*** Jeder Tag ist ein guter Tag, um an seinem Ruf als Spinner zu arbeiten. ***
Wenn ich Teilnehmern in meinen Seminaren deutlich machen will, wie ich als Person gestrickt bin, sage ich ihnen oft:
„Ob ihr mich mögt oder nicht, ist mir vollkommen gleichgültig.“
Dieser Satz ist wahr.
Ob andere mich mögen oder nicht, ist mir vollkommen gleichgültig. Wenn sie mich mögen, dann ist es gut. Wenn sie mich nicht mögen, dann ist es auch gut. Ich nehm’s, wie’s kommt.
Das spüren die Teilnehmer. Viele von ihnen fühlen sich sehr unwohl, wenn sie das begreifen. In ihrer Welt kommt es vor allem darauf an, ob man geliebt wird oder nicht. Wenn man nicht geliebt wird, dann ist das Leben leer, arm und sinnlos.
In meiner Welt ist das anders. Wenn jetzt irgendwer daherkäme und mir sagen würde:
„Ich liebe dich“ oder „Ich mag dich“, dann würde mein Leben nicht auf einmal voll, reich und sinnvoll. Eher im Gegenteil.
Ich würde mir diesen Menschen ganz genau anschauen.
Wen glaubt dieser Mensch zu lieben?
Was glaubt er zu mögen?
Dass er sich wohl fühlt in meiner Nähe, das glaube ich ihm unbesehen. Das geht vielen Menschen so. Aber was hat das mit mir zu tun?
Viele Menschen versuchen, sich in meinem Leben festzuschrauben, weil es ihnen gut tut, wenn ich da bin. Aber Liebe ist das nicht. Vielleicht ist das mögen. Aber es gibt auch Menschen, die mögen ihre Katze oder ihre Apfelbäume oder ihr Bett.
Wenn du mir sagst: „Ich liebe dich“, dann sagt dieser Satz ganz viel über dich aus und ganz wenig über mich. Da du mich nicht kennst, kannst du nur das Bild lieben, das du dir von mir gemacht hast. Und welches Bild du dir von mir gemacht hast, liegt ganz viel an dir und ganz wenig an mir. Sehr wahrscheinlich ist es so:
Du nimmst nicht das wahr, was ist (denn das hast du nicht gelernt), sondern das, was du wahrnehmen willst. Dagegen ist nichts zu sagen. Aber das bedeutet, dass du in diesem Moment vor allem dich selber liebst. Auch dagegen ist nichts zu sagen – eher im Gegenteil. Aber es hat (beinahe) nichts mit mir zu tun. Du nutzt mich, um deine Liebesfähigkeit zu aktivieren. Das ist völlig in Ordnung.
Aber nochmal:
Es hat (beinahe) nichts mit mir zu tun.
Da es mein ältestes Spezialinteresse ist, zu erkennen, was die Menschen sind, was sie antreibt und was sie dabei erleben, führe ich sehr viele Gespräche mit Menschen. Diese Gespräche sind sehr tiefgehend. Oberflächliche Gespräche führe ich nicht. Ich kann das gar nicht. In den meisten Fällen glaube ich zu verstehen, was sie mit Liebe meinen.
Sie lieben einen Musiker oder einen anderen Künstler?
Sie kennen ihn ja gar nicht. Sie kennen nur seine Werke und das, was über ihn veröffentlicht wurde.
Dass sie sein Werk schätzen, das glaube ich ihnen unbesehen.
Aber dass sie diesen Musiker oder Künstler lieben?
Liebe geht anders.
Sie lieben ihren Lebenspartner?
Was sind denn seine tiefsten Ängste, seine tiefsten Sehnsüchte?
Wissen sie nicht.
Aha.
Und was liebst du dann genau?
Es sind doch seine tiefsten Ängste und Sehnsüchte, die ihn antreiben, die sein Leben gestalten und die seinem Leben seine Richtung und seine Färbung geben.
Sie lieben ihre Kinder?
Ach du liebe Güte!
Ich sage ja nicht, dass diese Menschen nicht lieben oder nicht lieben können.
Aber in meiner Welt ist Lieben etwas anderes.
Die Menschen, die ich erlebe, nehmen wahr. Diese Wahrnehmung löst etwas in ihnen aus. Auf das, was in ihnen ausgelöst wurde, reagieren sie.
Die Menschen, die ich erlebe, haben fast alle nicht gelernt (geschweige denn geübt), das wahrzunehmen, was ist. Sie kennen nicht ihre Wahrnehmungsfilter und wissen nicht, dass sie nur das wahrnehmen, was ihre Wahrnehmungsfilter zu ihnen durchlassen. Sie haben nie gelernt (geschweige denn geübt), diese Wahrnehmungsfilter abzusetzen. Sie leben in einer Welt der Symbole. Sie leben ein symbolisches Leben.
Manchmal weise ich die Teilnehmer in den Seminaren darauf hin. Dann hebe ich einen beliebigen Gegenstand hoch und frage:
„Was ist das?“
Und die Teilnehmer antworten mir (zum Beispiel):
„Eine Flasche.“
Ich sage ihnen dann:
„‘Flasche‘ ist das Wort, das wir für diesen Gegenstand verwenden. Aber ‚Flasche‘ ist nur das: ein Wort, sonst nichts. Das hier ist aber kein Wort. Daher nochmal meine Frage: „Was ist das?““
An dieser Stelle schauen mich die Teilnehmer immer nur verständnislos an.
Und ich als Seminarleiter weiß, dass jeder Tag ein guter Tag ist, um an seinem Ruf als Spinner zu arbeiten.
Manchmal mache ich es den Seminarteilnehmern leichter. Dann zeige ich ihnen ein Bild, auf dem dieses zu sehen ist:
Eine Frau in mittleren Jahren hält ein kleines Kind auf dem Arm. Beide strahlen in die Kamera. Ich frage meine Teilnehmer:
„Was sehen wir hier?“
Und fast immer bekomme ich die Antwort:
„Mutter und Kind.“
Die Teilnehmer haben diese Frau und dieses Kind sehr wahrscheinlich noch nie gesehen, und sie wissen sehr wahrscheinlich auch nicht, wer das ist. Aber sie nehmen nicht eine Frau und ein Kind wahr, sondern sie nehmen wahr:
„Mutter und Kind.“
Es könnten auch Tante und Nichte sein oder zwei Schwestern oder zwei Menschen, die in keinerlei verwandtschaftlicher Beziehung zueinander stehen, aber sie nehmen wahr:
„Mutter und Kind.“
Gegen diese Art der Wahrnehmung ist in meinen Augen nichts zu sagen. Sie macht vieles im Leben leichter. Aber liebende Wahrnehmung geht in meiner Welt anders. In meiner Welt ist Liebe unbedingt daran gekoppelt, dass wir wahrnehmen, was ist.
Das eine geht nicht ohne das andere.
Und wenn du im Wald einen Stein siehst, und das erste, was dir einfällt, ist:
„Stein“, dann nimmst du nicht wahr.
Dann ordnest du dem, was du wahrnimmst, ein Symbol zu.
Ganz sicher ist das, was du wahrnimmst, nicht ein Stein. Stein ist nur das Wort (das Symbol) für diesen Gegenstand, auf das wir uns geeinigt haben.
Du könntest einen Stein auch einen Klyngdüng nennen. Das würde an der Realität nichts ändern. Also ist es weder ein Stein noch ein Klyngdüng.
Die allermeisten Menschen, denen ich begegne, leben und lieben symbolisch. Sie dringen nicht durch zu dem, was ist, und sie bemühen sich auch gar nicht. Manchmal versuche ich, zu ihnen durchzudringen und ihnen aufzuzeigen, worum es in meiner Welt geht. Ich finde nicht mal ansatzweise die richtigen Worte, um mich ihnen verständlich zu machen. Dabei wird mir dann immer deutlich, dass sie die Realität nicht kennen, und dass sie ihnen aber auch nichts bedeutet. Sie wollen weiterhin die Symbole, mit denen sie ihre Welt füllen, für die Realität halten. Für sie ist die Welt voller Flaschen und Steine (und Müttern mit Kindern), und damit scheinen sie auch vollkommen zufrieden zu sein.
Das ist in meinen Augen völlig ok.
Aber für mich ist es ein Leben in bitterster Armut.
Ich würde auf gar keinen Fall auf diese Weise leben wollen.
„Liebe“ – so, wie sie mir im allgemeinen angeboten wird, bedeutet mir also schlichtweg gar nichts. Du könntest mir genausogut eine große Schüssel mit Cornflakes aus Styropor anbieten. Was soll ich damit? Dasselbe gilt für „Freundschaft“ für „mögen“ oder jede andere Form der menschlichen Bindung, die an mich herangetragen wird. Wenn du ein Symbol an mich heranträgst, dann kannst du es gleich wieder mitnehmen. Was soll ich damit?
Und wenn du mich fragst:
„Liebst du mich noch?“, dann könnte eine ehrliche Antwort von mir lauten:
„Nein, vermutlich nicht.“
Aber auch das ist in meiner Welt ohne jede Bedeutung.
Mit Hass ist es dasselbe.
Manchmal schaue ich mir in den (a)sozialen Medien an, was die Leute so alles zu hassen glauben. Natürlich ist das alles symbolisch. Sie hassen irgendwas in sich, können das aber nicht wahrnehmen und projizieren deshalb ihren Hass nach außen.
Sie machen sich von irgendwem oder irgendwas ein Bild, und dieses Bild hassen sie dann so gut wie sie können.
Alles fruchtlos.
Alles ziellos.
Alles leer.
Alles symbolisch.
Das führt zu nichts außer zu noch mehr symbolischem Hass.
Und was ist, wenn ich Liebe oder Hass als real erlebe?
Als meine Töchter noch Kinder waren, standen sie oft vor mir und funkelten mich wütend an:
„Ich hasse dich!“
„Das kann ich gut verstehen, Kind.“
„Ich hasse dich für immer!“
„Das glaube ich dir. Würde ich an deiner Stelle auch tun. So richtig doll und ganz viel und für immer.“
„Aber ich hasse dich!“
„Was würdest du denn jetzt gerne tun?“
„Dich hauen!“
„Na, dann mal los!“
Meine Töchter mussten mich nicht lieben. Sie durften mich genauso abgrundtief und bis in alle Ewigkeit hassen. Und selbstverständlich durften sie mich dann hauen und treten.
Ich nehm’s, wie’s kommt.
Letzte Woche hatte ich wieder ein Seminar, in dem es um bestimmte Aspekte der Realität ging. Psychokram. Ich zeigte den Teilnehmern, woran man erkennt, dass ein Gefühl symbolisch ist (Kunstgefühle), und woran man erkennt, dass ein Gefühl real ist. Ich zeigte ihnen, welche Funktionen Kunstgefühle haben, und wie wir unser Leben nach ihnen ausrichten … und so weiter. Psychokram eben. Recht intensives Zeug.
In einer Pause kam ein Seminarteilnehmer auf mich zu.
„Stiller“, sagte er, „Wie kann ich mein Denken anhalten?“
Ich stutzte, denn über Denken und Gedanken hatte ich in diesem Seminar überhaupt nicht gesprochen. Dann schaute ich ihn mir ganz genau an.
Ich hatte den Eindruck, dass ich ihn verstand.
Wir sind uns näher gekommen.
P.S.
Wen es interessiert – zu diesem Thema passt ein Koan, das meine Kleinen über alles lieben. Leider habe ich es nur in der englischsprachigen Fassung, und eine Übertragung ins Deutsche traue ich mir nicht zu.
Detachment from Words
Master Fengxue was asked by a monk, „ ‘Speech and silence involve alienation and vagueness’ – how does one get through without alienation?”
Fengxue said, “I always remember South of the Lake in springtime, the hundred flowers fragrant where the partridges call.”
Meine Kleinen strahlen jedes Mal, wenn sie sich das ins Gedächtnis rufen.
Und nicht vergessen:
Jeder Tag ist ein guter Tag, um an seinem Ruf als Spinner zu arbeiten.
(Und meine Kleinen kichern).
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Peter (Sonntag, 24 Oktober 2021 09:51)
Hallo Stiller,
Es gibt viel, was ich antworten könnte, ich gehe mal kurz auf einige speziellen Punkte ein: "Liebe", "mögen", und vielleicht einige andere Emotionen: Kann sein, dass es in deiner Welt was anderes ist, aber wie "Flasche" und "Stein" eben auch nur ein Begriff, noch dazu ein abstrakter, was die Sache kompliziert. In deiner Welt was anderes, aber vielleicht in der des Gegenübers durchaus ernst gemeint. In diesem Fall eventuell ein Problem der Nomenklatur und einer umfassenden Definition.
Das mit den Flaschen und Steinen: Klar, nur Wörter (Was ist eigentlich ein Wort?). Es sind eben Redeweisen, um über diese Gegenstände (Was ist ein Gegenstand?) sprechen zu können. Für Stein gibt es viele Wörter in vielen Sprachen, nicht nur "Klungdyng", sondern beispielsweise stone, piedra, kamen, Liste vermutlich um mehrere tausend erweiterbar. Um sie trotzdem korrekt zu verstehen, gibt es Wörterbücher.
Natürlich nur Wörter (was auch immer ein Wort sein soll), aber was ist die Alternative? Sprache ganz abschaffen?
Sprache steht nicht auf einem soliden Fundament, man kann immer weiter fragen: Was ist Sprache? Was bedeutet das Wort "was"? usw.
Themawechsel: Wenn jemand dir sagt "ich liebe dich", dann ist das in der Tat lediglich eine Aussage über den Sprecher selbst. Der Sprecher teilt dir seine Wahrnehmung mit, nicht mehr und nicht weniger. Man kann sich darüber freuen, muss es aber nicht. Man kann sich über alles mögliche freuen oder nicht.
Zur Wahrnehmung: Bist du dir sicher, dass du alles so wahrnimmst, wie es ist? Du erkennst die Wahrnehmungsfilter der anderen, aber erkennst du die eigenen? Woher willst du wissen, ob du nicht vielleicht gerade halluzinierst? Oder ob die ganze Welt nur in deiner Einbildung existiert? Ich meinerseits denke, sie existiert nur in meiner. Auch ich arbeite an meinem Ruf als Spinner :-)
Gruss, Peter
Stiller (Sonntag, 24 Oktober 2021 11:17)
Hallo Peter,
vielen Dank für deine Hinweise.
Ich habe den Eindruck, dass du drei wesentliche "spezielle Punkte" ansprichst:
1
Für mich ist es nur ein Begriff, für den Gegenüber "durchaus ernst gemeint".
Es ist mir bewusst, dass die Menschen, die mich so ansprechen, es ernst meinen.
2
Nur Wörter
Mir ist bewusst, dass wir Wörter und Sprache brauchen, um uns über das, was mit den Worten gemeint ist, austauschen zu können.
Aber nehmen wir zum Beispiel die Mathematik als eine der exaktesten Sprachen, die es gibt. Ohne diese Sprache und ihre Symbole wäre sehr vieles nicht sagbar bzw. vermittelbar.
Und dann gibt es da diesen Witz unter Mathematik-Studenten:
"Wenn in einem Raum minus drei Studenten sind, dann müssen drei Studenten reinkommen, damit der Raum leer ist."
Mir ist es sehr wichtig, dass mir immer bewusst ist, dass das Nutzen einer Sprache immer nur das ist: Das Nutzen einer Sprache, damit wir uns verständigen können. Die Realität, auf die diese Sprache sich bezieht, ist etwas völlig anderes.
3
Wahrnehmung
"Bist du sicher, dass du alles so wahrnimmst, wie es ist?"
Ich bin mir sehr sicher, dass ich die wenigsten Dinge so wahrnehme, wie sie tatsächlich sind.
"Erkennst du die eigenen (Wahrnehmungsfilter)?"
Wenn ich auf sie hingewiesen werde, erkenne ich sie manchmal.
Der Rest, den du dazu schreibst, scheint mir eine solipsistische Position zu beschreiben. In meiner Welt ist das ein interessanter Ansatz, aber relevant ist er nicht.