Do more of what makes you happy - Motivationsposter

Als ich sechzehn Jahre alt war, nahm ich mein Leben von einem Tag auf den anderen in die eigenen Hände. Das war eine von diesen klaren und sicheren Lebensentscheidungen, die für mich so charakteristisch sind.

 

Ab jetzt würde ich selber über mein Leben bestimmen. Ich würde ihm selber eine Richtung geben. Ich würde die Fremdherrschaft anderer – speziell meiner leiblichen Eltern – über mein Leben beenden … egal, wie lange das dauern mochte. Ich würde mein Leben mit dem füllen, was für mich gut war. Ich würde mich befreien. Und so weiter. Das würde alles ziemlich lange dauern – wahrscheinlich zwei bis drei Jahre -, aber das schreckte mich nicht.

 

Wer etwas mehr Lebenserfahrung hat, sieht also: Es war mir gar nicht so recht klar, mit welchen Dynamiken ich mich hier anlegte und was das alles bedeutete – aber woher auch? Ich war sechzehn Jahre alt! Doch diese Entscheidung gab meinem Leben einen Impuls und eine Richtung, die beide heute noch mein Leben bestimmen.

 

Schon nach kürzester Zeit stellte ich fest, dass mein Leben mehr einer atomar verseuchten Trümmerwüste glich als irgendwas anderem. Oder wie ich es später mal ausdrückte:

„Wohin ich in meinem Leben auch greife – ich greife in die Scheiße!“

 

Es ging mir die ganze Zeit sehr schlecht, ich war unfassbar einsam, ich wusste beinahe nichts über das soziale Miteinander, das meinen Mitschülern so leicht fiel … und so weiter. Der Berg an schweren Problemen und unbeantworteten Fragen, der sich vor mir aufzutürmen begann, erwies sich schon sehr bald als veritables Gebirge. Es gab buchstäblich niemanden, der mir meine Fragen beantworten oder mir bei meinen Problemen weiterhelfen konnte. Ich war völlig alleine damit.

 

Also setzte ich mich hin und skizzierte die Rahmenbedingungen, unter denen das ab jetzt alles ablaufen würde. Konkret machte ich mir zwei Plakate. Auf das eine schrieb ich: „Trotzdem!“ und auf das andere schrieb ich „Irgendwie“. Diese Plakate hängte ich gut sichtbar über meinen Schreibtisch, und sie sind seitdem die Leitsterne in meinem Leben. Konkret bedeutete das:

 

1

Trotzdem – was immer auch in unserer Vergangenheit gewesen sein mochte und wie hoch und überwindlich sich die Probleme auftürmen würden … wir würden das anpacken und alles in Ordnung bringen. Trotzdem!

 

2

Irgendwie – wir haben zum jetzigen Zeitpunkt keine Ahnung, wie das alles werden soll. Wir haben tausende Fragen und Millionen fürchterlicher Probleme. Mit jeder Frage, die wir uns beantworten, tauchen zehn neue Fragen auf. Mit jedem Problem, das wir lösen, ergeben sich mindestens zwei neue. Aber irgendwie werden wir das hinkriegen. Wir wissen zwar absolut nicht wie. Aber irgendwie werden wir das hinkriegen! Auf jeden Fall! Irgendwie!

 

 

Viele Jahre später erfuhr ich, dass auch andere Menschen sowas machten. Sie hängten sich motivierende Poster an die Wände. Voller Staunen registrierte ich, dass diese Motivationsposterei sogar ein riesiger Markt war. (Zur Erklärung: Damals gab’s noch kein Internet, und ich konnte nicht mal eben auf die Schnelle irgendwas ergoogeln. Die Welt der anderen war von mir deutlich getrennter und sie war mir deutlich unzugänglicher als heute, wo praktisch jede Facette des Lebens, das andere führen, nur einen Mausklick entfernt zu sein scheint).

 

Aber die Motivationsposter, die andere Menschen an ihre Wände hängten, waren anders. Deutlich anders. Spürbar anders.

 

1

Beinahe alle Motivationsposter, die ich bei anderen sah, waren vorgefertigt und gedruckt. Diese Menschen hatten diese Poster also irgendwo gesehen und gekauft.

Mit anderen Worten:

Das, was sie an ihren Wänden hängen hatten, war nicht aus ihnen gekommen, sondern von außen an sie herangetragen worden, und es hatte mit irgendwas in ihnen Kontakt gemacht.

 

2

Beinahe alle Motivationsposter, die ich bei anderen sah, lösten bei mir Stirnrunzeln aus. In meiner Welt war sowas: Halbgares Zeug, Sprüche aus dem Poesiealbum.

 

3

Und ganz vieles war schlicht und ergreifend unlogisch oder unethisch. Manchmal war es beides.

 

 

Ich will das an ein paar Beispielen erläutern.

 

 

1

Do more of what makes you happy

 

Ja klar. Das hat mein leiblicher Vater auch immer so gemacht. – Während meiner ganzen Kindheit und frühen Jugend:

Sobald es ihm schlecht ging, verprügelte er seine Kinder. Er verprügelte sie fürchterlich. Und gleich ging’s ihm wieder besser. Viel besser. Es machte ihn glücklich, seine Kinder zu verprügeln und ihnen wirklich schwere Gewalt anzutun. Das gab er uns gegenüber auch offen zu.

 

Es ging ihm oft schlecht. Und dass es einen Tag gab, an dem weder ich noch meine Geschwister schwerst verprügelt wurden, kam in meiner Kindheit praktisch nie vor. Mein leiblicher Vater hat sich also immer an diese Maxime gehalten.

 

 

2

Herausforderung. Akzeptiere die Herausforderung und du kannst die Freude des Erfolges erfahren.

 

Was für ein Quatsch! Ich habe mich in meinem Leben immer sehr stark am Wasser orientiert. Wasser kennt keine Herausforderung. Wasser geht immer den Weg des geringsten Widerstands. Und dennoch ist in meiner Welt Wasser so ziemlich die stärkste Kraft, die es überhaupt gibt.

 

In meiner Welt gilt:

Gehe möglichst jeder Herausforderung aus dem Weg, die von außen an dich herangetragen wird. Die Herausforderungen, die dir dann bleiben, die sind überreichlich.

 

Gehe den Weg des geringsten Widerstandes, und du sparst deine wertvolle Zeit und deine wertvolle Ressourcen für das auf, was im Leben wirklich zählt.

 

 

3

Sorge dich nicht, lebe.

 

Meine Güte, warum habe ich diesen Ratschlag nicht früher gehört! Klar, jetzt, wo ich das weiß, werde ich sofort aufhören, mir Sorgen zu machen und anfangen zu leben. Danke, danke, danke für diesen Hinweis! (Ironie)

 

„Sorge dich nicht, lebe“, ist natürlich der blanke Unsinn. Dieser Satz gaukelt vor, dass es einen Weg gibt, sorgenfrei zu leben. Gleichzeitig gaukelt er vor, dass du nicht lebst, wenn du dir Sorgen machst.

 

Natürlich kann es sinnvoll sein, sich anzuschauen, in welchem Maße man sich angemessen Sorgen macht, und in welchem Maße das Sorgenmachen übertrieben sein könnte. Aber Menschen, die verantwortungsvoll mit ihrem Leben umgehen, machen sich natürlich auch Sorgen. Warum tun sie das? Verantwortung geht immer mit Sorgen einher. Es geht nicht anders.

 

 

4

Herausforderung. Man muss das Unmögliche versuchen, um das Mögliche zu erreichen.

 

Das halte ich für eine Umkehrung der Tatsachen und für ein sicheres Rezept, wie man ein unzufriedenes Leben führt. Wenn du dich nicht am Machbaren orientierst, dann orientierst du dich nicht an der Realität.

 

Das bedeutet nicht, dass du dir nichts vornehmen sollst, was auf den ersten Blick unmöglich erscheint. Aber in der wissenschaftlichen Motivationspsychologie gilt es heute als Naturgesetz:

Ziele, die unerreichbar sind, motivieren nicht, sondern sie demotivieren.

Das gilt für Mensch und Tier gleichermaßen.

 

Willst du also etwas erreichen, was auf den ersten Blick unmöglich erscheint, dann zerlege dieses unerreichbare Ziel in erreichbare Teilziele und konzentriere dich immer auf das nächste Teilziel.

 

Oder anders ausgedrückt:

Pack‘ immer das Möglich an, sonst wirst du das Unmögliche nie erreichen.

 

 

5

Einstellung. Schaue immer ins Licht, und du wirst die Schatten nicht sehen.

 

Ich kann dir versichern, dass deine Augen schweren Schaden nehmen werden, wenn du immer ins Licht guckst.

Und wenn du diesen Satz im übertragenen Sinne verstehen willst, so, wie man es auf manchen Sonnenuhren lesen kann:

„Mach’s wie die Sonnenuhr, zähl‘ die heit’ren Stunden nur“, ja so ungefähr muss der Weg in die Hölle aussehen.

 

Wenn du dich nicht mit den Schattenseiten in dir und deinen unheiteren Stunden konfrontieren willst – wie willst du dann ein sinnvolles und erfülltes Leben führen? Das geht nicht. Völlig ausgeschlossen.

 

Solche Sprüche sind der kleine Bruder von

 

„Schütt‘ deine Sorgen in ein Gläschen Wein

Deinen Kummer tu auch mit hinein

Und mit Köpfchen hoch und Mut genug

Leer das volle Glas in einem Zug, das ist klug.“

 

Oder anders ausgedrückt:

„Heute blau und morgen blau

Und übermorgen wieder,

Und wenn wir dann mal nüchtern sind,

Besaufen wir uns wieder!“

 

Die Unterschiede zwischen diesen Sprüchen sind, nach allem, was ich sehen kann, allenfalls graduell.

 

Der Weg in die Hölle ist gepflastert mit einem Haufen kleiner Steine, und auf jedem einzelnen von ihnen steht irgendwas mit „positiv“.

 

 

6

 Jesus ist die Antwort.

(Gibt’s auch in der Variante „Wirf deine Sorgen auf Jesus“. Kaum zu glauben, wie oft ich das gesehen oder gehört habe).

 

Wenn Jesus die Antwort ist, dann ist für mich vor allem bedeutsam:

Was ist eigentlich die Frage?

 

Ich habe in anderem Zusammenhang immer wieder gehört, dass die Antwort 42 ist.

Das scheint mir ähnlich sinnvoll zu sein.

 

 

7

Und zum Schluss dieser Liste, die sich noch um hunderte „motivierende“ Sprüche verlängern ließe, der Klassiker, den ich sehr oft an Wänden gesehen habe:

 

The sky is the limit.

 

Gerne gibt’s das auch in moderneren Varianten:

 

The sky is not the limit. It’s just the beginning.

 

Oder

 

The sky is not the limit. Your mind is.

 

Oder

 

The sky is the limit only for those who aren’t afraid to fly.

 

 

Na, ganz hervorragend. Es ist immer toll, wenn uns jemand so gekonnt zu unseren frühkindlichen Allmachtsfantasien zurückführt. (Ironie).

Die meisten Menschen, die ich zu diesen Sprüchen interviewte, machten deutlich, dass dieses Plakat für sie ausdrückte, dass wir alles erreichen können, wenn wir es nur wollen.

 

Hmja. Alles erreichen. Wenn wir nur wollen. Selbstverständlich. Wenn wir nur so viel Glauben hätten wie ein Senfkorn, dann könnten wir Berge versetzen. Aber selbstverständlich!

 

Wenn Manager in dem Konzern, in dem ich arbeite, mich mit sowas konfrontieren, dann bitte ich sie manchmal, mir das Konzept für einen funktionierenden Fusionsreaktor vorzulegen, damit wir endlich diese vermaledeite Energiekrise in den Griff kriegen. Wenn wir alles können, wenn wir nur wollen, dann her mit dem Fusionsreaktor. Jetzt. Sofort!

 

Aber natürlich hat das noch eine weit, weit tiefergehende Dimension. Ich habe dazu mal am Rande Teile eines Gespräches mitgehört, das mich sehr berührt hat. Obwohl ich nur Bruchstücke dieses Gespräches mitbekam, wurden doch sehr deutlich die Grenzen des Wollens aufgezeigt.

 

Du kannst dir ein Bett kaufen aber keinen Schlaf.

Du kannst dir ein Haus kaufen aber keine Heimat.

Du kannst dir einen Haufen Bücher kaufen aber kein Wissen.

Du kannst dir einen goldenen Ehering kaufen aber keine glückliche Beziehung.

Du kannst dir jede Menge Besitztümer kaufen aber keine Zufriedenheit.

Und so weiter.

 

Das, was wir in unserem Leben mit unserem Willen tatsächlich erreichen können, ist sehr, sehr begrenzt.

 

Möglicherweise ist der sichtbare Himmel die Grenze für irgendwas, das weiß ich nicht. Wenn uns das aber vergessen lässt, dass wir immer und in jeder Situation, sehr schwache und sehr zerbrechliche Menschen sind, dann ist das nichts, was für mein Leben irgendwelche Relevanz hätte.

 

 

Zusammenfassung

Ich habe in meinem Leben vieles erreicht, was nach allem, was ich sehen kann, beinahe keinem gelingt und wovon mir sehr oft gesagt wurde, dass es unmöglich sei. Auch heute noch sagen mir Wissenschaftler, die ich mit meinem Schicksal konfrontiere und damit, was ich daraus gemacht habe:

„Unmöglich!“

 

Ich werde der Lüge bezichtigt, der Aufschneiderei, des Größenwahns … und so weiter, und so weiter.

 

Das ist mir herzlich egal. Als ich Jugendlicher war, war ich im Kino mal in einen Film von Werner Herzog. Da wurde erzählt, dass der Weiße, der als erster Weiße die Niagara-Fälle sah und seinen Landsleuten davon berichtete, damit konfrontiert wurde, dass er ein Lügner sei. Die Leute sagten, er solle Beweise vorlegen, dass es diese Fälle tatsächlich gab. Er soll geantwortet haben:

 

„Der Beweis ist, dass ich sie gesehen habe.“

 

Ein Leben, wie ich es führe, ist auch dadurch gekennzeichnet, dass du niemandem mehr etwas beweisen musst (außer dem Finanzamt, aber das ist dann wieder ein anderes Thema).

Mein Weg ist noch sehr lang. Oder anders ausgedrückt:

Wenn man hinter den Niagara-Fällen noch weiter geht, da kommt noch was.

 

Das, was ich auf meinem Weg noch zu lernen und zu meistern habe, ist weit umfangreicher als das, was ich bereits gelernt und gemeistert habe. Dabei werde ich weiterhin öfter scheitern als es andere überhaupt versuchen. Die Risiken, die ich eingehen muss, um meinen Weg zu gehen, werden weiterhin immer wieder geradezu grotesk sein. … Und so weiter.

Aber ich muss niemandem mehr irgendwas beweisen.

 

Die einzigen Motivationsposter, die mich auf meinem Weg begleiten, sind „Trotzdem“ und „Irgendwie“.

Und immer, wenn ich an einer Wand sehe:

„Do more of what makes you happy!”, verspüre ich einen intensiven Impuls, diesen Spruch herunterzureißen und aus dem Fenster zu schmeißen. Denn das würde mich in der Tat für kurze Zeit sehr glücklich machen.

 

Aber dann bedenke ich, dass ich damit langfristig doch nichts bewirken würde, und dass außer Sachschaden und Ärger vermutlich nichts Dauerhaftes aus meiner Handlung resultieren würde. Deshalb lasse ich es, obwohl ich diesen intensiven Impuls verspüre.

 

Ich lasse es – trotzdem und irgendwie.

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