oder sowas über die Zeitschrift. (Und die Frau, mit der ich de jure verheiratet bin, fragt sich immer wieder, wo denn ihre Fernsehzeitschrift hingekommen ist). 

 

Irgendwann fiel mir auf, dass meine AS-Tochter genauso reagiert wie ich. Sieht sie irgendso ein Glotzgesicht in ihrem Blickfeld, dann geht sie hin und dreht diese Zeitung um. Damals lebte auch noch meine NT-Tochter bei uns. So stand es zwei zu zwei: Zwei Leute drehten die Zeitschrift immer um, so dass das Gesicht nicht zu sehen war und die beiden anderen drehten wie im Reflex diese Zeitschrift wieder um, so dass das Titelblatt wieder nach oben zeigte. Irgendwann dachte ich mir, dass vermutlich in keinem Haushalt in ganz Hessen die Zeitschriften so oft umgedreht werden wie bei uns.

 

Mit den Plakatwänden, die in den NT-Städten wie selbstverständlich zum Straßenbild gehören, verhält es sich genauso: Glotzgesichter machen den weitaus größten Teil der abgebildeten Motive aus. Das ist für mich jedes Mal so als würde ich angeschrien werden. Schreiende Plakate – überall. Die reine, brüllende Distanzlosigkeit in Übergröße. Das tut mir körperlich weh. Die NTs, mit denen ich diesen Planeten teile, scheinen deutlich weniger sensibel zu sein als ich. Diese Plakate stören sie nicht. Mich schon. Und wie.

 

Und eine Sache ist an diesen Plakaten sehr eigentümlich. Das ist etwas, was schon bei den Zeitschriften auftaucht. Aber bei den Plakaten ist es buchstäblich nicht mehr zu übersehen, auch beim besten Willen nicht:

Beinahe jedes dieser Glotzgesichter grinst. Und beinahe jedes Grinsen oder Lächeln dieser Glotzgesichter ist nicht echt. Definitiv nicht. Es ist ein falsches Lächeln. Auf beinahe jedem Plakat. Es ist eine grinsende Maske.

Und den NTs fällt das nicht auf. Erst habe ich es nicht glauben wollen. Aber dann habe ich Befragungen bei NTs gemacht. Ich habe ihnen Gesichter auf Plakaten gezeigt. Ich habe ihnen Gesichter auf Werbebroschüren gezeigt. Ich habe ihnen Gesichter auf Zeitschriften gezeigt:

Sie waren nicht in der Lage zu erkennen, dass dieses Grinsen bzw. Lächeln aufgesetzt war. Keiner von ihnen. Sehr eigentümlich. Denn die NT-Wissenschaftler, die sich damit beschäftigen sagen ja, dass wir AS Schwierigkeiten haben, Emotionen aus Gesichtern zu lesen. Da ist bestimmt etwas dran. Was mich betrifft – ich versage beim Augenpartientest kläglich. Und anderen AS, die ich kenne, ergeht das genauso. Aber eines ist sicher – ich traue mir zu, binnen Sekundenbruchteilen zu erkennen, ob ein grinsendes Gesicht eine Maske ist oder nicht.

 

Also halte ich als jetzt mal als Arbeitshypothese fest:

NTs finden in Gesichtern, die sie anlächeln Trost und Zuspruch. Ob dieses Lächeln falsch oder echt ist, ist ihnen dabei völlig gleichgültig. Hauptsache, sie werden angelächelt.

 

Ich selber hasse das. Aber ich bin nur einer. Deshalb habe ich in dieser Sache nicht viel zu melden. Wegen meines Unwohlseins wird nicht eine einzige Plakatwand verschwinden. Ich werde mir deshalb eine Wohnumgebung suchen, in dem dieses falsche Lächeln mir möglichst selten begegnet. Irgendeine Form von Einöde schwebt mir da vor. Weit weg von den NTs und ihren eigentümlichen visuellen Bedürfnissen. Irgendwann werde ich so leben. Und dann werde ich nicht mehr von Glotzgesichtern angestarrt werden. Man stelle sich das vor: Eine Welt ohne distanzlose Glotzgesichter an jeder Ecke! Das muss eine Wohltat sein.

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15. Juli 2017

Das Vorbild

Laut Wikipedia ist ein Vorbild eine Person oder Sache, die als richtungsweisendes oder idealisierendes Muster oder Beispiel angesehen wird.

 

Sowas habe ich nie gehabt. Ich hatte in meiner Kindheit keinen Helden, dem ich nachgeeifert hätte – keinen Ritter, keinen Raumfahrer, keinen Indianer, keinen Cowboy, keinen Abenteurer. Auch als Jugendlicher oder junger Erwachsener – Fehlanzeige. In meinem Zimmer hingen nie Poster von irgendwem. Ich habe nie irgendwas von irgendwem gesammelt, Kleidung oder Haare nach einem Vorbild getragen oder mein Verhalten an irgendeinem Vorbild ausgerichtet. Ich war nie Fan von irgendwas.

 

Das alles war nicht Resultat von irgendeinem Beschluss, den ich irgendwann mal gefasst hatte: „Ich will nie ein Vorbild haben!“ Nein, es ergab sich einfach nichts. Es gab niemanden, dessen Art, in der Welt zu sein, mich angesprochen oder sogar fasziniert hätte. Selbst die Indianer, die in den Filmen, die ich sah, so frei zu sein schienen, waren sehr rasch entzaubert. Ich hatte ein reich bebildertes Buch, in dem das Leben und die Kulturen der verschiedenen Stämme Nordamerikas zur Zeit des ersten Kontakts mit den weißen Einwanderern beschrieben wurde. Von der Ostküste bis zur Westküste wurden die großen Stämme intensiv und recht objektiv beleuchtet. Ich habe oft und viel in diesem Buch gelesen und war stets aufs Neue ernüchtert: Nein, Indianer sein war auch nichts für mich.

 

So ist es bis heute geblieben.

 

Als ich 16 Jahre alt war, beschloss ich von einem Tag auf den anderen, mein Leben in die Hand zu nehmen. Ich suchte intensiv nach Vorbildern oder Menschen, von denen ich was über Lebensführung lernen könnte und fand viele Jahre keinen einzigen. Die Menschen, denen ich begegnete, führten durchweg ein Leben das mir nichts sagte, oder das ziemlich abschreckend für mich war.

 

Also zog ich Bücher zu Rate. Ich habe hunderte Bücher, die sich irgendwie mit Lebensführung beschäftigten, aus Leihbüchereien nach Hause geschleppt. Und ich habe sie tatsächlich auch gelesen! Aber ich wurde nicht fündig. Immer wieder fand ich interessante Ansätze, aber die zerbröselten dann immer zu nichts, wenn ich sie genauer betrachtete.

Klar gab es bei den Philosophen das eine oder andere Buch, das sehr interessant zu sein schien. Aber dann zog ich immer Erkundigungen ein, wie dieser Philosoph denn gelebt hatte und prallte jedes Mal entsetzt zurück. Vorbild ist für mich jemand immer nur durch die Art, wie er lebt, niemals durch das, was er schreibt. So ging es mir auch mit den zahlreichen Christen, denen ich begegnete. Immer wieder dachte ich: „Na, wenn Christus wirklich der Erlöser war, dann müsstet ihr aber wirklich erlöster aussehen!“

 

Die ganzen Schriftsteller, die ich las (und ich habe sehr viele gelesen) schlugen sich fast alle mit irgendwelchen Problem rum, die ich nicht hatte. Und die wenigen, die Themenbereiche anrissen, die mein Leben auch betrafen - Einsamkeit, Eigenständigkeit, Sinn des Lebens etc. schrieben entsetzlich blödes Zeug zusammen. Das konnte ich wirklich nicht gebrauchen.

 

Ich traf ein paar Psychotherapeuten, von denen ich sehr viel über Gefühle lernte. Ich bin ihnen noch heute sehr, sehr dankbar dafür. Aber wie diese Menschen ihr Leben führten … Das war wirklich überhaupt nichts für mich!

 

So ist es bis heute geblieben.

 

Die Menschen, denen ich heute begegne, führen ein Leben, das ich nun überhaupt nicht leben will. Nicht mal in Ansätzen. Und Bücher – ich lese beinahe nur noch Comics und wissenschaftliche Literatur. Ich habe es aufgegeben, im Gedruckten oder in Filmen nach irgendwas zu suchen, was mein Leben bereichern könnte, weil es in irgendeiner Weise Vorbildcharakter für mich hätte.

 

Das gilt auch für die zahlreichen sozialen Rollen, die ich ausfülle: Ehemann, Vater, Nachbar, Kollege etc. Wenn ich sehe, wie andere Menschen diese Rollen ausfüllen, komme ich immer zum selben Schluss: So will ich nicht leben! Auf gar keinen Fall!

 

Seit etwas mehr als fünf Jahren weiß ich definitiv, dass ich Autist bin. Seit dieser Zeit beschäftige ich mich intensiv damit, was es für mich konkret bedeutet, ein autistisches Leben zu führen. Wie kann ich als Autist so leben, dass dieses Leben zu mir passt? Die meiste Zeit scheint mir nichts wichtiger zu sein, als diese Frage zu klären. Ich denke sehr viel darüber nach und probiere sehr viel aus. Aber auch hier finde ich keine Vorbilder.

 

Ich habe im Internet gesucht. Dort fand ich praktisch keine Hinweise, dass irgendeinen Autisten diese Frage auch beschäftigt. Die wenigen Spuren, die ich fand, führten schließlich zu nichts.

Ich habe mich in zwei deutschsprachigen Autistenforen umgeschaut. In dem einen wurde meine Frage nicht verstanden, im anderen scheint sie keinen Widerhall gefunden zu haben. Ich weiß nicht, was die ganzen anderen Autisten so treiben. Die Frage, wie ein autistisches Leben aussehen könnte, scheint in ihrem Leben jedoch nicht vorherrschend zu sein.

 

Seit die Frau, mit der ich de jure verheiratet bin, allmählich akzeptiert, dass ich tatsächlich Autist bin, tauchen bei mir daheim immer wieder nichtwissenschaftliche Bücher über Autismus auf. „Ein Kaktus zum Valentinstag“ – die Frau mit der ich de jure verheiratet bin, war hellauf begeistert und wollte unbedingt, dass ich das auch lese. Ich quälte mich mühsam durch eine halbe Seite. Dann fiel mir das Buch buchstäblich aus der Hand. Sowas kann ich nicht lesen! Auf gar keinen Fall!

 

So habe ich bislang auch unter den Autisten keine Vorbilder gefunden.

 

Wenn mein Leben eine Landschaft ist, dann bestimmt schon seit Jahrzehnten die reine Weglosigkeit mein Leben. Da, wo ich bin, begegne ich niemandem. Nach allem, was ich sehen kann, war noch nie jemand hier. Ich finde keinerlei Pfade, Spuren oder auch nur Fußabdrücke, die darauf hinweisen, dass irgendwelche Menschen in der Nähe waren oder sind.

 

Aber das ist nicht weiter schlimm.

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02. Juli 2017

NT-Vergiftung

Als ich amtlich als Asperger-Autist (AS) diagnostiziert wurde, war ich beinahe 50 Jahre alt. Da war es für vieles schon zu spät.

 

Ausbildung, Beruf, Familie, Lebensplanung – alles war auf ein Leben eines Neurotypischen (NT) abgestellt. Auf das Leben eines reichlich verschrobenen und exzentrischen NTs, keine Frage. Aber es war ein NT-Leben, das ich da führte. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte ich sehr viel Zeit, Gedanken- und Lebenskraft in die Anpassung an diese Welt investiert. Ich war in intensiven Psychotherapien auf Ursachenforschung in meiner frühen und frühesten Kindheit gegangen. Ich wollte endlich den finalen Grund, die tiefliegende frühkindliche Verletzung finden, die dazu geführt hatte, dass ich solch einen Hang zum Einsiedler und zum Abschotten hatte.

 

Damit habe ich über drei Jahrzehnte zugebracht. Es verging beinahe kein Tag, an dem ich mich nicht intensiv damit beschäftigte, wie ich es schaffen könnte, so zu sein, dass ich mich in die Menschenwelt irgendwie einfügen konnte. Das war von sehr viel Verzweiflung begleitet, von immer wieder aufkeimenden Hoffnungen, jetzt doch den richtigen Dreh gefunden zu haben – die dann aber doch allesamt wieder enttäuscht wurden.

 

Und was für ein sozialer Druck all die Jahrzehnte auf mich ausgeübt worden war!

Ich habe ein paarmal die Arbeitsstelle verloren, weil ich so merkwürdig war. Über vier Jahre wurde ich in dem Konzern, in dem ich arbeite, intensiv gemobbt, weil ich so verschroben war. Einige Psychotherapeuten haben mir wirklich eingeheizt, in dieser Zeit. Die Frau, mit der ich de jure verheiratet bin, rückte mir regelmäßig auf die Pelle, um mich darauf einzuschwören, mich doch endlich anzupassen und nicht immer so entsetzlich anders zu sein. Wohlmeinende Kollege (und von denen gibt es wirklich viele in meinem Leben), überhäuften mich geradezu mit guten Ratschlägen und konkreten Hilfsangeboten.

 

Und ich?

Ich gab mir wirklich alle Mühe.

Ich setzte alle Ressourcen ein, die mir zur Verfügung standen – Verstand, Herz, Geld, Zeit, Lebensenergie – nimm was du willst: Ich habe mich nicht geschont. Ich habe an nichts gespart. Wenn ich etwas will, dann will ich das. Das war schon immer in meinem Leben so.

 

Die allermeisten NTs, die auf diese Weise dazu beitrugen, mir das Leben zur Hölle zu machen und mich in Wahnsinn und Verzweiflung zu treiben, meinten es wirklich gut mit mir. Sie mochten mich und ich mochte sie, und sie gaben sich wirklich ganz viel Mühe mit diesem verschrobenen Sonderling. Wir alle wussten nicht, worum es in Wirklichkeit ging.

 

So ziemlich zu den ersten Dingen, die ich nach meiner Diagnose in Angriff nahm, gehörte es, den Dingen in meinem Leben den richtigen Platz zuzuweisen und ihnen den richtigen Namen zu geben. Jetzt, nach meiner Diagnose, fügte sich ganz vieles in meinem Leben wie zu einem gigantischen Puzzle. Ganz vieles in meinem Leben, was vorher überhaupt nicht gepasst hatte, passte auf einmal und ergab ein stimmiges Bild! Ich fing an, in meinem Leben Ordnung zu schaffen. Das war eine Tätigkeit, die mich sehr erfüllte.  

 

Und sehr rasch stellte ich fest:

Ich halte es mit den NTs nicht aus. Mehr noch:

Ich habe immer wieder Schübe von NT-Vergiftung.

 

Was ist eine NT-Vergiftung?

Das ist nicht einfach zu beschreiben. Zunächst mal für die AS unter meinen Lesern: Es ist weder Meltdown noch Shutdown noch Overload. NT-Vergiftung kann zwar manchmal Züge dieser Überlastungszustände aufweisen. Aber es ist etwas grundlegend anderes.

 

Wenn ich NT-Vergiftung habe, dann muss ich alleine sein. Dann ertrage ich keinen einzigen NT mehr in meiner Umgebung. Das bedeutet aber nicht, wie bei einem Shutdown Rückzug in die eigenen vier Wände, Tür zu und Licht aus, sondern im Gegenteil: Raus in den Wald - irgendwohin, wo NTs nicht hingehen.

 

Würde ich mich in meiner Wohnung verkriechen, dann wären die NTs ja immer noch da. Nur wenige Meter weiter würden sich die nächsten aufhalten. Das wäre der absolute Horror für mich.

 

Einschub

Liebe NTs, verschont mich an dieser Stelle bitte mit eurem ewigen „Ja, ich muss ja auch oft alleine sein.“ Wirklich! Ich kann’s nicht mehr hören! Ihr habt keine Ahnung! Also seid bitte einfach mal still und erzählt mir nicht, wie (hach so) autistisch sich euer Alltag gestaltet. Mein Bedürfnis nach Alleinsein übersteigt das eure um mehrere Zehnerpotenzen. (Und für die unter euch, die’s nicht so mit Mathematik haben: Ab drei Zehnerpotenzen spricht man von tausend. Also – mein Bedürfnis nach Alleinsein dürfte das eure um das hundertfache bis um das zehntausendfache übersteigen).

Einschub Ende

 

Ich hatte schon als Kind oft NT-Vergiftung. Ich lebte in einer Großstadt mit knapp 500.000 Einwohnern. Wir wohnten mitten in der Stadt in einem Armeleuteviertel. Wie ich das überlebt habe, ist mir bis heute ein Rätsel. – Wo immer ich auch war: NTs waren in unmittelbarer Nähe. Diese Großstadt war umgeben von lauter anderen Großstädten. Und schon immer hatte ich diesen unstillbaren Drang: Raus, raus, raus – so weit weg, bis keine Menschen mehr da sind.

 

Als ich ein kleines Kind war, war der Atlas mein großer Freund. Stundenlang lag ich auf dem Teppich und schaute mir Landkarten der ganzen Welt an. Ich schaute mir an, wo die großen Städte waren und wo die dichten, großen Wälder und die großen Gebirge. Ich studierte auf’s Genaueste speziell die Karten, auf denen die Bevölkerungsdichte in unterschiedlichen Farbschattierungen dargestellt wurde. In meiner Not träumte ich mich ganz oft ganz weit weg. Ich lebte auf weiten Grasebenen, auf Bergplateaus ganz weit oben, wo der Bewuchs schütter und kahl war. Die Luft war kühl und klar – und weit, meilen-, meilen-, meilenweit war außer mir keine einzige Menschenseele. 

 

Aber leider holte mich die Wirklichkeit beständig ein.

 

So sadistisch, grausam und moralisch verkommen meine Eltern auch waren – sie haben nicht versucht, den Autismus aus mir rauszuprügeln. Immerhin etwas.

Aber dafür gab es ja die anderen.

 

Weil meine Eltern zu arm waren, besuchte ich keinen Kindergarten. Aber dann kam die Schule. Und voller Entsetzen stellte ich fest, dass ich da jeden Tag hin musste. Da waren überall Menschen. Überall! Nirgends war man vor ihnen sicher. Nirgends! Es gab keinen Rückzugsort, kein Refugium, keinen Platz, wo ich garantiert alleine sein konnte – Nichts! Gar nichts! Und damit ich nicht auf dumme Gedanken kam, hatten sie das Schulgelände (mitten in der Großstadt) mit einer hohen Mauer umgeben. Das war für mich der Vorhof der Hölle. Das reine Grauen. Tag für Tag, Woche für Woche, Monat für Monat, Jahr für Jahr musste ich da hin. Und jedem Tag wurde mir meine Seele von den Menschen dort erst geschreddert und dann mit einer Dampfwalze plattgewalzt. Jeden Tag.

Natürlich ging ich dabei vor die Hunde.

Das, was meine Eltern von mir übriggelassen hatten, dessen nahmen sich die jetzt die Menschen in der Schule an.

Ich war von meinem Wunsch, alleine sein zu können, weiter entfernt als je zuvor.

 

Ich arrangierte mich mit diesem Vorhof der Hölle. Was blieb mir auch übrig? Mir war immer klar:

Irgendwann würde ich hier rauskommen. Und auf diesen Zeitpunkt arbeitete ich hin: Eisern, stumm, verbissen.

Mit der Zeit vergaß ich aber, wer ich war und was ich eigentlich wollte. Ein sehr großer Teil von mir dämmerte nur noch betäubt durch’s Leben. Ich vegetierte mehr als dass ich lebte. Ich vegetierte auf Autopilot. Ich wusste nicht mehr, wer ich war und was ich wollte.

 

Im Konfirmandenunterricht fragte uns der Pastor, was wir mal werden wollten.

„Reich!“ antwortete ich ihm wahrheitsgemäß.

Er sah mich tadelnd an. Aber er hatte keine Ahnung. Geld bedeutete Freiheit. Soviel hatte ich mittlerweile begriffen. Wenn ich also ein Leben führen wollte, wie es zu mir passte, brauchte ich dafür Geld, viel Geld. Und als der Pastor nach einer Zeit der intensiven christlichen Unterweisung erneut von jedem einzelnen wissen wollte, was er später mal werden wollte, blieb ich deshalb bei meiner Antwort.

Er sah mich tadelnd an und schüttelte nur stumm den Kopf. Vermutlich bangte er um mein Seelenheil.

 

„L’enfer c’est les autres!“ verkündete jemand im Philosophieunterricht. Ich war in der 12. Klasse. „Die Hölle, das sind die anderen!“ Das hatte allen Ernstes ein Philosoph namens Sartre verkündet.

„Aha“, dachte ich, „interessanter Gedanke. Und das ist der Grund, dass du mitten in Paris lebst?“ Außerdem fand ich den Mann speihässlich.

So richtig ernst nehmen konnte ich ihn nicht.

 

Als ich 22 Jahre alt war, wohnte ich zum ersten Mal alleine. Eine eigene Wohnung – nur für mich! Zwar immer noch mitten in der Großstadt. (Ich war Student). Aber wenn ich die Tür zumachte, war zumindest eine Tür zwischen mir und den anderen Menschen. Das hatte es in dieser Form noch nie in meinem Leben gegeben. Ich hatte bei meinen Eltern zwar irgendwann mal ein eigenes Zimmer bekommen (das war exakt 2,5 mal 2,5 Meter groß gewesen). Aber jetzt hatte ich endlich mal einen eigenen Lebensbereich für mich. Eine klitzekleine Insel – nur für mich. Großartig!

 

In der Diele stand ein Telefon. (Damals war noch Festnetzzeit. Handys waren noch nicht mal erfunden. Alle Telefone gehörten der Deutschen Bundespost, und man konnte sie von ihr mieten). Das allererste, was ich in dieser Wohnung machte, war, einen Schalter an der Leitung anzubringen, mit der das Telefon mit Strom versorgt wurde. Ich wusste, dass das verboten war. Ich wusste aber auch, dass mir das egal war. Dann betätigte ich diesen Schalter. Klick – das Telefon war tot. Herrlich. Ich ging in den Wohnbereich. Dort setzte mich in dieser uneingeräumten Wohnung auf den Teppich in eine Zimmerecke und drückte meinen Rücken in diese Ecke. Und. Saß. Einfach. Nur. Da.

Stundenlang.

 

Irgendwann war es auch gut, und ich machte irgendwas anderes. Aber ich kam immer wieder auf dieses Sitzen in der Ecke zurück. Seligkeit hieß in dieser Zeit oft:

Auf dem Fußboden in der Zimmerecke sitzen und die gegenüberliegende Wand anschauen. Das war meine Wohnung. Niemand klopfte an die Tür. Ich konnte einfach nur da sitzen und sein.

 

Dann begann dieser ewig lange Marsch durch die Institutionen, den die meisten machen müssen, die beruflich und sozial erfolgreich sein wollen: Studium, noch ein Studium und noch eins; die vielen Jobs, um das Studentenleben zu bezahlen, anbandeln mit dem anderen Geschlecht, gemeinsame Wohnung, gemeinsame Pläne, erster Job nach dem Studium, zweiter Job nach dem Studium … und so weiter, und so weiter.

 

Wäre dieser Text ein Film, würde jetzt vermutlich in Großaufnahme ein Kalender gezeigt, von dem in rascher Folge die Blätter abfallen.

 

In all diesen Jahrzehnten hatte ich so gut wie nie längere Zeit am Stück für mich.

Das ließ sich zum einen meistens nicht anders bewerkstelligen, aber zum anderen war ich ja weiterhin intensiv damit beschäftigt, so zu werden wie die anderen. Denn ich hatte ja gelernt, dass der Mensch ein soziales Wesen ist und unbedingt sozialen Kontakt braucht, um glücklich zu sein – je mehr, desto besser. Ich verspürte diesen Drang nach sozialem Kontakt weitaus seltener und weitaus weniger intensiv als jeder andere Mensch, den ich kannte. Alle waren sich einig, dass das ein untrügliches Zeichen war, dass mit mir was nicht stimmte. Dass ich weiterhin was aus meiner Kindheit verdrängte. Dass es für mich noch ein langer Weg bis zur seelischen Heilung war. Also – an die Arbeit: Werde gesund, werde wie die anderen. Werde ein soziales Wesen.

 

Wäre dieser Text ein Film, würde ich vermutlich jetzt ein süßes, kleines Ferkelchen in Großaufnahme leise grunzend von links nach rechts durch das Bild laufen lassen. Einfach so, weil mir gerade danach ist.

 

Als meine Töchter größer wurden, begann ich allmählich, mehr Zeit für mich zu beanspruchen. Manchmal war ich den ganzen Tag alleine draußen im Wald. Das fühlte sich sehr gut an. Wenn ich dann wieder zurückkam, stürzten ganz viele Menschen mit ihren sozialen Bedürfnissen auf mich ein. Das fühlte sich dann meistens weit weniger gut an. Mit den sozialen Bedürfnissen meiner Töchter hatte ich beinahe nie ein Problem. Aber all die Erwachsenen, die auch von mir liebgehabt werden wollten … die konnte allmählich der Teufel holen. Ich war doch nicht auch noch deren Vater! Ich wurde in dieser Hinsicht immer unleidlicher und renitenter.

 

Das nahm mir mein soziales Umfeld, speziell die Frau, mit der ich de jure verheiratet bin, ausgesprochen übel. Freunde hatte ich zu diesem Zeitpunkt schon lange keine mehr. (Ausgezeichnet!) Aber ich musste mich irgendwie mit dieser Frau und ihren Bedürfnissen arrangieren. Und dann gab’s da noch die Nachbarn und die Kollegen und die Leute im Supermarkt und die Leute an der Tankstelle … und, und, und. Sie alle waren und sind stets und überall sozial bedürftig. Und wie! Und damit kommen sie auf mich zu. Von mir wollen sie emotional-soziale Zuwendung. Und genau das löst bei mir NT-Vergiftung aus. 

 

Wenn ich NT-Vergiftung habe, kann ich keinen NT mehr um mich haben. Keiner soll mehr in Reichweite sein. Denn niemals kann ich sicher sein, dass sie nicht unvermittelt Kontakt mit mir aufnehmen, um emotional oder sozial betankt zu werden. Schon die harmlosesten Dinge nutzen die NTs in dieser Hinsicht schamlos aus. Nehmen wir mal an, ich bin zu Fuß unterwegs zum Bäcker. Irgend so ein NT sieht mich und fragt mich nach der Uhrzeit. Eigentlich ganz harmlos. Das hat weder mit emotionaler noch mit sozialer Zuwendung was zu tun. Nehmen wir weiterhin an, dass ich stehen bleibe und ihm die Uhrzeit sage, weil ich ja ein höflicher Mensch bin. (Was tatsächlich zutrifft). Wer garantiert mir dann bitte, dass nicht folgendes passiert:

„Ach, junger Mann, können Sie mir bitte gerade sagen, wie spät wir es haben?“

„Ja, kann ich. Es ist … genau 13 Uhr 25.“

„Ach vielen Dank, junger Mann. Ich hab‘ nämlich meine Brille vergessen, müssen Sie wissen. Und da kann ich meine eigene Uhr nicht mehr lesen (haha), das passiert mir manchmal so in der Eile …“

 

Wenn ich NT-Vergiftung habe, kann ich derlei überhaupt nicht mehr vertragen. Das ist für mich weitaus schlimmer, als mir anzuhören, wie jemand mit den Fingernägeln über eine Schultafel kratzt. Es geht einfach nicht mehr! Ende! Finito! Das muss aufhören! Definitiv!

 

Mit den Jahren fällt es mir immer schwerer, mich von einer NT-Vergiftung zu erholen. Ich nehme an, dass das einfach mit meinem zunehmenden Alter zu tun hat.

Darüber hinaus scheint es so zu sein, dass ich schneller an so einer Vergiftung leide als früher. Ich muss also raus. So, wie es jetzt ist, gehe ich vor die Hunde. Ich muss weg da.

 

Kaum eine Gegend in Europa ist so dicht besiedelt wie Deutschland. In dieser Hinsicht habe ich wirklich verdammtes Pech. Ich werde also meinen ständigen Wohnsitz verlegen müssen. In einem ersten Schritt werde ich in eine deutlich dünner besiedelte Gegend Deutschlands ziehen. Ich kann das Land nicht verlassen, weil ich ja hier arbeite. Und dann – wenn ich nicht mehr arbeite – dann werde ich erneut schauen, was zu mir passt. Unter Umständen werde ich sogar den Kontinent verlassen müssen. Ich verbringe in den letzten Jahren sehr viel Zeit damit, über diese Dinge nachzudenken.

 

Wenn ich so leben will, wie es zu mir passt, wird mich das vermutlich sehr viel Geld kosten. Deshalb bleibe ich dabei: Geld bedeutet Freiheit. Und für alle betrübten Pastoren: Vielleicht finde ich ja auch mein Seelenheil, wenn ich beginne, so zu leben, wie es zu mir passt. Auf jeden Fall ist es für mich ein absolut lohnendes Ziel dahin zu gehen, wo ich vor NTs und ihren sozialen Bedürfnissen dauerhaft geschützt bin. Auf dieses Ziel hinzuarbeiten mobilisiert in mir eine Menge an seelischen Ressourcen. Es erfüllt mich mit Zuversicht und Lebenslust. Vielleicht werde ich irgendwann nie mehr an NT-Vergiftung leiden!

„Auf!“ sage ich mir, „Lasst es uns anpacken! Ich bin sicher, da geht was!“

 

Und wenn dieser Text ein Film wäre, würde ich jetzt nochmal das Ferkelchen von vorhin auftauchen lassen, das in Großaufnahme neugierig in die Kamera schnuppert.

 

Und dann käme der Abspann.

 

Sie können jetzt abschalten.

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03. Juni 2017

Die Halle der Stille

Als man in der Oberstufe Leistungskurse wählen konnte, wählte ich einen Religions-Leistungskurs. Sowas war in dem Bundesland, in dem ich lebte, extrem selten. Aber egal. Als Jugendlicher und junger Erwachsener war ich dauernd auf der Suche nach Halt und Lebensperspektive. Deshalb probierte ich so ziemlich alles aus, was eben das versprach: Halt und Lebensperspektive.

Der Unterricht genügte allen wissenschaftlichen Ansprüchen, und ich lernte einen Haufen neuer Worte, die mordsmäßig interessant klangen: Kerygma, Agape, Eschatologie …

Das bedeutet also: Wir beschäftigten uns in diesem Religions-Leistungskurs nicht mit Singen und Beten, sondern wir näherten uns der Heiligen Schrift mit dem Verstand im Gepäck. Das versprach, interessant zu werden.

 

Mein anderer Leistungskurs war Chemie. Was sonst. Für Physik fehlten mir Zuneigung und Zugang zur  Mathematik (beides entwickelte ich erst viel später), und Biologie kam mir ziemlich unwissenschaftlich vor.

 

Dann standen in der zwölften Jahrgangsstufe die sogenannten Kursfahrten an: Klassenfahrten, die man mit seinem Leistungskurs unternahm. Der Chemie-Leistungskurs entschied sich, das Münchner Oktoberfest zu besuchen. Der Religions-Leistungskurs beschloss, die Woche im Kloster zu verbringen. Da fiel mir die Wahl sehr leicht.

 

Zur Vorbereitung dieser Kursfahrt wurden zwei der Mönche wurden bei uns vorstellig. Sie beantworteten uns einen Haufen Fragen. Ein paar Monate später rückten wir dann in dieses Kloster ein – zehn an Bibel und Gott interessierte junge Erwachsene mit dem Verstand im Gepäck. Konnte das gut gehen?

 

Es ging gründlich schief. Die katholischen Mönche, die uns während dieser Woche betreuten, verlangten von uns allen Ernstes, unseren Verstand an der Garderobe abzugeben, damit wir selig würden. Wir sollten nicht denken, sondern glauben. Und sie wollten uns vorschreiben, was und wie wir glauben sollten. Bei ihnen erwuchs der Glaube aus dem absoluten Gehorsam gegenüber der kirchlichen Autorität. So stand das auch in ihren Statuten. Da waren sie bei uns – insbesondere bei mir – an die richtigen geraten. Diese Woche wurde denkwürdig: Glaubensgehorsam gegen den Geist der Aufklärung.

 

Dennoch:

Noch nie hatte ich einen Ort kennen gelernt, der derart eindeutig der Stille geweiht war wie dieses Kloster. Wenn gerade keine Mönche anwesend waren, fühlte ich mich so wohl wie sonst kaum in meinem Leben. Wieder und immer wieder durchschritt ich diese langen, nur spärlich beleuchteten Gänge des Klosters, nur um sie erleben zu können. Diese Gänge schienen die Stille regelrecht zu atmen. Ich konnte gar nicht genug davon bekommen. Warum konnte es sowas nicht auch außerhalb von Klostermauern geben?

 

Ich war also weiterhin auf der Suche.

Und so nahm ich an einem evangelischen Kirchentag teil. Auf so einem Kirchentag ist es extrem wuselig – hunderttausende Besucher. Christen aller Art. Besucher, Schaulustige, Neugierige. Das ganze Messegelände und die halbe Stadt sind dieser Veranstaltung gewidmet.

 

Ich hatte mir ein extrem dichtes Programm zusammengestellt und hastete von Veranstaltung zu Veranstaltung. Da wurde ich plötzlich auf etwas aufmerksam, was mich extrem ansprach: Irgendeine der Messehallen war ausgewiesen als „Halle der Stille“.

Ich beschloss auf der Stelle, mein Programm sausen zu lassen und dorthin zu gehen.

 

Schnief. Schnauf. Husten. Tuschelige Gespräche. Knister-knister. – In der Halle der Stille war es gar nicht so still. Die Halle war gedrängt voll mit Menschen. Und Menschen machen eben Geräusche. Aber es war deutlich stiller und ruhiger als draußen. Es war angenehm dunkel. Jede Menge kleiner aber sehr stabiler Pappkartons boten sich als Sitzgelegenheit an. Die ganze Halle war voll davon.

 

Ich setzte mich da also irgendwo in eine dunkle Ecke und war still. Ich war für mich. Niemand sprach mich an. Niemand nahm Notiz von mir. Niemand drückte mir einen Flyer in die Hand. Und die wenigen Menschen, die sprachen, taten das ziemlich leise. Das war alles noch nicht Stille, aber es war sehr angenehm. Ich kam zur Ruhe, ich kam zu mir. Nichts passierte. Sehr gut! Ungefähr eine halbe Stunde ging das so.

 

Plötzlich fing irgendwer an, auf einer Querflöte zu spielen. Ich schaute auf. Ziemlich in der Mitte der Halle war ein optisch hervorgehobener Bereich. Dort hatten sich viele Menschen zusammengedrängt.

Dann hörte die Flöte auf und eine Frauenstimme intonierte einen religiösen Singsang:

„Lasst uns den Herrn anrufen!“

Da es vorher so still gewesen war, hörte man ihre helle Stimme bis in den letzten Winkel. Und jetzt kam auf einmal Leben in diese ganzen Halleluja-Schlümpfe. Darauf hatten sie alle offenbar die ganze Zeit gewartet. Und voller Entsetzen erlebte ich, wie plötzlich viele hundert Stimmen zu irgendeiner einfachen Melodie den Herrn lobpriesen, dass es einem in den Ohren dröhnte. Die ganze Halle bebte im Lob des Herrn. (Und der trug sicher Ohrenstöpsel). Ungefähr drei Minuten ging das so. Dann war das genauso plötzlich wieder zu Ende wie es angefangen hatte. Schnief, schnauf, husten, knister, raschel …. Und ich kam allmählich wieder zu mir. Ich grollte:

 

„Lasst uns den Herrn anrufen! Ja meine Fresse! Das war hier auf dem Kirchentag sicher nur ein Ortsgespräch! Konnten sie das nicht woanders tun?! Mussten sie ihren Krach auch hier in die Halle der Stille tragen?!“

 

Sie mussten. Exakt eine halbe Stunde später ging das wieder von vorne los. Die Frau mit der Querflöte fing an. Das Geflöte war offenbar Beginn eines Ritus, mit dem die Stille systematisch und rhythmisch zerstört werden sollte. Natürlich einzig zur Ehre des Herrn. Dann ließ sich wieder die andere Frau vernehmen, die ich im Dunkel der Halle nicht richtig sehen konnte:

„Lasst uns den Herrn anrufen!“

Und die meisten Menschen in dieser Halle schienen heilfroh, diese fürchterliche Last der Stille abwerfen zu können. Heilige Gesänge fluteten durch die Halle, dass es nur so dröhnte. Und dann – ganz plötzlich – war wieder Ruhe im Karton.

 

So konnte sich natürlich keine Stille entfalten. Offenbar wussten die Verantwortlichen dieser Halle das. Sie hatten das „Halle der Stille“ genannt, aber in Wirklichkeit war das die „Halle des periodischen Lärms“. Ich hatte noch nie einen Menschen getroffen, dem Stille so viel bedeutete wie mir. Und mir wurde klar, dass ich auch hier keinen finden würde. Das hier war wieder nur diese Pseudo-Stille all der Menschen, die mir auch heute noch begegnen und mir was von Stille vorfaseln: „Ja, ich brauch‘ es ja auch wirklich still, weißt du. Ich meine, nur in der Stille findet doch der Mensch erst so richtig zu sich selbst, verstehst du? Nur in der Stille hat er die Möglichkeit, eins zu werden mit sich und dem Universum. Also ganz ehrlich, ein Leben ohne Stille könnte ich mir überhaupt nicht mehr vorstellen (bla, fasel, schwätz – minutenlang).“

 

Ich dachte nach. Dann stand ich auf und ging langsam Richtung Ausgang. Was immer ich gehofft hatte, zu finden – hier würde ich es nicht finden. Die Halle war groß und gedrängt voll. Es dauerte, bis ich zur Treppe kam. Und richtig – ich ging gerade die Treppe runter, als ich wieder die Flöte hörte. Und dann diesen eintönigen Gesang:

„Lasst uns den Herrn anrufen!“

 

 

In meiner Welt gibt es keinen persönlichen Gott. Aber hier ein Vorschlag:

Lasst uns den Herrn anschweigen. Vielleicht haben wir dann endlich mal die Möglichkeit zu begreifen, worum es geht. Und für die, die an einen persönlichen Gott glauben: Vielleicht kommt er ja endlich mal zu Wort, wenn ihr die Klappe haltet. Wär‘ doch mal einen Versuch wert, oder?

 

Zum Schluss ein Hinweis für die, die an einen persönlichen Gott glauben und noch einen Schritt weiter gehen wollen:

Schweigt Gott an, und ihr werdet vielleicht erleben, dass er zurückschweigt. Damit meine ich nicht das Schweigen, wie es zwischen Paaren entsteht, die sich nichts mehr zu sagen haben. Im Gegenteil: Es ist das Schweigen, aus dem Stille entsteht. Ich versichere euch: Der Weg dahin lohnt.

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Kommentare: 2
  • #1

    NeoSilver (Mittwoch, 07 Juni 2017 13:28)

    Das scheint vielen Autisten eigen zu sein.
    In diesem Punkt sind wir uns ähnlich.

    Natürlich schaffen wir es auch einmal turbulente, laute, überreizende Situationen zu überstehen, allerdings kostet es sehr viel Energie, welche danach wieder vom Körper, in Form von Signalen wie Müdigkeit, Kopfschmerzen und sogar Mutismus, eingefordert wird.

    Ich hatte deinen Beitrag schon direkt nach der Veröffentlichung gelesen und habe am darauffolgenden Tag einen Spaziergang gemacht.
    Meine Spaziergänge sind immer wie Abenteuer, nur dass ich nicht auf der Suche nach etwas aufregendem bin, sondern auf der Suche nach Ruhe und Einsamkeit.

    Ich erreichte einen am Wald gelegenen Friedhof mit kleiner Kapelle davor.
    Auch wenn es eventuell morbide wirkt, empfinde ich diese Ruhe auf diesen Plätzen als anziehend.
    Geräusche werden dort nur vom Wind, welcher durch die Blätter weht und den Tieren, vorallem den Vögeln, verursacht.
    Es ist dort so ruhig, dass man seine eigenen Schritte im Gras oder Unterholz wahrnehmen kann.

    Aber was ich eigentlich erzählen möchte ist die Tatsache das ich währenddessen über deine Beiträge "Einsamkeit" und "Raum der Stille" nachhallend nachdachte.

    Ich bin mir nicht sicher, wie es deine Empfindung ist, aber ich fühle in solchen ruhigen Situationen förmlich die Regeneration, welche ausgelöst wird.
    Das ist natürlich wissenschaftlich gesehen Quatsch, dennoch wirkt so etwas fast wie ein meditativer Zustand.
    Es ist wohltuend, erfüllend und löst Glücksgefühle aus.

    Es ist ein Zustand, welcher in der heutigen Zeit, für mich, viel zu selten erfüllbar ist.

  • #2

    Stiller (Dienstag, 27 Juni 2017 18:20)

    "Meine Spaziergänge sind immer wie Abenteuer, nur dass ich nicht auf der Suche nach etwas aufregendem bin, sondern auf der Suche nach Ruhe und Einsamkeit."
    Das könnte ich nicht besser ausdrücken.

    "Ich bin mir nicht sicher, wie es deine Empfindung ist, aber ich fühle in solchen ruhigen Situationen förmlich die Regeneration, welche ausgelöst wird."
    Diese Regeneration spüre ich auch.

    "Das ist natürlich wissenschaftlich gesehen Quatsch, dennoch wirkt so etwas fast wie ein meditativer Zustand."
    Nach meinem Kenntnisstand ist der Zusammenhang zwischen
    a) Ruhe und Regeneration bzw.
    b) Ruhe und Meditation
    wissenschaftlich sehr gut abgesichert.






12. Mai 2017

Papa, dürfen wir Schokolade essen?

Ich bin Vater zweier Töchter. Eine ist Asperger-Autistin (AS), die andere ist neurotypisch (NT). Heute sind sie junge Frauen und gehen weitgehend ihre eigenen Wege. Aber als sie noch Kinder waren, war unsere Beziehung herzlich und eng. So gut war sie, dass ich zu antworten pflegte: „Könnte nicht besser sein!“, wenn jemand mich fragte, wie es zwischen mir und meinen Töchtern stünde.

 

Wenn der Papa zu Hause war, wurde er mit Beschlag belegt. Immer wieder schaffte ich es von der Wohnungstür noch nicht mal durch die Diele, wenn ich von der Arbeit nach Hause kam. „Der Papa ist da!“ verbreitete sich wie ein Lauffeuer durch die Wohnung, und zwei kleine Abfangjäger stiegen auf. Da stand ich dann in der Diele – in Anzug und Krawatte, in der linken Hand hielt ich den Aktenkoffer, in der rechten den Schlüsselbund … und an jedem Bein klammerte sich ein Kind fest: Der Papa ist da!

 

In meiner Welt gilt: „Kind geht vor!“ Kinder können ihre Bedürfnisse noch nicht so gut aufschieben wie Erwachsene. Sie haben meist nur einen Papa, und ihre Sehnsüchte und ihre Wünsche an ihn sind von geradezu ozeanischen Ausmaßen. Alles ist groooß in der Kinderwelt. Alles ist gaaanz dringend und gaaanz wichtig. Und die Gefühle kleiner Kinder sind immer ganz und gar. Sie lieben ganz und gar, sie hassen ganz und gar. Wenn sie traurig sind, dann sind sie ganz und gar traurig. Wenn sie Sehnsüchte haben, dann reichen sie von Horizont zu Horizont. Kind geht vor. Auch, wenn der Papa Hunger hat. Auch, wenn der Papa müde ist.

 

Kind geht vor. Und so habe ich die Dinge oft miteinander kombiniert. Wenn ich mit großem Hunger von der Arbeit kam, dann habe ich daheim als erstes was gegessen: Ich saß an meinem Essplatz, auf dem linken Bein das eine Kind, auf dem rechten das andere. Ich hab‘ mit meinen langen Armen um sie herumgegriffen, während sie eifrig die Leckerbissen von meinem Teller klauten.

 

Wenn ich todmüde war, wenn ich heimkam (was sehr oft vorgekommen ist), dann bin ich immer wieder in dem Zimmer, in dem sie gerade spielten, eingeschlafen. Ich habe mit ihnen gespielt, bis es nicht mehr ging, und dann schlief ich von einer Sekunde auf die andere ein. Immer wieder bin ich aufgewacht und stellte fest, dass ich ein Gebirge geworden war – Bauernhäuser, ja ganze Farmen waren auf meinem Bauch und meiner Brust errichtet worden. Und die Schleichtiere meiner Töchter suchten auf dieser Anhöhe nach ihrem Stall.

 

Wenn meine Töchter sich zankten (was nur sehr selten vorkam), dann wusste ich, dass ihnen Liebe fehlte. (In meiner Welt gibt es keine bösen Kinder. Es gibt nur unglückliche Kinder). Und schon nach kurzer Zeit hatte ich festgestellt, dass augenscheinlich nichts so sehr die Herzen meiner Töchter befriedete wie meine Anwesenheit. Also sorgte ich dafür, dass ich so oft zu Hause war wie irgend möglich. Das war bei dem Job, den ich damals hatte, gar nicht so einfach. Arbeitstage, die über zehn und zwölf Stunden gingen (ohne Pause) waren eher die Regel als die Ausnahme. Aber Kind geht vor. Und es half meinen Töchtern sogar, wenn ich zwischen ihnen einschlief.

 

Meine Töchter liebten ihren Papa über alles. Aber auch sie stellten fest, dass er irgendwie anders war. Wenn ich ihr Pferd war, wenn ich mir ihnen raufte, wenn ich mit ihnen irgendwelche Spiele spielte, die sich einer von uns ausgedacht hatte – meistens sagte ich nichts. Irgendwann begann ihnen das aufzufallen. Da sie kluge und wache Kinder waren, gingen sie der Sache nach. Sie machten sich einen Sport daraus, den Papa zum Sprechen zu bringen.

 

„Papa, sag was!“ befahl, meine AS-Tochter. (Sie ist die jüngere von den beiden, vier Jahre jünger als ihre Schwester).

„Was“, antworte ich gehorsam.

„Papa, du sollst was sagen“, herrschte mich meine AS-Tochter an.

„Was.“

Ich war in meiner Erschöpfung dem Mutismus regelmäßig ganz nahe. Wie nahe erfuhr keiner in meiner Familie.

„Papa, sag was Richtiges“, griff meine NT-Tochter unterstützend ein.

„Was Richtiges.“

Ich grinste. Das hatte zur Folge, dass ich mit Kopfkissen und allem möglichen verdroschen wurde. Ich grinste noch mehr. Wir balgten auf dem Fußboden. Ich lag, sie standen – die einzige Möglichkeit, dass meine Töchter größer sein konnten als ich. Meine jüngere Tochter baute sich entrüstet neben mir auf und stemmte ihre Ärmchen in die Seite:

„Papa, sagst du jetzt was – ja oder nein?“

„Ja oder nein.“

Wieder gab es Kloppe mit Kissen und dergleichen.

 

Ich weiß nicht, wie andere AS-Eltern es in ähnlichen Situationen halten. Wenn ich dem Mutismus oder Shutdown relativ nahe bin, bringe ich kaum noch was zustande. Solche Situationen waren in der Phase, wo meine Töchter klein waren, relativ häufig. Es war meine Aufgabe, das irgendwie kreativ ins Spiel meiner Töchter einzubinden. Sie waren jedoch mindestens genauso kreativ wie ich. Nachdem das ein paar Tage so gegangen war, dass der Papa beim gemeinsamen Raufen buchstäblich nichts sagte, hatten sie sich tagsüber abgesprochen. Als ich von der Arbeit nach Hause kam, erlebte ich folgendes:

 

Sie luden mich wieder zum Spielen ein. Wir rauften. (Meine Töchter wollten immer einen starken Papa haben. Wenn sie sich gemeinsam davon überzeugt hatten, dass er immer noch stark war, kamen auch ganz andere Spiele dran, die gar nichts mit Kraft zu tun hatten. Aber erst mal musste der Papa getestet werden). 

 

Als ich also wieder auf dem Boden lag und meine Töchter mit ihren Kissen und Decken neben mir standen und hinreichend auf mich eingeprügelt hatten, erlebte ich was Neues.

Meine jüngere Tochter hockte sich neben meinen Kopf und bewegte mit ihren Fingern meine stummen Lippen. Meine ältere stand auf der anderen Seite von mir und schaute zu.

Dann sagte meine ältere Tochter:

„Papa, dürfen wir Schokolade essen?“

Kurze Pause. Stille.

Dann bewegte meine jüngere wieder meine Lippen. Und meine ältere sagte dazu mit verstellter, tiefer Stimme:

„Aber ja, Kinder – soviel ihr wollt.“

Und wie ein Blitz sausten beide Kinder los und in die Küche - zu den Schokoladevorräten. Ihren erschöpften und müden Papa ließen sie auf dem Teppich liegend zurück.

 

Könnte nicht besser sein.

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07. Mai 2017

Einsamkeit

Ich habe den Eindruck, dass das ein Gefühl ist, das jeder kennt: Einsamkeit. Egal ob Asperger-Autist (AS) oder Neurotypischer (NT) – dieses Gefühl ist jedem vertraut. Nach allem, was ich sehen kann, empfindet es jeder als unangenehm. Jeder versucht, es zu vermeiden. Ich will in diesem Text meine Sicht der Dinge skizzieren.

 

Es war Sommer. Ich war 16 Jahre alt. Ich war auf einer mehrtägigen Radtour. Alleine. Und auf einmal fiel ich beinahe von einem Moment auf den anderen aus dem Leben. Es war so, als hätte ich mein ganzes Leben unter Wasser gelebt und wäre plötzlich mit dem Kopf durch die Wasseroberfläche gestoßen. Es war, als ob ich die ganze Zeit geschlafen hätte und plötzlich aufgewacht sei. Auf einmal machte es „Klick!“ und die ganze Welt war bei mir.

Und das, was dieses Erlebnis mit sich brachte, war vor allem eins: Einsamkeit.

 

Die Einsamkeit fiel über mich her wie eine zehn Tonnen schwere schwarze Wolke. Die Einsamkeit durchdrang jede Faser meines Seins und drückte mich zu Boden. Ich brach die Fahrradtour ab und fuhr so schnell wie möglich nach Hause. Das Gefühl der Einsamkeit wurde immer schlimmer. Jede Stunde war schlimmer als die vorherige.

 

In den folgenden Wochen und Monaten wurde die Einsamkeit zur beherrschenden Kraft in meinem Leben. Sie durchdrang jeden Winkel meines Seins. Ich hatte zwar eine Familie – mit der konnte ich aber nichts anfangen. Und Freunde hatte ich keine. Keinen einzigen.

 

Da es so schien, als ob Menschen die viele Freunde hatten, weniger oder gar nicht einsam waren, beschloss ich, mir Freunde zuzulegen. Das stieß auf aber auf ein fundamentales Problem: Ich hatte absolut keine Ahnung, wie man mit anderen Menschen kommunizierte. Es hatte mich nie interessiert. Außer oberflächlichem Blabla und den üblichen Floskeln konnte ich keinerlei soziale Kommunikation. Mit anderen Worten: Ich hatte nicht die blasseste Ahnung, wie man Freunde gewinnt. Jeder schien welche zu haben, nur ich nicht. Ich musste mir also zunächst mal Kommunikation beibringen:

·           Wie beginnt man ein Gespräch (mit welchen exakten Worten)?

·           Was sagt man als nächstes (exakte Worte)?

·           Wie geht das Gespräch dann weiter?

·           Etc. etc. etc.

 

Die seelische Belastung sorgte für die nötige Energie. Und so arbeitete ich buchstäblich Tag und Nacht an dieser Problematik. In der Schule beobachtete ich die Menschen. Daheim machte ich mir Notizen zu diesen Beobachtungen und schrieb allerlei forscherisches Zeug dazu auf. Nachts, im Schlaf dachte ich über die Dinge weiter nach.

 

Ich merkte rasch, dass ich meinen Forschungsschwerpunkt vergrößern musste: Es reichte nicht, kommunizieren zu können. Man musste auch einen Haufen Wissen darüber haben, wie die Menschen als soziales Gefüge funktionieren. Auch dazu machte ich einen Haufen Beobachtungen. Auch dazu machte ich mir Notizen und leitete Gesetzmäßigkeiten daraus ab, deren Gültigkeit ich dann sofort in der Praxis überprüfte.

 

Ich besorgte mir Bücher aus der Stadtbibliothek. Die war gut gefüllt: „Nie wieder einsam sein.“ „Wege aus der Einsamkeit.“ „Schluss mit der Einsamkeitsfalle.“ Und so weiter. Ich las das alles. Ich konnte nichts davon gebrauchen.

 

In all dieser Zeit fraß die Einsamkeit an mir. Tag und Nacht. Es ging mir wirklich schlecht. Tag und Nacht. Einsamkeit war das Gefühl mit dem ich abends einschlief. Einsamkeit war das Gefühl, mit dem ich morgens aufwachte. Hätte ich damals ein Schild an mir gehabt, wie es Wäschestücke haben, hätte wahrscheinlich sowas draufgestanden:

60% Einsamkeit

25% Ängste

10% Konfusion

5% Verzweiflung

 

Die seelische Belastung sorgte weiterhin für die nötige Energie. Ich stürzte mich also in meine ersten Feldversuche. Ich begann tatsächlich, Gespräche zu führen. Ja, tatsächlich – ich. Der verstörte, exorbitant schüchterne und merkwürdige Außenseiter fing an, auf Menschen zuzugehen. Aus der puren Not heraus. Ich suchte mir einzelne Menschen aus, und fing Gespräche mit ihnen an. Ich hatte mir zuhause aufgeschrieben, welche Person ich mit welchen Worten ansprechen wollte. Das zog ich jetzt durch. Das war der Mut der Verzweiflung. Was hatte ich schon zu verlieren?

 

Die ersten Gespräche gingen gründlich schief. Ein paar Mal hatte ich den Eindruck, dass die anderen gar nicht registriert hatten, dass ich ein Gespräch mit ihnen hatte beginnen wollen. Aber es gab durchaus ermutigende Ansätze – also weiter. Was hatte ich schon zu verlieren?

 

So ging das einige Monate. Ich wurde immer besser. Und dann hatte ich schließlich Freunde. Freunde, die mir viel bedeuteten, und denen ich viel bedeutete. Ich hatte meine erste Freundin. Ich war verliebt über beide Ohren. Es ging mir wirklich gut.

 

In Filmen wird an dieser Stelle immer ausgeblendet. Lautere Musik setzt ein, und der Abspann beginnt. Im Kino geht das Licht an, die Leute erheben sich und drängen nach und nach in Richtung Ausgang. Scherzesworte fallen – die Leute fühlen sich gut. (Und so soll das ja auch sein). Die Welt ist wieder im Lot.

 

Aber im wahren Leben …

 

… ist das alles anders.

 

Es dauerte nur wenige Monate, bis die Einsamkeit wieder da war. Stärker als je zuvor. Runderneuert sozusagen. Zu meinem Entsetzen stellte ich fest, dass die Einsamkeit mich nie verlassen hatte. Sie hatte sich nur in dunkle Winkel zurückgezogen, wenn ich mit anderen Menschen zusammen war. Sobald ich mit Freunden oder meiner Freundin zusammen war, war die Einsamkeit überdeckt. War ich alleine, fiel die Einsamkeit wie ein stummes, schwarzes Raubtier über mich her.

 

Also versuchte ich, mich jeden Tag mit jemandem zu treffen. Es zeigte sich, dass das überhaupt kein Problem war. Ich war mittlerweile so beliebt, dass sich immer jemand fand, der was mit mir unternehmen wollte.

Aber sehr schnell merkte ich, dass mir diese dauernde soziale Aktivität überhaupt nicht gut tat. Dieser viele soziale Kontakt machte mich mindestens genauso fertig wie die Einsamkeit. Damals hatte ich keine Ahnung, dass ich Autist war. Heute weiß ich, warum mich sozialer Kontakt in dieser Intensität hoffnungslos überfordert.

 

Ich hatte immer gedacht, dass man nicht mehr einsam ist, wenn man Freunde und eine feste Freundin hat. Also hatte ich alle meine Kräfte in dieses eine Ziel investiert. All meine Kreativität, Intelligenz und Gewitztheit, all meinen Mut und all meine Lebensenergie waren dort hineingeflossen. Und jetzt das!

Jetzt hatte ich das Ziel erreicht. Und die Einsamkeit war schlimmer als je zuvor. Ich wusste mir überhaupt keinen Rat mehr. Die Einsamkeit brachte mich schier um.

60% Einsamkeit

30% Verzweiflung

10% Konfusion

 

Also begann ich, erneut zu forschen. Dieses Problem musste doch auch anderen schon mal begegnet sein – was gab es an Literatur dazu? Was machten andere in vergleichbarer Situation?

 

Ich wurde wieder überaus aktiv und versuchte es mit buchstäblich allem, was mir in den Sinn kam. (Nur um Drogen habe ich immer einen weiten Bogen gemacht). Im Laufe der nächsten Jahre probierte ich aus:

 

a) Kunst. Ich habe mich in beinahe jeder Kunstform aktiv und passiv betätigt.

b) mehr Freunde

c) andere Freunde

d) andere Freundin

e) psychologische Ratgeberbücher. Es müssen zum Schluss über hundert gewesen sein.

f) Religion. Ich habe evangelische Theologie studiert.

g) Andere Religionen

h) Esoterik. Jedenfalls in Ansätzen.

i) Politik. Ich war in einer westdeutschen Großstadt für ein paar Jahre Kommunalpolitiker.

j) Philosophie. Ich habe Philosophie studiert.

k) Sport

l) Psychologie. Ich habe Psychologie studiert.

m) Soziales Engagement

n) und so weiter

 

Mit den Jahren lernte ich immer mehr, und mein Horizont erweiterte sich beträchtlich. An der Einsamkeit änderte das aber nichts. Gar nichts. Im Gegenteil – sie wurde immer schlimmer. Ich hatte allmählich den Eindruck, die ganze Zeit in einem gigantischen Hamsterrad zu laufen: Jedes Mal, wenn ich was Neues anfing, hatte ich das sichere Gefühl, diesmal endgültig am Ziel zu sein und die Einsamkeit ein für alle Mal besiegt zu haben. Und jedes Mal stellte ich schon nach wenigen Monaten fest, dass ich mich geirrt hatte. Ich hatte also wieder meine Zeit verschwendet, kostbare seelische Ressourcen verschleudert und wieder nur eine Enttäuschung erlebt.

60% Einsamkeit

40% Verzweiflung.

 

Als ich 22 Jahre alt war, hatte ich meine gesamte Munition verschossen. Ich hatte alles durchprobiert. Nichts hatte geholfen. Ich meldete seelischen Konkurs an und begann eine Psychotherapie. Die Therapieform, die ich wählte, gibt es nicht auf Krankenkasse. Ich war Selbstzahler. Sie ist ziemlich verrufen, ziemlich gefährlich und die intensivste und schonungsloseste Therapieform, die ich kenne. Ich wollte Nägel mit Köpfen machen. Ich wollte nicht mehr an Symptomen rumdoktern, sondern zum Kern der Sache vorstoßen. Dazu setzte ich jetzt alles auf eine Karte. Für mich war diese Psychotherapie die letzte Chance.

 

Ich setzte also alles auf eine Karte – und gewann. 16 Jahre (mit Unterbrechungen) machte ich diese Therapie. Seit langer Zeit geht es mir deutlich besser. Die Einsamkeit ist fast vollständig aus meinem Leben getilgt. Heute sehe ich es so:

Einsam sind wir immer dann, wenn wir mit unserem Inneren nicht in liebevollem Kontakt sind. Da helfen weder Aktivität noch Freunde noch der liebe Gott oder was auch immer. All das, was wir dann in Szene setzen, um nicht einsam zu sein, lenkt uns nur von dem Gefühl ab. Die Einsamkeit ist dann noch da, aber wir fühlen sie nicht mehr. Wir verhalten uns dann im Grunde genommen nicht anders als Alkoholkranke, die ihren seelischen Schmerz mit Fusel betäuben. Ob wir auf unsere innere Leere und das Gefühl der Einsamkeit nun Alkohol drauf kippen, um das nicht mehr fühlen zu müssen oder ob wir uns nun mit sozialen Aktivitäten ablenken – das ist Jacke wie Hose. Vom Prinzip her ist es dasselbe. Nur der Blick nach innen hilft. Dazu müssen wir innehalten und still sein.

 

Ich bin heute sehr gerne und sehr oft alleine. Das kann immer wieder geradezu paradiesisch sein.

50% Zufriedenheit und Lebensfreude

35% Erschöpfung und Müdigkeit

10% Hoffnung und Zuversicht

4% Verzweiflung

1% Einsamkeit

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7886

NTs, die sich mit dieser Thematik beruflich beschäftigen, haben mir gesagt, dass sie schätzen, dass ein AS in einer Arbeitsumgebung, die ihn in Kontakt mit NTs bringt, ca. 25% bis 50% mehr seelische Energie verbraucht als seine NT-Kollegen.

Ich selber habe Messungen vorgenommen:

Wenn NTs um mich herum sind, verliere ich ziemlich genau 33% meines körperlichen Leistungsvermögens.

 

Mein ganzes Arbeitsleben habe ich in direktem Kontakt mit NTs zugebracht. Ich arbeite schon immer als NT-Versteher, als NT-Flüsterer. Weil ich das am besten kann. Weil mich das am meisten interessiert. Aber das bedeutet, dass ich beinahe pausenlos in Umgebungen arbeite, die mich deutlich mehr Kraft kosten, als nach außen sichtbar wird.

 

Lange Jahre habe ich deutlich mehr als 60 Stunden in der Woche gearbeitet. Für die, die etwas schwächer im Kopfrechnen sind: Wenn wir annehmen, dass die Zahlen aus dem ersten Absatz dieses Textes stimmen, bedeutet das, dass ich dabei mehr seelische Energie verbrauchte, als ein NT in einer 75- bis 90-Stundenwoche.

 

Seit etwa sieben Jahren kann ich diese Leistung nicht mehr erbringen. Ich habe mein Pensum auf unter 60 Stunden in der Woche drücken können. Seit einiger Zeit strebe ich an, nicht mehr als 50 Stunden pro Woche zu arbeiten. Das gelingt mir aber meistens noch nicht. Da muss ich noch an mir arbeiten.

 

Jahrzehntelang habe ich heimlich nachts gearbeitet. Jahrzehntelang habe ich auch an den Wochenenden gearbeitet. Anders ließ sich mein Pensum nicht bewältigen. Ich arbeite in einer Branche, die seit Jahrzehnten von der Globalisierung heftig durchgeschüttelt wird. Firmenschließungen und substanzieller Stellenabbau sind bei uns völlig normal. In meiner Branche ist seit Jahrzehnten Dauerkrise – jedenfalls für die Beschäftigten. Da muss jeder sehen, wo er bleibt oder sich in einer anderen Branche bewerben.

 

Ich bin jetzt bei meinem fünften Arbeitgeber. Meine vorherigen Arbeitgeber musste ich verlassen, weil die Firmen geschlossen wurden. Es findet sich eine kleine Firmen darunter, eine mittelgroße Firma und zwei international aufgestellte Großkonzerne – alle sind sie Geschichte. Noch nie hat eine Firma, in der ich angestellt war, überlebt.

 

Ich bin meinen Arbeitsstellen quer durch die Republik hinterhergezogen – meistens mehrere hundert Kilometer weit. In den letzten 20 Jahren hatte ich 15 verschiedene Chefs, habe vier Jahre intensives Mobbing überstanden und sehe jetzt gerade meinem sechsten Massenentlassungsprogramm entgegen. Ich habe aufgehört zu zählen, wie oft ich mich schon in ein neues Aufgabengebiet eingearbeitet habe.

 

Irgendwann im Laufe dieses Prozesses merkte ich, dass es nicht mehr ging. Es war Spätsommer. Der Konzern, in dem ich gearbeitet hatte, war gerade in einer internationalen Megafusion untergegangen. Jetzt ging es den Angestellten an den Kragen. Massenentlassungen waren mal wieder Programm. Ich stand nach einer anstrengenden Tagung auf der Dachterrasse des Hotels und machte mir intensive Sorgen um meinen Job – wie die Jahrzehnte davor auch. Aber diesmal war es anders. Ich merkte, dass ich an Grenzen stieß. Ich konnte einfach nicht mehr. Seelisch nicht und körperlich nicht. Ich war dem Druck nicht mehr gewachsen. Ich konnte dieses hohe Tempo nicht mehr gehen.

 

Aber ich hatte eine Familie zu ernähren. Und die zählte auf mich. Ich konnte nicht einfach hinschmeißen und irgendwo im Gebirge Schäfer werden. Also beschloss ich, erst einmal Kassensturz zu machen und die Tage bis zur Rente zu zählen. Für sowas gibt es im Internet Programme. Dabei kam heraus:

Bis zur Rente sind es noch 7886 Tage.

 

7886 Tage. Diese Zahl steht bei mir seitdem wie in Stein gemeißelt. Ich wusste – wenn ich überhaupt eine Chance haben wollte, bis zur Rente arbeiten zu können, dann musste ich das tageweise angehen: Einen Tag. Dann noch einen Tag. Und noch einen. Und so weiter. 7886 mal.

 

Niemand erfuhr davon. Aber ich führte Buch. Wie ein Gefangener in einem Hollywoodfilm zählte ich jeden einzelnen Tag. Nach außen hin musste ich natürlich die übliche „Aufbruchsstimmung“ und „Begeisterung“ mimikrieren. Aber nach innen zählte ich. Ruhig und geduldig, wie das so meine Art ist.

 

Mittlerweile ist es manchmal wieder so, dass ich Energien für eine Woche habe, oder sogar für einen Monat. Aber das ist eher selten. Meistens ist es so, dass ich morgens weiß: Für diesen Tag habe ich die Energie, um arbeiten gehen zu können. Wie es am nächsten Tag sein wird, weiß ich nicht. Das werden wir sehen, wenn es soweit ist. Aber nicht jetzt.

Wenn die Zeiten finster werden, reicht die Energie, die ich morgens habe nur bis zum Mittag. Dann muss ich mir was einfallen lassen. Aber bis jetzt ist es immer gelungen.

 

7886 Tage scheinen eine lange Zeit zu sein. Aber ich frage mich in jeder unangenehmen Situation: Was wäre denn die Alternative?

Wenn ich eine bessere Alternative finde, wähle ich die. Wenn ich keine finde, wird weitergemacht wie bisher. Chronische Müdigkeit und chronische Erschöpfung sind meine Wegbegleiter seit vielen, vielen Jahren. Aber ich habe hier eine Familie zu ernähren. Und für die Zeit der Rente habe ich noch sehr viel vor. Also – was wäre denn die Alternative?

 

Mittlerweile bin ich runter auf etwas mehr als 4.300 Tage. Und immer noch zähle ich – ruhig und geduldig. Die Erfahrung zeigt, dass alles irgendwann aufhört. Und vieles, vieles ist deutlich unangenehmer als einen unbefristeten Arbeitsvertrag zu haben. Besonders wenn er so gut dotiert ist wie meiner. Also mache ich weiter. Ich beklage mich nicht. Es könnte viel, viel schlimmer sein. Aber ich zähle. Ruhig und geduldig.

 

Jedes Jahr am gleichen Tag feiere ich ein kleines Fest, wenn ich wieder eine wichtige Wegmarke erreicht habe. Dann schaue ich nach hinten was war und schaue nach vorne, was da noch kommen wird. Und dann geht es weiter. Schritt für Schritt. Tag für Tag.

 

Als ich anfing zu zählen, waren es noch 7886 Tage bis zur Rente. Das war deutlich länger als das übliche Strafmaß für „lebenslänglich“. 7886 Tage und ich hatte das Gefühl, keine zehn Tage mehr durchhalten zu können.

 

Mehr als 3.500 Tage später halte ich immer noch die Stellung. Für meine Familie. Für mich. Seit einem Vierteljahrhundert kämpfe ich beinahe jeden Tag um meinen Job. Ein Hoch auf die Globalisierung! Es lebe die Digitalisierung! Ob ich das noch 4.300 Tage durchhalte, weiß ich nicht. Aber ich habe schon über 3.500 Tage durchgehalten seit jenem Tag auf der Dachterrasse in der Rhön, als ich merkte, dass wirklich nichts mehr ging. Das ist recht ermutigend. Ich bin chronisch müde. Ich bin chronisch erschöpft. Aber ich habe eine Familie zu ernähren. Und mich. Oft genug weiß ich nicht, wie ich die nächste Woche durchstehen soll. Aber dann merke ich immer, dass ich das ja gar nicht muss. Es geht immer nur um den jeweils aktuellen Tag, um die jeweils aktuelle Stunde.

 

Die Frau, mit der ich de jure verheiratet bin, sagte mir vor ein paar Tagen zu diesem Thema in vollem Ernst:

„Wenn ich an deiner Stelle wäre, dann hätte ich mich schon längst umgebracht.“

Ich antwortete ihr:

„Das würde die Probleme auch nicht lösen.“

 

Man sagt, dass ein AS in einer Arbeitsumgebung, in der er auf NTs trifft, 25 bis 50 Prozent mehr seelische Energie verbraucht als seine NT-Kollegen. Ob wir AS sind oder nicht, können wir uns nicht aussuchen. Die Zeiten, in denen wir leben, können wir uns auch nicht aussuchen. Und vieles andere auch nicht. Wir müssen es meistens nehmen, wie es kommt. Und das Beste daraus machen. Tag für Tag. Jeden Tag.

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Wir müssen reden!

Nein. Müssen wir nicht. Du musst reden. Ich nicht. Du wirst mir gleich wieder was von deinem unfassbar öden und faden Leben erzählen. Von deinen selbstgemachten Gefühlen. Von den aufregenden Filmen, die du ihm Fernsehen gesehen hast. Von dem, was die Nachbarn sich erzählen. Von deinem Garten, in dem du banale und langweilige Storys züchtest:

„Meine Kresse ist aufgegangen!“

Du musst reden. Ich nicht.

 

Du redest immer von denselben Dingen. Das habe ich alles schon hundertmal gehört. Wenn nicht in dieser, so doch in hundert anderen Varianten. Du wirst mir davon erzählen, welche Biersorte man trinken kann und welche nicht. Du wirst mir von deinem Auto erzählen und davon, wie gut der Motor jetzt läuft, nachdem du ihn mit Mohrrübenöl geschmiert hast. Du wirst mir von deinen Havannas erzählen und von deinem Humidor. Und wie wichtig es ist, die Zigarren bei exakt 17,8 °C anzurauchen. Du hast mir das schon zwanzig Mal erzählt.

Du musst reden. Ich nicht.

 

Du wirst mir von deinem Beziehungsquatsch erzählen. Davon, dass die Eltern zu Besuch waren. Und davon dass deine Mutter dich „überhaupt nicht“ versteht. Aber zu Ostern werdet ihr wieder zu ihnen fahren. „Wir wechseln uns immer ab, verstehst du: Erst besuchen sie uns, dann besuchen wir sie. Verstehst du?“ Nein, verstehe ich nicht. Auch dafür bin ich zu blöd. Wenn du mir danach jedes Mal erzählen musst – „Wir müssen reden!“ – wie schlecht es dir bei deinen Eltern gegangen ist, warum fährst du dann da hin? Warum erzählst du mir davon? Es ist doch eh immer dasselbe.

Du musst reden. Ich nicht.

 

Wenn du neurotypisch (NT) bist, musst du vermutlich reden. Das habe ich mittlerweile begriffen. Aber ich bin Asperger-Autist (AS). Ich muss nicht reden. Im Gegenteil. Ich muss schweigen. Ich brauche die Stille so wie ihr die Luft zum Atmen. Wenn du redest, krieg‘ ich keine Luft mehr. Wenn du redest, kann ich keinen klaren Gedanken mehr fassen.

Du musst reden. Ich nicht.

 

Wenn wir in einer Beziehung sind, wirst du vermutlich diese Beziehung thematisieren, um mir ein Gespräch aufzunötigen: „Du, wir müssen reden!“ Nein. Müssen wir nicht. Du musst reden. Ich nicht. Wenn ich in dieser Beziehung was von dir will, reichen mir ganz wenige Worte, um mich mitzuteilen. Das kann ich, wenn du willst, auch schriftlich tun. Ich muss nicht reden.

 

Du wirst dich beklagen, dass du in dieser Beziehung nicht die Gefühle hast, die du gerne hättest. Ganz ehrlich – was hab‘ ich damit zu tun? Du bist doch für deine Gefühle verantwortlich. Nicht ich. Du wirst versuchen, mir wieder einmal die Verantwortung für deine selbstgemachten Kunstgefühle zuzuschieben. Warum sollte ich mir das anhören? Du wirst dich beklagen, dass du von mir nicht die Zuwendung bekommst, die du brauchst. Ja, dann hol‘ sie dir woanders. Wie bekloppt musst du sein, wenn du von mir etwas haben willst, was ich nicht geben kann? Du wirst dich beklagen, dass ich nicht der Mann bin, den du brauchst. Warum suchst du dir dann nicht einen anderen? Hier gibt’s nur mich. Ich werde mich nicht zu einem anderen Menschen machen, damit es dir besser geht. Du wirst all diese Dinge thematisieren und langatmig beklagen, die man eh nicht ändern kann. Am Ende dieses „Gespräches“ wird stehen, dass viel Zeit vergangen ist, nichts sich zum Besseren gewendet hat und alle sich schlecht fühlen. Warum sollte ich auf diese Weise meine kostbare Zeit vergeuden?

Du musst reden. Ich nicht.

 

Wenn du reden musst, dann such dir jemand anderen dafür. Die Welt ist voller kommunikationsfreudiger NTs, die nur auf jemanden wie dich warten. Geh hinaus in diese Welt und rede mit diesen Menschen. Sie werden es dir danken.

Du musst reden. Ich nicht.

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Kommentare: 2
  • #1

    Ismael (Samstag, 18 März 2017 13:10)

    Jou.
    https://erdlingskunde.wordpress.com/2013/06/24/hm-wieviel-worte-brauchen-wir/

  • #2

    mellissandra (Samstag, 18 März 2017 18:52)

    ich habs in meiner gruppe geteilt, eine völlig gemischte, wo adhs, autismus, NT in eltern und erwachsenen, wild durcheinander wuseln, ich (adhs, selber autistische züge) hatte das problem mit meiner pur adhs tochter, ich brauch Ruhe um aufzuladen, sie quaseln

Meiner Meinung nach

Ja, ich habe Philosophie studiert. Zu diesem Thema wird es sicher noch den einen oder anderen Text in diesem Blog geben. Das weitaus meiste, was Philosophen geschrieben haben, halte ich für den reinen Unsinn. Aber es gibt dennoch philosophische Texte, die mich auch nach Jahrzehnten noch derart begeistern, dass ich sie auswendig aufsagen kann:

„Was ist Aufklärung? Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines eigenen Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Mutes liegt, sich seiner ohne Leitung eines anderen zu bedienen. (…) Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!“

Klarer und eindrücklicher kann man es vermutlich nicht formulieren.

 

Im Moment marschiert rund um den Globus die Gegenaufklärung. Die Menschen, die Unwissenheit für Stärke halten und sich ihres Verstandes nicht im Sinne der Aufklärung bedienen wollen, bekommen Oberwasser. („Aggressiven Irrationalismus“ nenne ich diese Art, in der Welt zu sein). Deshalb dachte ich, dass ich auch mal was dazu schreibe. Das hier wird keine Analyse der aktuellen politischen Situation. Sowas schreiben zu wollen, würde meine Kompetenz bei weitem übersteigen. Aber so viel kann ich über meinen Text hier schon sagen:

It will be absolutely fantastic! Believe me – it’s true! You’ll love it!

 

Meinung.

Ich bin umgeben von Menschen, denen ihre Meinung sehr wichtig ist. Sie ist ihnen so wichtig, dass sie sie im Gespräch sehr oft thematisieren:

„Meiner Meinung nach …“

„Ich bin zutiefst überzeugt, dass …“

„Nach meiner klaren Überzeugung …“

An dieser Art, in der Welt zu sein, ist nichts Falsches, Verwerfliches oder Schlimmes.

Aber sie verführt. 

 

Sie verführt dazu, das klare Denken auszuschalten. Sie verführt dazu, die Wahrnehmung auf die Aspekte der Wirklichkeit zu konzentrieren, die die eigene Meinung stützen und die anderen Aspekte der Wirklichkeit auszublenden oder abzuwerten.

 

„Ich habe meine Meinung in den letzten 20 Jahren nicht einmal ändern müssen“, sagte mir ein NT. Er war sichtlich stolz darauf.

„Du wirst mich von meiner Meinung nicht abbringen“, bekomme ich häufiger zu hören.

„Das ist meine feste Meinung! Davon bin ich tausendprozentig überzeugt!“

So verabschiedet sich das klare Denken.

 

Entweder ist meine Meinung real. Dann kann ich sie jederzeit an der Realität überprüfen und kann an jede Diskussion ergebnisoffen herangehen. Oder meine Meinung beinhaltet irreale Bestandteile. Dann muss ich meine Meinung dadurch schützen, dass ich das Ergebnis der Diskussion schon vor Beginn festlege.

 

Erstaunlich viele NTs, denen ich bei meiner Arbeit begegne, verstehen ein Gespräch oder eine Diskussion als Kampf. Es geht um Siegen und Verlieren. Der Verlust des einen entspricht dem Gewinn des anderen. Das klassische Nullsummenspiel.

Und so erinnern solche „Diskussionen“ eher an ein verbales Artillerieduell als an ein Gespräch: Es geht nicht mehr darum, was real ist. Es geht darum, wer recht hat. Es geht darum, wer sich mit seiner Meinung durchsetzt.

Da wird dem anderen ins Wort gefallen. Da wird mit rhetorischen Mätzchen brilliert. Da wird der Opponent (und das, wofür er im Moment steht) lächerlich gemacht. Da wird die Stimme erhoben, da wird manipuliert, was das Zeug hält. (Und das Zeug hält schon, keine Sorge). Und so weiter.

 

Wozu das alles?

Bloß, damit die eigene Meinung mal wieder siegreich aus der Schlacht hervorgeht?

Sowas ist mir ziemlich fremd.

Für mich ist das die pure Zeitverschwendung. Ich rede nicht mit Menschen, die recht haben.

 

Auch die Presse scheint mir voll davon. Exemplarisch will ich mal den SPIEGEL betrachten. Der SPIEGEL erfüllt gerne seine Funktion als Weltuntergangspostille für das Bildungsbürgertum. In dieser Hinsicht ist er die BILD-Zeitung für die Intellektuellen.

Mehr als ein Vierteljahrhundert habe ich den Spiegel regelmäßig gelesen. Jetzt tue ich das nur noch sporadisch. Ich bin diese Atmosphäre des gepflegten Trübsinns leid, den er verströmt. Ich will nicht mit einer Packung Antidepressiva ausgerüstet sein müssen, wenn ich mich über den Lauf der Dinge informiere.

 

Ein echter Spiegel-Redakteur ist immer ausgestattet mit der felsenfesten Grundüberzeugung, dass der, der lacht, den Ernst der Lage noch nicht begriffen hat. Seit ich den Spiegel lese, weiß ich, dass die Lage ernst ist und wir ganz dicht vor dem Abgrund stehen. Es fehlt nicht mehr viel, und alles geht endgültig den Bach runter. So gesehen stehe ich mittlerweile schon seit über dreißig Jahren ganz dicht am Abgrund.

 

In diesen dreißig Jahren habe ich mich einer recht gründlichen wissenschaftlichen Ausbildung unterzogen. Ich habe auf einigen Gebieten Expertenwissen erworben. Und jedes Mal, wenn der Spiegel über eines dieser Gebiete schreibt, erwische ich ihn bei denselben Manipulationstechniken. Es sind wirklich immer dieselben. Vereinfacht ausgedrückt geht das so:

1.      Habe die Grundüberzeugung, dass die Welt schlecht ist.

2.      Habe des Weiteren die Überzeugung, dass es immer schlimmer wird.

3.      Greife dir ein beliebiges Thema. Egal, welches.

4.      Recherchiere zu diesem Thema wie ein Weltmeister. Scheue dabei keine Mühen und keinen Aufwand.

5.      Trage zu diesem Thema alle Fakten zusammen, die die beiden Überzeugungen (1) und (2) untermauern.

6.      Verschweige die Fakten, die diese Überzeugung nicht untermauern.

7.      Wenn sich solche Fakten nicht verschweigen lassen, verfälsche sie, werte sie ab oder versuche, sie sonstwie zu relativieren.

8.      Schreibe einen Artikel, in dem deutlich wird, dass die Welt (wieder mal) untergeht.

9.      Spicke deinen Artikel mit Bonmots, Zitaten und sonstigen Hinweisen, die jedem glasklar machen, dass du belesen bist bis zum Anschlag und auch sonst aus der Kaste der absoluten Durchblicker kommst.

10.   Dein Ziel ist erreicht, wenn der Leser den Eindruck hat, gut informiert zu sein und er gleichzeitig zutiefst verunsichert und pessimistisch ist.

 

Tja. SPIEGEL-Leser zittern mehr.

 

Der Spiegel ist sicherlich ein unverzichtbarer Bestandteil unserer Presselandschaft. Und unsere Presse ist ein unverzichtbarer Baustein für den Erhalt und die Vitalisierung unserer Demokratie. Aber in dem Maße wie der Spiegel seinem Auftrag nachkommt, die Leserschaft durch derlei Manipulationen zu verunsichern, ist er Teil der Gegenaufklärung, Teil des Problems.

Und ich selber bin es inzwischen ziemlich leid, bei jedem Spiegel-Artikel einen Faktencheck machen zu müssen, um nachvollziehen zu können, welche Informationen diesmal weggelassen, relativiert oder fragwürdig dargestellt wurden.

 

Wie wäre es denn meiner Meinung nach richtig?

Meiner Meinung nach, sollte es so sein:

Wenn du dir eine Meinung gebildet hast, dann sorge dafür, dass du sie ständig an der Realität überprüfst. Suche das ergebnisoffene Gespräch mit denen, die anderer Meinung sind als du: Vielleicht hast du ja etwas Wichtiges übersehen. Sei jederzeit bereit, dich dem besseren Argument zu beugen und deine Meinung zu verändern. Suche bewusst und aktiv nach den Informationen und Sichtweisen, die deine Meinung in Frage stellen.

Sei dir immer bewusst, dass du ein sehr fehlbarer Mensch bist. Dass dein Horizont sehr beschränkt ist, dass du schwach und zerbrechlich bist. Plappere nicht nach, was andere sagen, sondern prüfe selber. Bediene dich deines eigenen Verstandes ohne die Leitung anderer. Selbst (und vor allem) dann, wenn diese „anderen“ Spiegel-Redakteure oder vergleichbare Geistesriesen sind. 

 

Es ist nicht wichtig, dass du und deine Meinung siegreich aus dem Gespräch hervorgehen. Wichtig ist, dass das bessere Argument sich durchgesetzt hat. Sonst ist deine Meinung nichts anderes als ein Gefängnis für deinen ziemlich beschränkten Geist.

 

Das sei deine Maxime:

„Denn nicht nur jetzt, sondern schon immer habe ich ja das an mir, dass ich nur dem Argument folge, das sich mir im Gespräch als das beste erweist.“

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Es stand in der Zeitung 01

The New York Times International Edition, Saturday-Sunday, February 25-26, 2017, p 3

“Danish man charged for burning Quran”

 

Ja, ich habe Theologie studiert. Lange, aber nicht lange genug und nicht intensiv genug, um einen staatlich anerkannten Abschluss zu bekommen. Aber ich bin voller Zuversicht, dass der Herr mir auch das vergeben wird.

 

Die Menschen, die an irgendeinen personalen, allmächtigen und allgütigen Gott glauben, lösen in mir ein nicht endendes Staunen aus. Immer wieder lese ich, was sie zu Papier bringen. Immer wieder lese ich, was sie im Internet veröffentlichen. Und jedes Mal habe ich den Eindruck, nicht zu begreifen, worum es geht. (Und selbstverständlich habe ich jedes Mal auch den Eindruck, dass sie selber erst recht nicht begreifen, worum es geht. Herr vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie schreiben).

 

Eine der wichtigsten und häufigsten Fragen, die meine Kleinen in mir mir stellen, ist:

„Was ist das?“

Damit können sie sehr, sehr hartnäckig sein. Sie wollen Antworten. Sie lassen sich nicht abspeisen. Sie lassen sich nicht an der Nase herumführen. Sie wollen die Welt so erklärt bekommen, dass sie sie verstehen können. Und so löchern sie mich buchstäblich Tag und Nacht:

„Was ist das?“

 

Wie dieser Teil meines Denkens funktioniert, lässt sich exemplarisch an meiner Reaktion auf einen Artikel aus der New York Times verdeutlichen. Dort las ich, dass in Dänemark ein Mann angeklagt wird, weil er in seinem Garten einen Koran verbrannte und ein Video davon auf Facebook postete.

„Naja“, dachte ich mir, „da werden sie ihn jetzt wegen Volksverhetzung oder sowas drankriegen wollen.“

Aber weit gefehlt – ihm soll wegen Blasphemie der Prozess gemacht werden. Blasphemie - ins Deutsche übersetzt wäre das „Gotteslästerung“. Und wäre ich ein Comicfigürchen, so würden jetzt über meinem Kopf viele, viele Fragezeichen stehen, die da auch nicht mehr weg gehen.

Meine Kleinen wollen wissen:

„Gotteslästerung - was ist das?“

Ich kann es ihnen nicht erklären.

 

Nehmen wir mal an, dass es Gott nicht gefällt, wenn eins seiner Bücher verbrannt wird. Nehmen wir weiterhin an, dass dieses Verbrennen ein so starkes Vergehen ist, dass es strafrechtlich verfolgt werden muss.

Schon allein diese Annahmen sind ausgesprochen fragwürdig und würden einer genaueren Betrachtung vermutlich nicht standhalten. Aber ich muss sie an dieser Stelle machen, sonst komme ich in der Sache nicht weiter.

Nehmen wir also an, dass das Verbrennen des Korans Gotteslästerung ist. Wenn ich die Frage „Was ist Gotteslästerung?“ beantworten will, dann muss ich wissen:

a)     Wo das anfängt

b)     Wo das aufhört

 

Wo fängt das Gotteslästerliche an?

Nehmen wir an, dass jemand einen Haufen Altpapier nimmt, den in Buchform bringt und mit großen Buchstaben „Koran“ draufschreibt. Wäre es Gotteslästerung, wenn er das verbrennen würde? Wenn ja: Warum?

Wenn nein – nehmen wir an, dass er den originalen Bucheinband eines Korans nimmt, um dieses Altpapier in Buchform zu bringen. In diesem Buch stünde also kein einziges Wort des heiligen Korans, nur der Bucheinband wäre echt. Wenn jemand das dann verbrennen würde – wäre das schon Gotteslästerung? Wenn ja: Warum?

Wenn das noch immer keine Gotteslästerung ist, dann lasst uns einen Schritt weiter gehen. Alles nur in Gedanken, natürlich.

Nehmen wir an, in diesem Konvolut aus Altpapier würden wir die Heiligkeit in dieser Form steigern:

1.    Da steht nur ein einziges Wort des heiligen Korans drin.

2.    Da stehen mehrere Worte des heiligen Korans drin.

3.    Da steht ein Satz des heiligen Korans drin.

4.    Da stehen mehrere Sätze des heiligen Korans drin.

Und so weiter.

Ab wann wäre dieser Stapel Altpapier so heilig, dass es gotteslästerlich wäre, wenn man sowas verbrennen würde?

Vermutlich gibt es schon längst eine Fatwa zu diesem Thema, aber ich bin des Arabischen nicht mächtig.

 

Also – nehmen wir an, wir haben den Punkt bestimmt, ab dem das Verbrennen dieses Konvoluts den Straftatbestand der Gotteslästerung erfüllt. Dann wissen wir, wo das anfängt. Jetzt ist aber die Frage: „Wo hört das auf?“  

Um zu verdeutlich, was ich meine, will ich annehmen, dass gelehrte Männer irgendwann erkannt haben, dass die nötige Heiligkeit dieses Konvoluts an dem Punkt erreicht ist, an dem sich eine Seite des heiligen Korans in diesem Stapel Altpapier befindet.

Dann wäre zu klären:

1.    Ist die nötige Heiligkeit erreicht, wenn ein Wort falsch geschrieben ist?

2.    Ist die nötige Heiligkeit erreicht, wenn mehrere Worte falsch geschrieben sind?

3.    Ist die nötige Heiligkeit erreicht, wenn kein Wort richtig geschrieben ist?

4.    Ist die nötige Heiligkeit erreicht, wenn die Worte so falsch geschrieben sind, dass praktisch nicht mehr verstehbar ist, worum es in diesem Text geht?

5.    Müssen diese Worte alle in der richtigen Reihenfolge stehen?

6.    Müssen diese Worte alle auf einer Seite stehen, oder reicht es, wenn sie in der richtigen Reihenfolge über den ganzen Stapel Altpapier verteilt sind?

Und so weiter.

 

Dann kann man auch andere Wege gehen:

1.    Wäre es gotteslästerlich, wenn jemand den Koran verbrennen würde, wenn das der einzige Weg wäre, sein Kind vor dem Erfrieren zu retten?

2.    Wäre es gotteslästerlich, wenn er auf diesem Weg sein Lieblingshaustier – sagen wir mal eine Katze – retten würde?

3.    Wäre es gotteslästerlich, wenn er auf diesem Weg ein paar Marienkäfer vor dem Erfrieren retten würde?

Und so weiter.

 

So funktioniert mein Denken. Wenn ich wissen will, was etwas ist, dann muss ich klären, wo etwas anfängt und wo es aufhört. Es gibt ganz viele Dinge, von denen ich nicht weiß, was sie sind. Ich werde den Kleinen in mir nie erklären können, was Liebe ist. Oder was Mut ist, oder was Vertrauen ist. Aber das muss ich auch nicht. Sie haben ein gewisses Verständnis davon, was mit diesen Worten gemeint ist und geben sich damit inzwischen zufrieden.

 

Aber hier geht es um einen Straftatbestand. Wenn man in Dänemark wegen Gotteslästerung verurteilt wird, dann kann man dafür mehrere Monate eingesperrt werden. Im Namen des Volkes vermutlich. Oder im Namen der Königin. Ich weiß nicht, was in Dänemark der Brauch ist.

Auf jeden Fall sollten sich Volk und/oder Königin jedoch überlegen, was Gotteslästerung ist, bevor sie jemanden dafür einsperren lassen. Wenn wir nicht wissen, was Liebe, Mut oder Demut sind, dann ist das völlig in Ordnung. Denn dafür wird niemand in Haft genommen.

 

Ich habe in der gleichen Zeitung (eine Woche später) etwas über die Aktivitäten des berüchtigten Komitees für unamerikanische Umtriebe (HUAC) gelesen. „Unamerikanische Umtriebe“ (im Original „Un-American Activities“) – was um alles in der Welt soll das sein? Wo fängt das an? Wo hört das auf.

Wenn es um Gotteslästerung oder um unamerikanische Umtriebe geht, hat das klare Denken ganz offensichtlich keine Chance. Und da, wo das klare Denken aufhört, steigt die Gefahr der Hexenjagden.

Ich habe dazu vor einigen Tagen einen Comic gesehen, der mir sehr gefallen hat. Da ist eine Mutter mit ihren Kleinkindern beim Arzt und der Arzt sagt: „Nein, sie müssen ihre Kinder nicht impfen lassen. Sollte eine Epidemie ausbrechen, verbrennen wir einfach eine Hexe.“

 

Aber zurück zur Gotteslästerung:

Mein Gehirn funktioniert augenscheinlich anders als das der Menschen, die an irgendeinen personalen Gott glauben, der gleichzeitig allgütig und allmächtig ist. Sie sind sehr viele, ich bin ein einzelner. Sie scheinen sich ihrer Sache sehr sicher zu sein. Ich kann diese Sicherheit nicht nachvollziehen. Aber das macht nichts. Staunen ist meine Art, in der Welt zu sein. In mir sind sehr, sehr viele kleine Kinder, die die Welt voller Neugierde mit staunenden, großen Augen betrachten und mich laufend fragen:

„Was ist das?“

 

Mir dieser Kleinen bewusst zu sein und mit ihnen mein Leben zu teilen, genügt mir meistens vollkommen. Mehr Sicherheit brauche ich nicht.

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Knips!

Seit ich denken kann, sind Menschen mein Spezialinteresse. Ich habe kein Spezialinteresse, das älter wäre. Wie Menschen sich verhalten, und was sie dabei erleben, hat mich immer schon sehr fasziniert.

Von klein auf habe ich sie beobachtet. Ich habe ihre Bräuche und Rituale studiert. Schon als kleiner Junge habe ich ihre Sprach- und Bewegungsmuster analysiert und habe nach Gesetzmäßigkeiten geforscht, die Ordnung in dieses wirre Chaos bringen konnten, das die Menschen verursachten.

 

Heute will ich exemplarisch von so einer Episode berichten.

 

Ich war ungefähr vier Jahre alt. Es war ein sonniger und warmer Tag im Schwimmbad. Ich war sehr, sehr gerne im Schwimmbad. Wenn wir es uns leisten konnten, da hin zu gehen, war das immer ein Fest für mich.

Das Schwimmbad war wie immer rappelvoll. Leute. Überall Leute. Die Luft roch intensiv nach Chlor, Sonnenmilch und gemähtem Rasen. Alles vibrierte von dem fröhlichen Lärm, den die vielen Kinder machten. Ich machte gerade Pause vom Planschen und ging am Schwimmbadrand entlang. Die Sonne wärmte mich auf. Es war sehr angenehm. Ich beobachtete die Leute.

 

Am Eingang des Schwimmbads stand das große Vereinsheim. Ein Mann kam raus. Ein sehr dicker, sehr hässlicher Mann. (Für mich waren so ziemlich alle Erwachsenen ziemlich hässlich. Aber das hier war ein ganz besonders hässliches Exemplar) Er war ungewöhnlich fett. Man konnte seine Badehose kaum sehen. Mit langsamen Schritten walzte er die Stufen vom Vereinsheim herunter zum Schwimmbadrand. An einem breiten Riemen aus textilem Gewebe trug er einen enorm großen Fotoapparat.

 

Der Mann war vielleicht zwanzig Meter entfernt von mir. Am Schwimmbadrand angekommen blieb er stehen. Sein Blick schweifte prüfend über das ganze Areal. Von diesem hässlichen Gesicht ging eine dunkle Bedrohung aus. Ich erschauerte. Aber da mich der Mann in der Masse nicht bemerkte, beobachtete ich ihn weiter. Er schaute suchend. Er schaute prüfend. Dann setzte er seinen massigen Körper in Bewegung. Eine Bugwelle der Bedrohung lief vor ihm her.

 

Der Mann ging rechts um das Schwimmbecken herum. Ich folgte ihm in einiger Entfernung. Ich schaute mich um. Niemand nahm Notiz von ihm. Niemand schien zu sehen, wie hässlich und gefährlich dieser Mann war. Er nahm die Kamera in die Hand. Aus seinem aufgeschwemmten Gesicht glitzerten kleine, schnelle Augen. Er spähte regelrecht.

 

Knips!

Ein nackter Junge, der etwas weiter oben über den kurzgeschorenen Rasen rannte.

Knips!

Noch ein nackter Junge, der in die andere Richtung rannte.

Dieser Mann musste von der Polizei sein. Offenbar war es verboten, so über den Rasen zu rennen und er machte Beweisfotos. Der Mann ging weiter. Ich folgte ihm. Dabei überlegte ich fieberhaft, wieso es den verboten sein konnte, über den Rasen zu rennen.

 

Der Mann ging langsam am Schwimmbecken entlang. Eine Spinne auf der Suche nach Beute. Dieser Polizist passte wirklich auf!

Knips!

Ein nackter Junge unter der Dusche.

Knips!

Ein nackter Junge, der einen kleinen Hügel hochkletterte.

Mir fiel auf, dass dieser Mann nur Jungs fotografierte. Kleine Jungs. Nackte Jungs. Fast alle von hinten.

Offenbar war es für kleine Jungs verboten, nackt im Schwimmbad herumzulaufen. Zum Glück trug ich wie immer eine Badehose.

Ich schaute mich um. Niemand nahm Notiz von diesem Mann. Es war, als wäre er für die anderen Erwachsenen unsichtbar.

 

Knips!

Knips!

Knips!

Dieser Polizist war eifrig. Er suchte und fand viele Beweise. Er walzte sich mit ruhiger Gelassenheit durch die Trauben der Erwachsenen, die am Beckenrand standen und irgendwas machten. Sein dicker Kopf auf dem dicken, kurzen Hals, drehte sich hin und her wie ein Suchscheinwerfer. Seine gefährlichen, kleinen Augen blitzten. Die anderen Erwachsenen bemerkten ihn nicht. Sie gingen zur Seite, wenn er kam. Aber ansonsten war er unsichtbar. Niemand schaute ihn an, niemand nahm Notiz von ihm.

 

Knips!

Knips!

Knips!

Lauter kleine Jungs. Nackte Jungs, die irgendwas gemacht hatten, was verboten war. Und die Gefahr, die von ihm ausströmte, wurde mit jedem Knips! größer. Niemand bemerkte es. Nur ich.

 

Das ganze muss über 20 Minuten gedauert haben.

Knips! Knips! Knips!

Ich beobachtete ihn aus sicherer Entfernung und achtete darauf, nichts Verbotenes zu tun.

 

Aber dann hörte ich, wie meine Mutter ärgerlich nach mir rief und ich musste los.

 

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Ein langer Weg 01

Als die Deutschen den Krieg begannen, der zum zweiten Weltkrieg werden sollte, waren meine Eltern acht und neun Jahre alt. Sie lebten an der Grenze zur Sowjetunion. Ihre Eltern waren arm, hart und gewalttätig. Zu der Verrohung, die sie aus ihren Elternhäusern mitbrachten, kam die Verrohung durch den Krieg. Wer das nicht kennt, kann nicht mal im Ansatz nachvollziehen, wovon ich hier rede.

Als die Russen kamen und der Krieg, den die Deutschen losgetreten hatten, alles unter sich begrub, endeten beide als „displaced persons“. Kriegskinder, Strandgut eines Tsunamis aus Gewalt und Vernichtung.

Für die Welt endete der Krieg 1945. In den Herzen meiner Eltern ging dieser Krieg weiter, so lange sie lebten.

 

Diese beiden verlorenen und geschundenen Seelen setzten vier Kinder in die Welt. Was sie da eigentlich machten, begriffen sie nicht. Den Krieg, den sie in ihren Herzen trugen, gaben sie eins zu eins an uns weiter. Zum Glück waren wir zu viert. Ein Einzelkind wäre keine drei Jahre alt geworden.

 

Unsere Kindheit bestand aus einer nicht endenden Orgie der Gewalt. Meine Eltern waren beide völlig verrohte, abgestumpfte Sadisten. Bleicher, kalter Schrecken ging von ihnen aus, wenn sie in unsere Nähe kamen. Sie schlugen uns jeden Tag. Sie schlugen so hart zu, dass wir durch die Gegend flogen. Kleine Kinder - ein, zwei oder drei Jahre alt. Sie schlugen mit der Hand, sie schlugen mit Gegenständen, sie schlugen mit allem, was greifbar war. Buchstäblich jeder Gegenstand konnte zur Waffe gegen uns werden. Mein Vater genoss es, mich an den Ohren hochzuheben und so durch die Wohnung zu tragen. Auf vielen Kinderfotos von mir ist zu sehen, dass mein Körper voller Hämatome war.

 

Meine Eltern genossen ihre Macht. Endlich waren sie nicht mehr die Opfer. Die Gewalt gegen uns nahm so ziemlich jede bekannte Form an. Nenne irgendeine Form der körperlichen Misshandlung – es ist sehr wahrscheinlich, dass ich dazu was aus eigener Erfahrung sagen kann. Diese Gewalt war nicht zufällig oder impulsiv und planlos. Sie war systematisch, sie war geplant, sie war sexualisiert, sie war gewollt. Meine Eltern genossen das.

„Ich hau‘ dich, bis die Fetzen fliegen“, sagte meine Mutter immer wieder.

„Haut heißt Haut, weil man draufhaut“, verkündete mein Vater fröhlich und lachte dazu.

„Ich hau dich, bis du nicht mehr weißt, wie du heißt“, sagte meine Mutter immer wieder.

Sie meinten es so. Sie handelten entsprechend.

 

Diese Form der Folter wird schwarze Folter genannt. Schwarze Folter ist die, die man sehen kann. Weit schlimmer war die weiße Folter, der wir permanent ausgesetzt waren. Weiße Folter kann man nicht sehen. Unsere Eltern setzten uns einem ausgeklügelten, allgegenwärtigen System der seelischen Grausamkeit aus. An der Perfektionierung dieses Systems arbeiteten sie ständig. Immer wieder fiel ihnen was Neues ein. Sie wurden immer besser. Sie waren sehr stolz auf sich.

 

Es ist schwierig genug zu beschreiben, was schwarze Folter mit einem Menschen macht. Ob ich je angemessen über die weiße Folter werde schreibe können, weiß ich nicht.

 

Reden wir also weiter nur über die schwarze Folter.

Diese permanente Folter, die wir als Kinder erlebten, hatte vier Stufen. Sie war allumfassend.

 

1

In einem ersten Schritt schlugen und misshandelten uns unsere Eltern, bis von unseren kleinen, zerbrechlichen Kinderseelen buchstäblich nichts mehr übrig geblieben war. Sie wollten unser Urvertrauen durch Urmisstrauen ersetzen. Das gelang ihnen. Gründlich. Sie wollten unsere Liebesfähigkeit vernichten. Das gelang ihnen. Gründlich. Sie wollten uns jede Lebensfreude austreiben. Auch das gelang ihnen.

 

2

In einem zweiten Schritt beschlossen sämtliche Erwachsene dieser Welt, wegzuschauen. Alle haben von dieser Folter gewusst oder es wissen können. Es war unübersehbar. Es war unüberhörbar. Alle haben sie weggeguckt. Alle, alle, alle. Die Polizisten, die Lehrer, die Passanten, die Ärzte, die Nachbarn, die Verwandten, die Pastoren, die Kirchgänger, die anderen Eltern auf den Spielplätzen, die Busfahrer, die Leute in der Straßenbahn …

Alle. Wirklich alle.

Ich erinnere mich zum Beispiel an den Tag, als ich vor meiner Einschulung ärztlich untersucht wurde. Ich kam in irgendeinen größeren Raum. Da waren auch andere Kinder. Ich wusste nicht, was ich da sollte. Ich war sicher, dass sie mir gleich wieder weh tun würden. Völlig verschüchtert und verstört saß ich in irgendeiner Ecke und las irgendeinen längeren Artikel in einer Zeitung, nur um meine Angst nicht fühlen zu müssen.

Dann kam dieser fremde Mann in Weiß. Ärzte waren gefährlich. Das wusste ich. Bislang hatten mir so ziemlich alle Ärzte, zu denen meine Eltern mich geschleppt hatten, entsetzlich weh getan. Ein Weißkittel bedeutete immer Gefahr und Schmerzen. Diesmal kam es nicht gar so schlimm. Ich wurde nur begutachtet. So wie man Vieh begutachtet.

„Der Junge hat aber sehr viele blaue Flecken“, stellte der Arzt fest.

„Ja, er lernt jetzt Fahrrad fahren“, sagte meine Mutter.

Der Arzt war zufrieden. Er notierte irgendwas auf sein Papier und das war’s dann.

 

3

In einer dritten Stufe der Folter wurde dieses System zementiert, indem uns Kindern einfach nicht geglaubt wurde. Als wir älter wurden und in die Schule kamen, fassten wir uns immer wieder ein Herz und zogen ausgewählte Erwachsene ins Vertrauen. Die Reaktion war immer dieselbe:

„Ach, das bildest du dir sicher nur ein!“

„Ach komm, jetzt übertreibst du aber!“

„Nein, das ist bestimmt nicht wahr! Sowas gibt es nicht!“

„Ich habe mit deinen Eltern gesprochen. Die sind nett.“

Es war sehr häufig ein flötender, beschwichtigender Tonfall in der Stimme der Erwachsenen, wenn sie sowas von sich gaben. Ich hasse diesen Tonfall bis heute.

 

4

Die vierte Stufe kam in der Pubertät.

Uns Kindern wurden von den Heerscharen der hilflosen Helfer eingeschärft, alles zu vergeben und zu vergessen.

„Du kannst doch nicht immer deine Eltern für alles verantwortlich machen!“

„Du, deine Eltern hatten es aber auch schwer. Guck doch mal …“

„Alle Eltern lieben doch ihre Kinder …“

„Du musst allmählich lernen, erwachsen zu werden …“

„Du musst aber auch deinen Beitrag leisten!“

„Ja, da musst du jetzt aber auch ein bisschen Verständnis für die Situation deiner Eltern haben …“

„Du musst nach vorne schauen. Was vergangen ist, ist vergangen.“

 

Es gab keine Ausnahme. Nicht.Eine.Einzige.

Das Netz des allgegenwärtigen Terrors, das unsere Eltern über uns geworfen hatten, war absolut dicht. Es gab kein Entrinnen. Alle Erwachsenen machten mit. Alle. Ohne jede Ausnahme.

 

Schwarze Folter stellt sehr eigentümliche Dinge mit der Seele und dem Verstand eines Menschen an. Wer das nicht erlebt hat, dem ist das schwer begreiflich zu machen. Ich kann mich noch erinnern, wie ich einen dicken Wälzer im Bücherregal fand:

Alexander Solschenizyn: Der Archipel Gulag.

Ich war damals 16.

Anfangs fand ich dieses Buch ziemlich öde und unverständlich. Aber dann war ich plötzlich gefesselt. Ich war gebannt. Ich konnte das Buch nicht mehr aus der Hand legen. Solschenizyn beschrieb die Zeit des „großen Terrors“ in der Sowjetunion. Er beschrieb, was sich in den Folterkellern der Geheimpolizei zugetragen hatte. Er sparte nicht mit Details. Und mir war sofort klar: Dieser Mann weiß, wovon er schreibt! Er war dabei. Er beschrieb, wie die Seele unter der Folter zerfällt und was alles passiert, wenn du versuchst, sie irgendwie wieder zusammenzubauen. Er beschrieb im Detail, wie man in diesem Ozean von Schmerzen verrückt wird und was man automatisch tut, um dem Verrücktwerden zu entgehen. Er beschrieb, wie die gesamte Welt zu grauer Asche wird – wie alles seine Farbe und seine Lebendigkeit verliert. Er beschrieb, wie man anfängt, seinen Folterer zutiefst zu verstehen und zu lieben. Wie plötzlich ein tiefer Sinn hinter dieser ganzen Folter erscheint. Dieser Mann wusste Bescheid.

 

Viele Jahre später habe ich Menschen gefunden, die mir zuhörten. Die mir auch dann noch zuhörten, wenn sie nicht mehr verstanden, weil es einfach ihren Horizont überstieg. Menschen, die mir glaubten und schwiegen. Auch dann, wenn sie nicht verstanden. Die das annehmen konnten, was ich sagte und war und nicht reflexartig in die Abwehr gingen. Sie zeigten mir Wege auf. Wege, die ins Leben führten. Nicht weg von der Angst, sondern in sie hinein und durch sie hindurch. Solche Menschen sind selten, aber es gibt sie.

 

Heute bin ich das, was meine Töchter einen alten Knacker nennen würden. Jahrzehnte liegen zwischen der Zeit der Folter und heute. Aber die Zeiten der Folter sind in mir lebendig wie eh und je. Diese Vergangenheit schläft nicht, und sie geht auch nie unter. Sie wird mich ein Leben lang begleiten. Das einzige, was du lernen kannst, ist, sie anzunehmen. Nicht zu vergeben und zu vergessen. Das auf keinen Fall. Aber du kannst lernen, dich selber anzunehmen. Als das Folteropfer, das du mal warst. Das geht. Das ist lernbar. Dann gewinnst du den Frieden, den du nie kanntest. Dann eroberst du Urvertrauen, Liebesfähigkeit und Lebensfreude zurück. Das geht. Aber es ist ein langer Weg. Ein sehr, sehr langer Weg.

 

Noch heute zucke ich jedes Mal zusammen, wenn ich höre, wie meine Kollegen laut und ausführlich die aktuellen Kinderschänderfälle aus der Tagespresse diskutieren. Ich höre, wie sie sich empören. Ich höre wie sie nach der Todesstrafe verlangen. Ich höre wie sie sich ereifern und schwadronieren und dabei kein Ende finden.

Was sie nicht wissen: Ich kann „sehen“.

Ich sehe ihren Voyeurismus. Ich sehe, dass sie am liebsten mitvergewaltigt und mitgeprügelt hätten. Ich sehe, wie sehr sie es bedauern, nicht dabei gewesen zu sein. Sie würden das niemals zugeben. Zu gut haben sie diesen Teil von sich abgespalten und verdrängt. Aber glaubt mir – ich habe Fähigkeiten, die andere nicht haben: Ich kann „sehen“. Ich sehe Dinge, von deren Existenz andere nicht mal eine Ahnung haben.

 

Ich gehe dann immer weg. Ich kann es auch heute nicht ertragen, wenn die „guten“ Menschen sich über Misshandlungen und Vergewaltigungen von Kindern ereifern. Ich kann „sehen“. Ich sehe, dass hier der Terror in anderer Form weiter geht.

 

Und falls sich unter meinen Lesern solche „guten“ Menschen befinden:

Ich kann hier nur für mich sprechen. Ich bitte euch um eins:

Seid still! Seid endlich still! Seid endlich mal still, wenn wieder so eine Gelegenheit zum Voyeurismus durch die Presselandschaft gejagt wird. Erspart mir eure „Betroffenheit“. Erspart mir eure „Empörung“. Erspart mir euer Geschwätz von Kastration und Todesstrafe. Damit ist keinem einzigen der Opfer geholfen. Keinem. Wieder mal geht es nicht um das Opfer, sondern einzig um euch und um das, was ihr an euch nicht wahrhaben wollt.

 

Ich rede hier nur für mich:

Ich habe die Erfahrung gemacht, dass nur Folteropfer Folteropfer verstehen können. Und ihr Anderen - ihr habt keine Ahnung. Gar keine. Und so wie es aussieht, werdet ihr auch nie welche haben.

 

Das, was ihr da treibt, ist nur ein zusätzlicher Faden in dem Netz des allgegenwärtigen Terrors, das sie über mich geworfen haben. Sonst nichts.

 

Seid endlich still!

 

 

 

P.S.

Wir waren vier Geschwister.

Mein älterer Bruder ist im harten Drogenmilieu ermordet worden, als er 21 Jahre alt war.

Über meine beiden jüngeren Schwestern werde ich schweigen, so lange sie noch leben.

So, wie ich es sehe, gab es einen Überlebenden: Mich.

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Autistischer Stolz – autistische Fähigkeiten

Ich kam mit dem Professor, der mich diagnostiziert hatte am Rande einer Tagung ins Gespräch. Wir unterhielten uns sehr lange.

„Autistic Pride …“, sagte er an einer Stelle des Gesprächs.

„Was ist das?“, wollte ich wissen.

„Nun, das ist analog der Gaypride-Bewegung“, erklärte er mir. „Autisten sollen sich zusammentun und offensiv und stolz nach außen vertreten, dass sie Autisten sind, und dass das gut ist.“

Ich runzelte die Stirn:

„Wozu soll denn das gut sein?!“

 

Mit dem Wort „Stolz“ habe ich manchmal so meine Probleme. Das liegt auch an der vielfältigen Bedeutung des Wortes. Das Wort „Stolz“ kann sehr negativ besetzt sein, wenn es in der gleichen Richtung wie „Hochmut“ benutzt wird. Es kann sehr positiv besetzt sein, wenn es mit Leistungen verknüpft ist, die man selbst erbracht hat.

Meistens empfinde ich keinen Stolz, wenn ich mich beschreibe. Ja, es gibt Dinge, die ich gut kann. Aber was davon ist angeboren und was beruht auf eigener Leistung? Und ist nicht auch die Fähigkeit, mehr oder anderes zu leisten als andere, angeboren? Warum (und wie) sollte ich auf etwas stolz sein, was mir in den Genen mitgegeben wurde?

 

Ich kann diese Fragen nicht beantworten. Aber wenn wir die Tücken des Begriffes „Stolz“ vermeiden und stattdessen darüber reden, ob ich Fähigkeiten habe, die andere nicht haben, dann kann ich ganz sicher sagen: Ja, es gibt Fähigkeiten, die ich habe, die andere Menschen (augenscheinlich) nicht haben. In wie weit diese Fähigkeiten mit meinem Autismus zusammen hängen, weiß ich nicht.

 

Ich will versuchen, das an einem nachvollziehbaren Beispiel zu schildern.

Ich versichere, dass alle Aussagen, die ich machen werde, nachprüfbar wahr sind. Jedoch muss ich, um mich und andere schützen, weitgehend Anonymität wahren und werde keine Angaben machen, die Rückschlüsse auf die beteiligten Personen zulassen.

 

Ich bin Synästhet. Das bedeutet in meinem Fall, dass ich Farben, Formen und Gerüche dort wahrnehme, wo objektiv keine sind. Ich habe große Schwierigkeiten, aus Gesichtern von Menschen brauchbare Informationen herauszulesen. Deshalb nutze ich, seit ich denken kann, meine synästhetische Wahrnehmung von Menschen, um angemessen auf diese Menschen reagieren zu können. 

 

Zugleich habe ich immer wieder Schwierigkeiten, die soziale Bedeutung gesprochener Worte so zu interpretieren, wie Nichtautisten (NTs) das tun. Über die Jahrzehnte habe ich auf diesem Gebiet einiges gelernt. Aber immer noch ist es so, dass ich Sätze, die andere sprechen, behandle wie mathematische Gleichungen: Sag mir was, und ich fange an zu rechnen. Ich löse diese Gleichungen und schaue, ob dabei was Sinnvolles rauskommt. Dabei entdecke ich immer wieder Zusammenhänge, die den NTs offenbar entgehen. (Dafür entgeht mir immer noch vieles, was die NTs auf den ersten Blick wahrnehmen) Menschliches Verhalten ist für mich fast immer eine mathematische Thematik. Ich brauche komplexe Algorithmen, um mich in der Welt der NTs sicher bewegen zu können. Hinter diesen komplexen Algorithmen stecken ebenso komplexe Modelle, die die Psyche des Menschen beschreiben.

 

Das, was ich berichten will, ereignete sich in den Jahren 2008 und 2009. Ich arbeitete damals schon seit vielen Jahren in der deutschen Niederlassung eines internationalen Großkonzerns. Das Team, in dem ich arbeitete, bestand aus mehr als 20 Leuten. Wir hatten vielfältige Aufgaben, aber vor allem beschäftigten wir uns damit, Weiterbildungsmaßnahmen für die Angestellten zu entwickeln und durchzuführen.  

Auf einer Tagung im Winter 2008 saß ich neben einem Kollegen, der mir verändert erschien. Ich wusste nicht, was es war. Er gehörte zu den Menschen, die zwar sehr introvertiert sind, im Zwiegespräch aber gerne von sich erzählen. So war es auch diesmal. Ich hörte ihm aufmerksam zu. Er erzählte wie üblich von seinem Haus und seinem Garten und von seinem Schützenverein. Er erzählte von seinen beiden Kindern und davon wie prachtvoll sie sich entwickelten. Er erzählte von den goldenen Zeiten, die er bei der Bundeswehr erlebt hatte, wo man ihn zum Fallschirmspringer und zum Einzelkämpfer ausgebildet hatte. Er erzählte davon, dass er sich mit seiner Frau einen neuen Grill angeschafft hatte, den es sonst nur in den USA gab. …

Er erzählte und erzählte und erzählte.

 

Während er erzählte, begannen die Farben, die ich wahrnahm, sich zu verändern. Sie wurden blasser. Und aus einem vorherrschenden Braun wurden beige Farbtönungen. Solche Farben hatte ich noch nie bei einem Menschen wahrgenommen. Gleichzeitig fing eine diese Farben an zu verdampfen und verströmte einen ganz eigentümlichen Geruch.

Irgendwann hörte der Kollege auf zu erzählen und ging woanders hin. Ich blieb tief beunruhigt zurück. In den folgenden Tagen ging ich wieder und wieder das durch, was er gesagt hatte. Irgendwas war an den Gleichungen (Sätze = mathematische Gleichungen), was zu den Bildern und den Gerüchen passte, aber ich fand nicht raus, was. Bis ich in einer der folgenden Nächte aufwachte und mir ganz sicher war, dass ich die Gleichungen richtig gelöst hatte. Die Gleichungen ließen sich nur dann exakt auflösen, wenn man von einer bestimmten Annahme ausging:

Massenmord.

 

Direkt am nächsten Tag suchte ich einen Betriebsrat meines Vertrauens auf.

„Was kann ich für Sie tun?“, fragte er.

„Ich habe unter den Kollegen den nächsten Amokläufer identifiziert“, antwortete ich. „Ich brauche Hilfe.“

 

Mir war bewusst, dass das ein schwerwiegender Vorwurf war. Mir war bewusst, dass ich nichts Verwertbares vorweisen konnte. Was sollte ich den Menschen sagen?

„Einer meiner Kollegen hat eine beige Farbtönung angenommen, die nach Tod durch Massenmord riecht! Verhaften Sie ihn bitte sofort! Er wird uns alle umbringen!“

Ich nannte deshalb erst mal nicht den Namen des Kollegen. Ich zählte nur meine Wahrnehmungen auf. Da ich mit diesem Betriebsrat seit vielen Jahren eng zusammen arbeitete, wenn es um das Erkennen suchtkranker Kollegen am Arbeitsplatz ging, wusste er von meiner ungewöhnlichen Art, Menschen wahrzunehmen.

Er hörte sich geduldig an, was ich zu sagen hatte und versprach mir am Ende unseres Gespräches, Rücksprache mit Experten zu halten.

 

Diese Rücksprache ergab, dass wir nichts in der Hand hatten. Weder auf medizinischer, noch auf juristischer Ebene. Ich dachte mir, dass das auch besser so sei. Denn sonst könnte jeder kommen und seine Nachbarn denunzieren und hinter Gittern verschwinden lassen.

 

Der Betriebsrat und die hinzugezogenen Experten nahmen meine Aussagen sehr ernst, was für mich sehr positiv war. Aber wie wir die Dinge auch drehten und wendeten – es gab keine Möglichkeit, tätig zu werden, wenn der Kollege nicht von sich aus Hilfe suchte. Und das tat er nicht. Er hatte sich nichts zuschulden kommen lassen und ließ sich nicht einmal auf die Ansätze von Gesprächen ein.  

 

Es vergingen Monate, in denen sich nichts tat. Der Gewaltausbruch, den ich befürchtet hatte, blieb aus. Aber die Farben und ihre eigentümlichen Gerüche waren unverändert. Ich blieb ausgesprochen wachsam.

 

Im Herbst 2009 bekam ich in den frühen Morgenstunden eine E-Mail vom Assistenten des Chefs mit dem Betreff „Traurige Nachricht“. Ich brauchte die Nachricht nicht zu lesen. Ich wusste auch so, was drin stand: Der Kollege hatte sich erschossen.

 

Meine anderen Kollegen fielen aus allen Wolken und waren zutiefst betroffen. Ich war vor allem erleichtert: Die Aggression des Kollegen hatte sich nach innen gerichtet und nicht nach außen. Er war implodiert, nicht explodiert.

 

Nach der Selbsttötung kamen Dinge ans Licht, die niemand gewusst hatte:

Zum einen war der Kollege alkoholkrank gewesen. Das war mir entgangen, obwohl ich sonst ein ganz gutes Gespür für Alkoholiker habe.

Zum anderen hatte der Kollege in den Jahren vor seinem Tod zur Arbeit immer eine großkalibrige Pistole und ca. hundert Schuss Munition mitgebracht. Als ihn seine Frau gefragt hatte, warum er das denn täte, hatte er geantwortet: „Ich muss mich verteidigen können.“

Dieser Kollege galt als Meisterschütze. Er war bei der Bundeswehr zum Einzelkämpfer ausgebildet worden und war sehr aktiv in seinem Karate-Verein. Er war ein zutiefst narzisstisch gekränkter Mensch voller brodelnder Gewaltphantasien gewesen. Er hätte uns alle umgebracht.

 

Das ist jetzt einige Jahre her. Seitdem habe ich im Konzern einen weiteren Amokläufer identifiziert. Aber der nimmt seine Psychopharmaka jetzt wieder regelmäßig und seine Farben sind wieder andere geworden.

 

Ich erkenne bei meinen Mitmenschen vieles nicht, was die Nichtautisten (NTs) selbstverständlich wahrnehmen. Ich nehme bei meinen Mitmenschen manches wahr, was NTs völlig entgeht. Ich habe auch andere Fähigkeiten, die Nichtautisten offenbar nicht haben. Aber das nehme ich hin, wie ich die Schwerkraft hinnehme – es ist nichts, worauf ich stolz wäre.

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Heute war ich bei recht niedrigen Temperaturen im Mittelgebirge wandern.

Da wurde die Erinnerung wieder sehr lebendig.

Der Handschuh

Es war Winter. Ich war damals zwölf Jahre alt. Ein spindeldürrer, verschüchterter, verstörter Junge. Ein retardiertes, ziemlich merkwürdiges Kind. Wir waren arm. Sehr arm. Das Essen war bei uns daheim streng rationiert: Zum Mittagessen gab es nur zwei Scheiben Brot mit Margarine. Oder – die Alternative – zwei Scheiben Brot mit Margarine und Salz. Die Scheiben waren recht dünn, die Margarine auch nicht eben reichlich. Das Frühstück – na ja, wenn’s welches gab, machte das auch nicht viel her. Und das Abendessen ließ auch jede Menge Wünsche offen.

 

Die Essenszuteilung fand immer in der Küche statt. Dort war das Revier meiner Mutter. Sie war höchstwahrscheinlich Asperger-Autistin (AS) und hatte ein ganz anderes Wärmeempfinden als ihre vier Kinder. In ihrer Küche hing ein Thermometer. Meistens waren es dort 15 °C. Es konnte aber auch mal 16 °C haben.

Bei uns daheim war es überall kalt. Wir hatten zu wenig Geld, um vernünftig zu heizen. Meiner Mutter war es gerade recht, wenn’s so kalt war, meinem Vater war’s egal, und wir Kinder froren den ganzen Winter über fürchterlich. Uns war es nur warm, wenn wir in der Schule waren. Die Ferien konnten deshalb recht bitter sein.

 

Wir bekamen nie genug zu essen. Nicht mal annähernd. An den Kühlschrank durften wir nicht ran, meine Mutter bewachte ihn buchstäblich Tag und Nacht. Und die Tiefkühltruhe war mit einem Vorhängeschloss verriegelt. Im Winter gab es auch keine Früchte mehr in den Gärten der Nachbarn, die man nachts hätte stehlen können und auch die Haselnusssträucher im Wald warfen schon lange nichts mehr ab, Bucheckern waren wirklich rar … So hungerten wir eben. Und froren.

 

„KZ-Häftling“, sagte meine jüngere Schwester, wenn ich in’s Zimmer kam. Sie hielt einen Bleistift senkrecht vor ihr Gesicht. Dann kniff sie ein Auge zu:

„Ich seh dich nicht mehr.“

Ich war derart ausgemergelt, dass es auch jedem in der Umgebung auffiel. Aber niemand machte was. Wie immer. Und Mitgefühl und mitleidige Blicke machten mich auch nicht satt.

 

Da wir kein Geld hatten, trug ich jahrein, jahraus dieselbe Kleidung. Ich hatte ein Paar gelbe Gummistiefel. Die trug ich sommers wie winters. Jahrelang. Manchmal fragten mich Lehrer oder Mitschüler, warum ich nie was anderes tragen würde, immer nur diese gelben Gummistiefel. Wenn ich ihnen sagte, dass ich sonst nichts anderes hätte, glaubten sie mir entweder nicht oder faselten davon, dass es doch nicht teuer sei, Schuhe zu kaufen.

Ich beschloss, auf ihre blöden Fragen überhaupt nicht mehr zu antworten und hielt das jahrelang rigoros durch.

 

Ich hatte jahrelang exakt eine Hose. Wenn die schmutzig war, wusch ich sie oder gab sie meiner Mutter zum Waschen. Und dann bügelte ich sie solange, bis sie wieder trocken war, damit ich sie gleich wieder anziehen konnte. Oder ich zog sie nass an, wenn keine Zeit zum Bügeln war. Irgendwann wurde sie auch am Körper trocken.

Ich wuchs. Die Hose nicht. Auch deshalb waren die Gummistiefel extrem praktisch: Wenn ich die Hosenbeine in die Gummistiefel steckte, konnte niemand sehen, dass die Hose viel zu kurz war. Wie oft war ich wegen meiner zu kurzen Hosen von Schülern oder Lehrern blöd angemacht worden – mit Einführung dieser Gummistiefel hörte das auf.

 

Der dünne, braune Anorak, den ich immer trug, wärmte nicht wirklich. Vor allem im Winter pfiff es da gnadenlos durch. Aber es war besser als nichts. Das wurde natürlich ziemlich ätzend, wenn die Temperaturen deutlich unter null fielen. Aber was sollte ich machen?

 

Für die unter meinen Lesern, die solche Erfahrungen nicht gemacht haben:

Ich kann euch versichern, dass man sich irgendwann an die Kälte gewöhnt. Es nimmt zwar viel an Lebensqualität, wenn man wochen- oder monatelang nicht warm wird, aber man gewöhnt sich dran. Es wird dadurch nicht besser. Die lausige, beißende Kälte bleibt immer die lausige, beißende Kälte. Aber man gewöhnt sich dran. Man findet sich damit ab, wie man sich mit der Schwerkraft abfindet oder damit, dass man sich regelmäßig die Fingernägel stutzen muss.

 

Wichtig ist dabei, dass man draußen immer in Bewegung bleibt. Du darfst nicht stehen bleiben. Einfach immer weiter gehen, immer den gleichen Schritt halten – immer weiter und weiter. Sobald du stehen bleibst, bist du verratzt. Wenn du durch eine Stadt gehst, such‘ dir einen Weg, bei dem du garantiert an keiner roten Ampel stehen bleiben musst. Eine rote Ampel kann dein Tod sein. Beweg dich!

 

Da war ich also – 12 Jahre alt, chronisch unterernährt, und außerhalb der Schule ständig mit Bibbern und Frieren beschäftigt.

In der Schule selbst – eine gigantische Lernfabrik aus purem Beton mit deutlich mehr als zweitausend Schülern – beschäftigte ich mich in der freien Zeit gerne damit, mit ein paar anderen Jungs auf den Gängen Fußball zu spielen. Das durften wir zwar nicht, aber irgendwer hatte fast immer einen Tennisball dabei und die Lehrer konnten nicht jeden dieser endlos langen Flure beaufsichtigen – also los!

 

Ich erinnere mich noch wie heute, wie wir drei gegen drei durch die Gänge tobten. Die kleine, grüne Filzkugel sauste mit mächtig Speed durch die Gegend und auf einmal – Plonk, Plink, Boink – war sie verschwunden. Wir wussten genau, wo sie sein musste:

Unter der Decke hingen Neonröhren in mattschwarzen Fassungen. Und oben auf diesen Fassungen war genug Platz für jede Menge Zeug. Jedes Kind in dieser Schule wusste, dass diese Lampen Tennisbälle geradezu „fraßen“.

Wir schauten uns bedröppelt an: Sechs Jungs, die hatten Fußball spielen wollen. Jetzt war mal wieder alles vorbei. Die Lampen hingen zu hoch als dass wir da hätten rankommen können.

Dann fiel einem von uns auf, dass einer der Klassenräume offenbar nicht abgeschlossen war. Es schien auch niemand drin zu sein. Vorsichtig und neugierig spähten wir hinein. Tatsächlich: Niemand da.

Es dauerte nur Minuten, und wir hatten aus Tischen ein kleines Podest gebaut, auf dem einer von uns bis an die Lampenfassungen reichen konnten. Unsere Wahl fiel auf Thomas. Der kletterte hoch und begann, auf den Fassungen rumzufingern. Er fand was.

„Scheißdreck!“, sagte er und warf es achtlos zu Boden. Dann suchte er weiter nach dem Ball.

 

Ich bückte mich. Was er da runtergeworfen hatte, war ein Handschuh. Ein Handschuh aus Kunststoff und Lederimitat, schwarz und blau mit ein paar roten Linien. Keine Ahnung, wie der nach da oben gekommen war.

Für mich war dieser Handschuh absolut magisch. Ich hob ihn auf. Ich schaute mich um. Keiner der anderen beachtete mich. Alle schauten nach oben, wo Thomas weiter nach dem Ball tastete. Ich steckte den Handschuh entschlossen in meine Anoraktasche.

„Hab ihn!“, ließ Thomas triumphierend vernehmen und dopsend kam der Ball von oben runtergeflogen.

Kurz danach sausten wir wieder über den Flur, drei gegen drei, immer hinter dieser grünen Filzpille her.

 

Als ich aus dem Schulgebäude kam, war es schon dämmrig. Der übliche kalte Wind pfiff. Ich hatte Hunger wie ein Wolf. Wie üblich. Mit langsamen, trottenden Schritten machte ich mich auf den Heimweg. Durch Felder und Wiesen und durch den Wald. Dann packte ich diesen Handschuh aus und zog ihn über die rechte Hand. Es war wie ein Wunder! Die Hand wurde warm! Sie wurde warm! Sie wurde warm!!

Und sie blieb warm. Sie blieb warm! Den ganzen Heimweg. Ich konnte es nicht fassen. Ich fasste absichtsvoll ein paar besonders kalte Gegenstände an, mit dieser behandschuhten Hand – ein paar Steine, ein rostiges Metallgeländer, ein paar Baumstämme. Und was mir sonst Kälteschauer bis ins Innerste gejagt hätte, war jetzt kaum mehr spürbar. Die Hand blieb warm! Das Paradies auf Erden!

 

Daheim angekommen zog ich den Handschuh aus und versteckte ihn. Das war mein Schatz. Niemand sollte ihn haben! Keiner von uns Kindern hatte Handschuhe. Klar, hatte uns unsere Mutter mit irgendwelchem selbstgestrickten Mist ausgestattet, aber ob man diese Handschuhe trug oder nicht, war völlig egal. Mit ihnen fror man, ohne sie auch. Da wir von anderen Kindern immer gehänselt und angepöbelt wurden, wenn wir sie trugen, verzichteten wir ganz auf sie.

Aber so einen Handschuh, wie ich ihn jetzt hatte, hatte niemand in der Familie. Sie würden ihn mir wegnehmen, wenn sie davon erführen. Aber ich sorgte schon dafür, dass niemand davon erfuhr.

Bei der Essensausgabe in der ungeheizten (aber gut gelüfteten) Küche (meine Mutter hatte im Winter immer das Fenster in der Küche offen) freute ich mich schon auf den Schulweg am nächsten Tag. Vielleicht würde es sogar mal richtig viel schneien – und meine Hand würde warm sein!

 

Nun, es schneite nicht, die nächsten Tage. Die Temperaturen lagen um den Gefrierpunkt. Es war niederschlagsfrei. Aber das machte nichts. Meine Hand war warm, und das war magisch. Ich musste sie nicht wie sonst in der Schule erst mal lange in der Nähe der Heizung halten, damit sie auftaute. Immer wieder schaute ich während des Unterrichts verstohlen auf meinen Handschuh. Schwarz und blau mit roten Linien. Konnte es was Schöneres geben?!

 

Das Wunder währte genau drei Tage. Dann sah mich Jürgen aus der neunten Klasse mit dem Handschuh.

„Das ist meiner“, sagte er und zeigte mir den passenden linken Handschuh. Klassenkameraden hatten ihn ärgern wollen und seinen rechten Handschuh verschwinden lassen. Er wollte ihn wiederhaben. Ich gab ihn ihm. Was blieb mir schon übrig.

 

Also trottete ich wieder mit zwei frierenden Händen nach Hause. Bis zum Frühjahr war noch lang‘, und bis dahin war halt wieder Frieren angesagt. Aber dieser Handschuh war mir seitdem wie ein entfernter Leuchtturm in dunkelster Nacht:

Irgendwann würde ich Geld haben. Irgendwann. Und dann würde ich mich jeden Tag satt essen. Jeden einzelnen Tag! Und ich würde den ganzen Winter über heizen. Warm würde es sein! Warm! Und ich würde Handschuhe haben. Nie wieder würden meine Hände frieren müssen.

 

Ich war ein chronisch unterernährter, verschüchterter und verstörter Junge. Ein merkwürdiges, retardiertes Kind. Das Elend, in dem ich lebte und das ich in mir trug, war für jeden sichtbar. Niemanden kümmerte es. Aber dieser Junge hatte jetzt etwas, wofür es sich zu leben lohnte! Etwas, woran sein Herz sich immer wärmen konnte. Irgendwann würde das alles anders werden. Er würde zu essen haben! Er würde es warm haben! Und er würde Handschuhe haben!

 

Irgendwann.

 

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Depression, Depression! 02

Der Professor, der bei mir die Diagnose Asperger-Syndrom (AS) gestellt hat, sagte uns mal auf einem Autistentreffen, dass 85% der Erwachsenen, die er als AS diagnostiziert habe, im Verlauf ihrer Suche nach der richtigen Diagnose als depressiv diagnostiziert worden seien. Sehr oft als „atypisch“ depressiv.

 

Diese Diagnosen auf Depression waren von Psychiatern und Psychologen gestellt worden. Das waren geschulte und erfahrene Leute, die sich ihr Wissen nicht beim Friseur oder bei Wikipedia zusammengelesen haben. Wie konnte es dazu kommen?

 

Ich habe dazu nur Hypothesen. Ich kann auf keinerlei wissenschaftliches Zahlenmaterial zurückgreifen. Und ein Experte für die Diagnose psychischer Leiden bin ich auch nicht.

 

Es sind vermutlich vor allem vier Dinge, die im Leben eines AS typisch sind, die ein guter Nährboden für Depressionen sind:

1.    Reizüberflutung

2.    Heimatlosigkeit und Fremdheit

3.    Ständiger Zwang, jemand anderes zu sein

4.    Ständige Alarmbereitschaft

 

Was heißt das im Einzelnen und konkret?

 

Reizüberflutung

Die Nichtautisten (NTs) sind die überwältigende Mehrheit. Sie haben sich die Welt so eingerichtet, dass sie zu ihren Bedürfnissen passt. Für den durchschnittlichen AS ist sie viel zu grell, viel zu bunt, viel zu laut, viel zu hart, viel zu sehr mit starken Gerüchen durchzogen, viel zu hektisch, mit viel zu vielen unnötigen Reizen ausgestattet und viel zu unlogisch. Wenn ich nicht daheim oder alleine in der Natur bin, sondern dort, wo die NTs sich wohl fühlen, sind meine Sinne beinahe permanent überlastet. (Das gilt auch und besonders für die Orte, die mir von NTs als „idyllisch“ beschrieben werden!!)

 

Heimatlosigkeit und Fremdheit

Seit ich denken kann, fühle ich mich in dieser Welt fremd, fremd, fremd, fremd. Jahrzehntelang habe ich immer wieder versucht, meinen Platz in dieser Welt zu finden und dazu zu gehören. Ich habe sehr viel Zeit, Geld, Energie, Kreativität, Gedankenkraft, Mut und Abenteuersinn in dieses Unterfangen gesteckt: In dieser Welt heimisch zu werden. Aber es geht nicht. Da wo NTs sind, kann ich nicht sein.

Bist du AS, dann ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass das Wort Heimat für dich gestrichen ist. Die meisten NTs erleben dieses Gefühl intensiv während der Pubertät. Bei vielen von uns ist das Dauerzustand. Diese Welt ist die falsche für uns Autisten. Aber es gibt weder einen Ausstieg aus dieser Welt, noch Aussicht auf Besserung.

 

Ständiger Zwang, jemand anders zu sein

Wenn du AS bist, ist die Wahrscheinlichkeit sehr hoch, dass du von frühester Kindheit an vor allem eine Botschaft bekommst:

„Du bist falsch!“

Laut, durchdringend und allgegenwärtig ist diese Botschaft. Tag und Nacht, auf allen Kanälen:

„Du bist falsch!“

 

Wenn du so fühlst, denkst und handelst, wie es zu dir passen würde, bekommst du permanent negative Rückmeldung. Oder anders ausgedrückt: Dafür, dass du so sein willst, wie du eben bist, gibt es Druck. Richtig Druck!

„Sieh mich an, wenn ich mit dir rede!“

„Nun sei doch nicht immer so schüchtern!“

„Geh doch mal raus, mit den anderen spielen!“

„Nun gib der Oma schön die Hand!“

„Du kannst doch nicht immer nur lesen!“

„Mensch, nun sei nicht immer so ungeschickt!“

„Sprich doch mal lauter!“

 

Die anderen – vorzugsweise deine Eltern – wissen, was richtig ist. Sie wissen, wie du sein solltest. Sie wissen, was gut für dich ist. Und die Kindergärtnerinnen, die Nachbarn, die Verwandten, die Medien, die Lehrer, die Sozialarbeiter und die Psychologen und Psychiater, die wissen das auch. Sie alle üben permanenten Druck auf dich aus, jemand anders zu sein.

Alles, was sie sagen und tun, ergibt einen durchdringenden, nie endenden Chor von:

„Du bist falsch!“

 

Eine derart harte Umwelt hat für jeden, der in ihr groß wird, eine weitere Botschaft:

„Pass dich an! Pass dich an! Pass dich an! (Oder du verreckst!)“

Wir AS passen uns an. Das tun wir quasi ab Geburt. Was bleibt uns übrig?

Die meisten von uns investieren den größten Teil ihrer Lebensenergie da hinein, dieser Forderung nach Anpassung gerecht zu werden. Um anders zu werden und akzeptiert zu werden, kreieren wir einen Avatar, der an unserer Stelle durchs Leben gehen soll. Mit den Jahren wird er immer besser. Je besser dieser Avatar wird, desto mehr Energie verschlingt er. Zum Schluss haben wir vergessen, wer wir selber sind. Und es ist keine Lebensenergie mehr für uns selber übrig. Der Avatar hat alles gefressen.

 

Später, wenn sie dich als AS diagnostiziert haben, werden sie versuchen, dir einzureden, dass AS eine Entwicklungsstörung ist. Oder besser noch: Eine tiefgreifende Entwicklungsstörung.

Auch hier geht es also weiter:

„Du bist falsch!“

 

Ständige Alarmbereitschaft

Wo NTs sind, da ist Gefahr. Die AS, die ich kenne, aktivieren reflexartig ihren Avatar, sobald sie mit einem NT in einem Raum sind, um dieser Gefahr zu begegnen. Das machen sie nicht bewusst. Das ist eine Konditionierung, die sie von Kindesbeinen an durchlaufen haben.

Wirklich entspannt zu sein in der Gegenwart von NTs ist den AS, die ich kenne, ziemlich unmöglich. Die AS, die ich kenne, sind in der Gegenwart von NTs permanent gestresst.

 

 

Diese vier Dinge zusammen genommen (1) Viel zu häufige Reizüberflutung, (2) Heimatlosigkeit und Fremdheit, (3) ständiger Zwang, jemand anders zu sein und (4) ständige Alarmbereitschaft (wenn ein NT da ist), ergeben ein sehr ungesundes Gemisch. Dafür sind Menschen einfach nicht gemacht.

 

Vielleicht ist das ein guter Nährboden für Depression.

 

Den NT will ich sehen, der unter vergleichbaren Bedingungen nicht depressiv werden würde. 

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Kommentare: 1
  • #1

    sergio Antonio (Sonntag, 13 Oktober 2019 16:33)

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Depression, Depression!

Wenn ich für jedes Mal, das mir ein Nichtautist (NT) eine Depression andichtete, nur einen Cent bekommen hätte, dann könnte ich mir davon bestimmt einen Radiergummi kaufen. Den würde ich dann depressiv anstarren, bis er Risse bekommt und von selbst auseinander fällt. Denn das ist es ja wohl, was anständige Autistisch-depressive tun: Depressiv stieren und starren und nichts tun.

 

Ja ja, die NTs wissen Bescheid. Die haben alle beim Friseur dieselbe Zeitschrift gelesen und kennen sich jetzt aus mit Seelenfinsternissen aller Art. Ich bin also depressiv. Was ist dazu zu sagen?

 

Ich hab’ bei den NTs mal nachgefragt, woran sie denn erkennen, dass ich depressiv bin.

 

Und hier das Ergebnis:

Ich tue bestimmte Dinge überhaupt nicht, während ich andere ganz exzessiv tue. Schauen wir uns das mal an:

 

1

 

Dinge, die ich nicht tue

 

·         mich mit Freunden verabreden

·         auf Feiern gehen

·         ein (anständiges) Hobby pflegen, das mich in Kontakt mit anderen bringt

·         mich an Unterhaltungen unter Kollegen beteiligen

·         Leute auf der Straße grüßen und mich mit ihnen über dies und das und jenes unterhalten

·         fernsehen oder Radio hören

·         mir Blumen kaufen oder mitbringen lassen

·         die Familie treffen

·         ins Kino, ins Theater oder in die Oper gehen

·         mal mit anderen kochen oder mal schön essen gehen oder segeln oder sowas

·         mich zu Karneval verkleiden

·         mich beteiligen, wenn die anderen Witze reißen und/oder Alkohol trinken

·         mal so richtig aus mir herausgehen. („So ganz unkontrolliert und spontan, weißt du“).

·         ins Stadion oder auf Stadtteilfeste gehen

·         andere um Rat fragen, wenn mich was bedrückt

·         ans Telefon gehen, wenn jemand anruft

·         an die Tür gehen, wenn’s geklingelt hat

·         jemanden anrufen und mich nett unterhalten

 

2

 

Dinge, die ich tue

 

·         stundenlang bewegungslos rumsitzen und vor mich hinstieren

·         die Dinge immer so ernst nehmen

·         die ganze Zeit allein sein wollen und nichts tun

·         an nichts Freude haben und schrecklich abweisend sein

·         arbeiten, arbeiten, arbeiten – 60 Stunden und mehr in der Woche

·         mir Sorgen machen

·         immer nur so theoretisches, wissenschaftliches Zeug lesen, niemals was Schönes

·         gedankenverloren und abwesend durch den Wald gehen

·         immer dieselben langweiligen Computerspiele spielen

 

Ja, es dauert sicher noch ein Weilchen, bis aus mir ein anständiger NT wird. Bis dahin muss ich noch viel und hart an mir arbeiten. Und in der Zwischenzeit werde ich wohl depressiv rumhängen und meinen Radiergummi anstarren. Bis er von selbst auseinander fällt.

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Ein Tropfen hält eine Tonne

Ich bin armer Leute Kind. Musikinstrumente konnten wir uns nicht leisten. Wenn ich als Kind Musik machen wollte – und ich wollte oft Musik machen -, drückte mir meine Mutter einen Topf und einen Kochlöffel in die Hand. Klang Kleng Ping. Musikalische Früherziehung für Arme. War nicht wirklich erfüllend oder befriedigend. Später bekam ich zum Geburtstag ein billiges Xylophon, das in einer Dur-Tonart über eine ganze Oktave ging: Musikalische Früherziehung für Doofe.

 

Als Jugendlicher (immer noch arm) stieß ich im Haushalt meiner ersten Freundin (ja, auch Autisten haben Freundinnen) auf ein Wunder: Da stand ein echtes, leibhaftiges Klavier. Grundausstattung in Haushalten des gehobenen Bildungsbürgertums. Ich war fasziniert. Ich war wie magisch angezogen. Als ich mal allein im Raum war, klappte ich es auf und drückte ein paar Tasten. Es klang schauerlich.

„Das muss mal gestimmt werden“, sagte meine Freundin.

 

„Ein Tropfen hält eine Tonne“, sagte meine zweite Freundin ein paar Jahre später halb spöttisch, halb liebevoll.

„Was?“, fragte ich. Ich verstand gar nichts.

„Wenn du irgendwo ein Klavier siehst. Dann ist es, als würde ein Magnet dich ziehen. Und dann sitzt du da stundenlang wie mit Sekundenkleber angeklebt und drückst auf die Tasten. Stundenlang. Nichts kann dich wegkriegen. Ein Tropfen hält eine Tonne.“

„Ach?“, fiel mir dazu ein. Mir war das gar nicht aufgefallen. Nach meinem Erleben saß ich immer nur ganz kurz am Klavier ihrer Eltern. Höchstens fünf Minuten.

 

Ich bin kein Klavieroholiker. Aber es stimmt: Klaviere sind magisch für mich. Jedenfalls, wenn sie gestimmt sind. Ich kann mich erinnern, wie ich ein paar Jahre nach dem „Ein Tropfen hält eine Tonne“ für eine Woche im Kloster war. Eines Morgens stieß ich dort in einem leeren Musikzimmer auf ein Klavier. Ich setzte mich, klappte es auf und drückte auf eine Taste. Dann auf noch eine. Die Töne passten zusammen – das Klavier war gestimmt. Ich drückte auf die beiden Tasten. Erst auf die eine, dann auf die andere. Dann lauschte ich, wie die Töne durch den Raum schwebten und ganz allmählich verschwanden. Als sie schließlich völlig verhallt waren, drückte ich die beiden Tasten erneut. Erst die eine, dann die andere. Wieder geschah das Magische: Töne perlten hervor und klangen durch den Raum – ganz lange. Bis sie schließlich allmählich verblassten und verschwanden. Als sie völlig verschwunden waren, wollte ich das nochmal hören. Ich drückte auf die beiden Tasten …

 

Gegen Mittag schaute ein Ehepaar zur Tür herein, das im Kloster mit irgendwelchen Exerzitien beschäftigt war. Sie starrten mich an und sagten nichts. In ihren Gesichtern las ich: „Wie kannst du Freude haben, wo Jesus für dich am Kreuz so sehr gelitten hat?! Denkst du, ihm hat es Spaß gemacht?!“ Inzwischen hatte ich zu den beiden Tönen einen dritten gefunden, der mir gefiel. Ich drückte die drei Tasten. Erst die eine, dann die andere, dann die neue. Ich schaute den Tönen nach, bis sie völlig verklungen waren. Das Ehepaar verschwand und zog hinter sich die Tür zu. Klapp. Ich war wieder völlig allein mit mir, dem Klavier und den Tönen. Ich drückte die Tasten – erst die eine, dann die andere, dann die dritte…

 

Es war schon ziemlich dunkel im Musikzimmer geworden, als das Ehepaar wieder hereinschaute. Offenbar ging die Sonne gerade unter. In ihren Gesichtern spiegelte sich das Leid des Erlösers. Ich war immer noch mit meinen drei Tönen beschäftigt. Ich drückte erst die eine Taste, dann die zweite, dann die dritte. Diesmal verschwand das Ehepaar viel schneller und ließ mich mit meinen Tönen allein. Die Töne waren vollständig verklungen und ich drückte die Tasten. Erst die erste, dann die zweite, dann die dritte…

 

Zuhause spielte ich die Töne dann auf der Gitarre nach und stellte fest, dass ich mich die ganze Zeit mit einem Dm7-Akkord beschäftigt hatte.

Musikalische Späterziehung für Autisten.

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Mach das Radio aus!

In mir ist Stille. Es ist wie ein Bergsee in der Nacht, auf den der Mond scheint. Sterne und Wolken spiegeln sich im Wasser. Manchmal kräuselt der Wind ganz leicht die Oberfläche. Und im Wasser ist es still. Völlig still. Aber wenn man in das Wasser eintaucht und sich im See versinken lässt, sind da Kinder. Kinder, die in einem riesigen verwilderten Garten leben. Es sind sehr viele Kinder in mir. Die wispern, die kichern leise, die treiben Unfug, die strolchen durch Wiesen und Wälder, die schauen den Regentropfen zu, die liegen im Gras und schauen den Wolken nach, die fassen sich an den Händen und tanzen im Kreis, die ruhen am Rand eines Baches aus und tauchen ihre Hand ins Wasser.

 

Damit diese Kinder sein können, muss es still sein. Völlig still. Sobald ein Nichtautist (NT) auftaucht, stieben die Kinder in mir in alle Richtungen davon und verstecken sich. Denn sie sind vor allem eins, die NTs – sie sind laut!

 

Sie sind unerträglich laut.

 

Sie reden, sie pfeifen, sie singen, sie telefonieren, sie murmeln vor sich hin, sie klappern und klirren mit irgendwas, sie bedienen entsetzlich laute Geräte und sie haben diese fürchterlichen Musikwiedergabegeräte. Radios, Fernsehgeräte, Irgendwaspods, Stöpsel in den Ohren, was weiß ich. Und sie sind der Meinung, dass jeder was davon haben sollte. Wenn sie Musik hören, dann soll gefälligst jeder andere auch Musik hören. Oder die Stimme des beinahe übergeschnappten Moderators genießen.

 

Wo sie sind, ist es niemals still.

 

Diese Musik ist überall. In Wohnungen, Büros, Schwimmbädern, Kaufhäusern, Fußgängerzonen, Restaurants und Gaststätten, Aufzügen, Fabriken, Bussen, U-Bahnen, Zügen, Flughäfen, Bahnhöfen, Autos – überall läuft irgendeine Musik. Diese Musik dringt überall hin.

 

Wo es nicht still ist, können die Kinder in mir nicht sein. Für sie ist es der Tod. Diese musikdurchtoste Welt ist für mich der Planet des Grauens.

 

Wenn die NTs kommen, ergreife ich die Flucht. Meine Ohrenstöpsel habe ich immer dabei.

 

Mach das Radio aus!

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Musikvergiftung

Andere kriegen Lebensmittelvergiftung oder Bleivergiftung oder Dioxinvergiftung. Ich muss mich vor Musikvergiftung schützen.

 

Ich mag Musik. Das ist es nicht.

 

Seit ich denken kann, klingt leise Musik in mir. Oft ist sie so leise, dass ich sie kaum hören kann, selbst wenn alles still ist. Im lärmenden Alltag, den die Nichtautisten (NTs) kreieren, kann ich diese Musik sowieso nicht hören. Wäre ich musikalischer, könnte ich bestimmt viel von dieser Musik aufschreiben. Ich könnte vielleicht sogar komponieren.

 

Aber leider bin ich nicht musikalisch.

 

Ich kann keinen Takt halten. Jahrelang habe ich mich mit meinem Metronom abgemüht, bis meine Töchter es als Spielzeug entdeckten. Jetzt kann es keinen Takt mehr vorgeben. Ist vielleicht auch besser so.

Ich kann auch nicht singen. Wenn ich singe, dann fallen die Fliegen tot von den Wänden. Und über meine Fähigkeit, ein Instrument zu spielen, wollen wir lieber gar nicht erst reden.

 

Aber es ist Musik in mir.

 

Es ist eine sehr leise Musik, die sich ständig verändert und dennoch ständig gleich bleibt. So wie ein Bach sich ständig verändert und ständig gleich bleibt. Diese Musik begleitet mich schon seit immer, und wenn sie weg wäre, würde in meinem Leben etwas sehr Wichtiges fehlen. Noch nie habe ich eine Musik gehört, die der ähnlich wäre, die in mir ist.

 

Wenn ich Musik höre, die andere gemacht haben, kann mich das sehr bewegen. Aber ich muss höllisch achtgeben, dass ich nicht zu viel davon höre. Schon ein Stück am Tag kann zu viel sein.

Denn diese Musik, die ich von außen zuführe, gerät in mir in das, was ich die „Echokammer“ nenne. Dort verselbständigt sie sich. Sie hört nicht mehr auf zu klingen. Und während sie klingt, fängt sie an, sich zu verzerren. Erst ist es ein wenig. Dann wird es immer mehr. Meist wird sie dabei immer lauter. Sie übertönt alle Musik, die in mir ist. Und dann gerät alles in mir durcheinander. Es ist, als würde ich in einem Alptraum leben, der nicht enden will. Meist ist es nach ein paar Tagen wieder vorbei. Manchmal muss ich mich aber auch wochenlang auf absolute Nulldiät in Sachen Musik setzen, bis die Musik in mir wieder so klingt wie immer.

 

Musikvergiftung: Eine von den interessanten Krankheiten, die Sie auch nicht haben.

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Oh Freunde - nicht diese Töne!

Die Zahl meiner Freunde ist überschaubar. Seit knapp zwei Jahrzehnten beläuft sie sich auf exakt null. Für mich ist das seit knapp zwei Jahrzehnten exakt die richtige Zahl an Freunden.

 

Das war mal anders. In der Pubertät und in den Jahren danach, war es mir extrem wichtig, Freunde zu haben. Je mehr desto besser. Freunde zu finden (und zu halten) war für mich einer der Hauptantriebe, all das Sozialzeug zu lernen, das Nichtautisten (NTs) so drauf haben: Wie fängt man ein Gespräch an? Was sagt man als zweites? Was sagt man als drittes? Wer ruft wen wann an? Was sagt man dabei in welcher Reihenfolge? Wie verhält man sich in einer Gruppe? – Ich hab’ mir die ganze soziale Kommunikation von der Pike auf selbst beigebracht, weil es mir so wichtig war, Freunde zu haben.

 

Was man angesichts dessen, was ich in diesem Blog schreibe, vielleicht nicht vermutet: Ich war damals bei den NTs recht beliebt. Und bin es heute noch. Ich hatte Freunde und sie haben mir viel bedeutet. Ich verdanke ihnen sehr viel und bin ihnen heute noch dankbar, dass sie einem so merkwürdigen Vogel wie mir eine Chance gegeben haben.

 

Warum um alles in der Welt habe ich dann keine Freunde mehr? Und warum ist so ein freundloses Leben genau das richtige für mich?

 

Darüber habe ich sehr lange nachgedacht. Nach allem, was ich heute sehen kann, war mein Hauptantrieb, Freunde zu haben, dass ich mich sonst einsam fühlte. Und das ist der springende Punkt. Wenn ich Freunde habe, weil ich mich sonst einsam fühle, dann mache ich diese Freunde zu einer Seelenprothese. Denn einsam bin ich nur dann, wenn der Kontakt zu den Kindern in mir abreißt.

Oder anders ausgedrückt: Wenn ich mich einsam fühle, dann ist es meine Aufgabe, mich der kleinen und verletzlichen Teilen in mir anzunehmen, die ich gerade verrate. Wenn ich mich in so einer Situation an einen Freund wende, dann degradiere ich ihn zu meinem „Opiumpfeifchen zwischendurch“ und wende mich von meinen Kleinen ab.

 

Die einen verrate ich, die anderen instrumentalisiere ich – das kann nicht der Kern einer Freundschaft sein!

 

Es gibt einige NTs in meinem Umfeld, die gerne mein Freund wären. Aber das wäre der absolute Horror für mich. Denn die machen vor allem eins, wenn sie mit mir zusammen sind – sie reden. Und wenn sie das nicht tun, dann machen sie irgendwelche Geräusche.

 

Ich brauche aber die Stille so wie andere die Luft zum Atmen. Da, wo es nicht still ist, können meine Kleinen in mir nicht sein. Da, wo es nicht still ist, stirbt es in mir.

 

Es gehört zu meinen liebsten Beschäftigungen, den Wolken nachzuschauen, den Wind in den Bäumen zu hören, einen Regentropfen zu betrachten, beim Gehen den Boden unter meinen Füßen zu spüren oder schlicht und einfach nur da zu sein und zu atmen. Da komme ich zu mir, da tanke ich Kraft, da blühe ich auf, da bin ich voller Energie und Lebensfreude. Wie soll ein Freund sich in so ein Leben einfügen?

 

Gerne sitze ich auch einfach alleine vor mich hin und mache mir meine Gedanken. Ich denke gerne, viel und lange nach. Die Gedanken kommen, die Gedanken gehen und irgendwann hab’ ich’s dann plötzlich. Ohne dass auch nur ein Wort gesprochen wurde.

 

The rest is silence.

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Das ist ja autistisch! – Ey voll der Hammer, Alder

Ich weiß nicht, wann es mir zum ersten Mal auffiel. Aber als es mir auffiel, schien es recht häufig zu passieren. Irgendjemand sagte bei der Arbeit:

„Das ist ja autistisch!“

Später hörte ich dann von Kollegen:

„Die Führungskräfte müssen aufhören, sich wie Autisten zu benehmen!

„Für diese Aufgabe ist er zu autistisch.“

„Der Vorstand zieht sich wieder zu seinem Autismuskränzchen zurück.“

Später las ich derlei Zeug häufig in Politikerreden und Zeitungsartikeln. Autismus hier, Autismus da. Und immer wurde ein verzerrtes und abwertendes Bild vom Autismus gezeichnet.

 

Zuerst war ich stinksauer. Was erlauben sich diese Leute?! So redet man nicht über Autisten! Aber dann wurde mir klar: Sie reden gar nicht über uns.

 

Die Nichtautisten (NTs) benutzen das Wort Autismus als eine Chiffre. So wie in bildungsfernen Kreisen der Satz: ‚Boah, is’ ja voll der Hammer, Alder!’ eine Fülle sehr tiefer Bedeutungen haben kann, die nichts mit einem Hammer zu tun haben, geht es hier nicht um Autisten, sondern um den Ausdruck von etwas sonst Unsagbarem.

 

Offenbar fehlen den Nichtautisten (NTs) einfach die Worte. Da sie nicht gerne denken, wenn sie sprechen, schwurbeln sie sich beim Reden irgendwas zusammen, was der Hörer dann relativ beliebig mit Inhalt füllen kann. Echt voll der Hammer!

 

Trotzdem habe ich es mir am Arbeitsplatz nicht nehmen lassen, eine ranghohe Führungskraft, auf die ich sehr große Stücke halte, mal beiseite zu nehmen:

„Sie haben vorhin in der Projektleiterrunde über Herrn [Name] gesagt, so wie er sich verhalten würde, da könnte man auch einen Autisten für nehmen.“

„Ja, und?“

„Ich nehme an, dass Sie das nicht wissen: Ich bin Autist. Seien Sie also bitte vorsichtig beim Vergleich von Verhalten, das Sie rügen wollen mit Autismus.“

 

Diese Führungskraft ist blitzgescheit und ziemlich eloquent. Aber hier erlebte ich sie sprachlos. Betroffen. Völlig auf dem falschen Fuß erwischt.

Ich leitete zu diesem Zeitpunkt zwei Projekte. Eins auf nationaler, eins auf internationaler Ebene. Das waren keine technischen Projekte. Es ging um Führungskultur. Meine Aufgabe war vor allem zu verhandeln und zu kommunizieren. Nicht alles gelang, aber das meiste. Unsere Ergebnisse wurden in den Leitungsrunden abgenickt.

 

Und dann passierte etwas, womit ich nicht gerechnet hatte:

Diese Führungskraft entschuldigte sich in aller Form. Sie sagte, dass sie nicht gewusst habe, dass ich Autist sei, dass sie nicht wüsste, was Autismus wirklich sei und dass sie achtlos gewesen sei. Dann bat sie mich, von meinem Autismus zu erzählen.

Das hat mich beschämt.

 

Was habe ich daraus gelernt?

Ich habe daraus gelernt, dass mein Autismus mich nicht zu einem besseren Menschen macht. Ich weiß nicht, wo ich anderen mit meiner sprachlichen Unachtsamkeit zu nahe trete. Anderen, die vielleicht nicht den Mut finden, mich darauf anzusprechen. Man muss nicht NT sein, um andere mit verbaler Achtlosigkeit zu schlagen. Autisten können das sicher genauso gut. Früher habe ich manchmal gesagt: „Das ist ja schizophren!“ oder „Da kannste ja depressiv von werden!“

 

Das lass’ ich seit dieser Begebenheit lieber sein.