In der Reihe „Was ihr wollt“ will ich in loser Reihung aufzeigen, wo aus meiner Sicht
a) die Hauptunterschiede in der Lebensführung zwischen NTs und mir liegen und
b) die Ursachen für die Hauptmissverständnisse liegen, wenn NTs und ich einander begegnen.
Das ist nur meine Sicht der Dinge und nur meine Meinung.
Jeder darf eine andere haben.
In welchem Maße meine Sicht der Dinge auf andere AS zutrifft, weiß ich nicht.
Heute soll es um die Intensität und die Tiefe gehen, mit der wir leben.
Es gibt nicht viele NTs aus meinem beruflichen und privaten Umfeld, denen ich gesagt habe, dass ich ein Autist bin. Ich schätze, dass es mittlerweile knapp 20 Menschen sind. Diese NTs, die ich ins Vertrauen gezogen habe, habe ich vorher sehr sorgfältig ausgewählt. Ich habe sie vor allem aus diesen Gründen ins Bild gesetzt:
a) Das Thema hätte sich sowieso nicht vermeiden lassen. (Zum Beispiel bei der Frau, mit der ich de jure verheiratet bin).
b) Es ging darum, Schaden von meiner beruflichen Position abzuwenden. (So habe ich z.B. meinen damaligen Chef informiert, nachdem mir in einem wichtigen Projekt ein schwerer kommunikativer Fehler unterlaufen war, der sich schnell rumsprach).
c) Es war aus Gründen der Fairness notwendig. (So zum Beispiel bei Vorgesetzten, die mich baten, einen Mitarbeiter zu coachen, von dem sie wussten, dass er Autist war).
d) Mit diesen Menschen teile ich mein Leben.
Ich erlebte dabei das, was ich immer erlebe, wenn ich NTs einen Einblick gebe, wie es in mir aussieht: Es interessierte sie kein bisschen. Überhaupt nicht. Nicht mal im Ansatz. Ein einziger NT – der war schon in den ganzen Diagnoseprozess eng eingebunden – stellte mir interessierte Fragen, war neugierig und nahm Anteil. Und alle anderen – interessierten sich kein kleines bisschen.
Warum ist das so?
Warum interessieren sich die NTs nicht für das, was in mir vorgeht?
Bin ich so uninteressant, so fremdartig, so unverstehbar, so unnahbar? Oder liegt es daran, dass ich so abscheulich, so finster, bösartig und bedrohlich bin?
Ich kann vorausschicken:
Das ist nicht der Grund. Der Grund für dieses nachhaltige Desinteresse an meiner Person und am Autismus liegt ganz woanders.
Ich will es mit einer Analogie verdeutlichen:
Im letzten Jahrhundert stellten Astronomen, die das Weltall vermaßen, immer wieder voller Verblüffung fest, dass sämtliche Galaxien, die man von der Erde aus beobachten konnte, sich von uns entfernten. Sie strebten alle von uns davon! Aber was sollte an der kleinen und - im galaktischen Maßstab - völlig unbedeutenden Erde so furchteinflößend und abstoßend sein, dass alle Gestirne vor ihr flohen?
Nein, der Grund ist ganz woanders: Das Universum dehnt sich rasant und mit zunehmender Beschleunigung aus. Alle Sternenhaufen vergrößern den Abstand zu allen anderen Sternenhaufen. Man kann das mit einem Rosinenkuchen vergleichen, der aufgeht: Alle Rosinen entfernen sich von allen anderen Rosinen.
Was hat dieses Faktum aus der Astronomie mit unserem heutigen Thema zu tun?
Ich will versuchen, es knapp aber dennoch wertschätzend auszudrücken:
Die NTs interessieren sich nicht für mich. Sie interessieren sich aber auch nicht für irgendeinen anderen Menschen. Auch für sich selber interessieren sie sich nicht. Sie lassen mir dasselbe unpersönliche, gleichgültige und distanzierte Desinteresse zukommen wie buchstäblich jedem anderen Menschen auch. (Einzige Ausnahme: Sie sind verliebt. Solange sie in diesem Zustand sind, interessieren sie sich sehr für den anderen).
Nochmal, weil das so wichtig ist:
Dieses gleichgültige Desinteresse an Menschen schließt sie selber als Menschen ausdrücklich mit ein. Ich habe im Lauf meines Lebens ungefähr 10.000 NTs so intensiv kennengelernt und befragt, dass ich beurteilen konnte, in welchem Maße sie für sich selber interessierten.
Und hier ist das Ergebnis:
Über 99% der NTs, die über diese Erde gehen, haben deutlich mehr Interesse zum Beispiel am Motor ihres Autos oder an ihrem Garten oder am Inhalt ihres Kleiderschranks als an dem, was in ihnen ist.
Überspitzt formuliert:
a) Frag den durchschnittlichen NT-Mann, was den Motor seines Autos ausmacht. Notiere diese Antwort und stelle drei Nachfragen, um Details zu präzisieren. Notiere dir auch diese Antworten.
b) Frage denselben Mann, wie sein Inneres beschaffen ist – was er fühlt, wonach er sich sehnt, was seine tiefsten Ängste sind. (Tue das taktvoll und behutsam. Achte dabei seine Menschenwürde und sei kein distanzloser und empathieloser Grobian). Notiere die Antworten. Stelle drei Nachfragen, um in die Tiefe zu gehen und zu detaillieren. Notiere dir auch diese Antworten.
c) Vergleiche die Ergebnisse von a) und b) und leite daraus die logisch notwendigen Schlüsse ab.
Nach meinen Untersuchungen gibt es in dieser Sache nur einen einzigen Unterschied zwischen männlichen und weiblichen NTs – das sind die Themen, auf die sie ihre Schwerpunkte legen. Aber nach meinen Beobachtungen gilt: beinahe alle NTs – männlich wie weiblich – interessieren sich weder für sich noch für andere Menschen.
Menschen geraten für die allermeisten unverliebten NTs erst dann in den Fokus der Aufmerksamkeit, wenn sie Ärger machen. Das ist dann allen Beteiligten sehr unangenehm. Sie tun dann alles, um zum alten Zustand zurückkommen zu können und sich wieder mit was anderem - wichtigerem - beschäftigen zu können.
Dennoch:
Die NTs, denen ich begegne, sagen mir durchweg, dass ihnen Menschen sehr wichtig sind. Sie sagen mir durchweg, dass sie Bindung und Beziehung wollen. Nach meiner Beobachtung stimmt das nicht, obwohl sie nicht lügen. Sie wollen nicht Bindung und Beziehung, sondern sie wollen – nach der Phase der intensiven Verliebtheit – ein möglichst distanziertes, funktionierendes und mit maschinenhafter Perfektion reibungslos laufendes System.
Es gilt aber auf jeden Fall dieses:
Wenn ich eine Beziehung will, dann muss ich zunächst einmal eine Beziehung zu mir selber haben. Wenn ich lieben will und geliebt werden will, dann muss ich zunächst einmal mich selber lieben.
Ohne das geht es nicht.
All das setzt aber intensives Interesse an mir voraus: Es bedeutet vor allem ein intensives Verstehenwollen und wirkliches Zuhörenkönnen. Ich muss mich selber wirklich verstehen wollen und ich muss mir selber wirklich zuhören.
Die Intensität, mit der ich lebe, ist den NTs, denen ich bislang begegnet bin, vollkommen fremd. Sowohl im Bereich der Sinne (ich nehme nach allem, was ich bislang weiß, viel intensiver wahr als die meisten NTs) als auch im seelischen Bereich.
Ich will allen NTs unter meinen Lesern ein sehr einfaches Beispiel geben, an dem man deutlich machen kann, wo der Unterschied in der gewünschten Lebens- und Beziehungsintensität liegt:
Stelle dir bitte dieses vor:
Du stellst mir eine Frage über dich, die nicht banal und funktional ist. (Banale und funktionale Fragen sind z.B. „Wie spät ist es?“ oder „Hast du mein rotes Schneidebrett gesehen?“)
Wenn du mit mir sprichst und mir eine nicht banale Frage über dich stellst wie z.B. „Glaubst du, dass ich den richtigen Beruf gewählt habe?“, dann gehe ich davon aus, dass du ein ernsthaftes Interesse an dieser Frage hast. (Wenn dir die Beispielfrage für dich nicht passend erscheint, dann denke dir eine aus, die dir mehr am Herzen liegt). Also werde ich erst mal eine Weile schweigend nachdenken, um diese Fragen in meinem Inneren in alle Richtungen auszuleuchten. Dabei werde ich vermutlich die Augen schließen und meine inneren Bilder abrufen.
· Wie war deine Stimme, als du mich gefragt hast?
· Wie war dein gesamter Körperausdruck, als du mich gefragt hast? Was kann ich aus deiner Körperspannung lesen?
· Welche Schwingungen und Stimmungen kann ich bei dir wahrnehmen?
· Habe ich deine Frage inhaltlich richtig verstanden? – Was fragst du mich tatsächlich?
· Meinst du mit „Beruf“ deinen erlernten Beruf oder deine aktuell ausgeübte Tätigkeit?
· Was ist der Grund, dass du diese Frage (a) jetzt, (b) in diesem Zusammenhang (c) auf diese Weise (d) ausgerechnet mir stellst?
· Was kann ich in meinen Datenbänken an Vorgesprächen zu dieser Thematik finden? Hatten wir das schon mal?
· Und so weiter, und so weiter
Ich will dich wirklich verstehen. Deshalb nehme ich deine Frage ernst und versuche, deine Frage wirklich zu verstehen.
Bis ich auch nur die basalen Folgefragen gefunden habe, die ich stellen muss, um wirklich verstehen zu können, was du von mir willst, werden also etliche Minuten vergehen. Ich bin hochbegabt und denke – verglichen mit anderen – extrem schnell. Aber auch meiner Verarbeitungskapazität sind Grenzen gesetzt. Ich werde die Augen geschlossen haben und dich anschweigen, denn ich gehe davon aus, dass dir diese Frage wichtig ist. Sonst hättest du sie mir nicht gestellt.
Ja, und dann werde ich erleben, dass du mir schon nach wenigen Sekunden signalisierst, dass du in Wirklichkeit gar kein Interesse an dieser Frage hattest. Das wirst du mir durch zappelnde Ungeduld signalisieren und dadurch, dass du mir direkt die nächste Frage stellst. Glaub‘ mir – du bist NT, du kannst nicht anders. Unter den 10.000 NTs, von denen ich weiter oben sprach, habe ich erst zwei gefunden, die die Worte des anderen auf diese Weise auf sich wirken ließ.
Entweder du interessierst dich für dich – dann hast du auch Zeit für deine eigenen Fragen. Oder du interessierst dich nicht für dich. Dann ist dir was anderes wichtiger und du willst deine Zeit dafür ausgeben.
In dem Konzern, in dem ich arbeite, habe ich ein Seminar entwickelt, das in kürzester Zeit einen geradezu legendären Ruf erworben hat. Dieses Seminar gibt es nur bei mir, sonst nirgendwo – nicht im Konzern, nicht in der Branche, nicht in anderen Branchen. Andere Managementtrainer haben ihr tolles Training, das hier ist meins. Ich habe über ein Vierteljahrhundert intensiver Vorarbeit gebraucht, um dieses Seminar zur Anwendungsreife zu bringen. Mein ganzes Können, meine ganze Erfahrung und all mein Wissen stecken da drin. In diesem Seminar zeige ich den NTs – nach meinen Maßstäben sehr oberflächlich – wie sie funktionieren. Es dauert die ganze Woche – von Montag bis Freitag. Ich kann die Anfragen mittlerweile nicht mehr zählen, die sich allesamt so zusammenfassen lassen:
Eine ranghohe regionale Führungskraft ruft mich an. Sie hat von diesem Seminar Wunderdinge gehört und will es unbedingt für die eigene Mannschaft haben. Ob ich rauskommen könnte – nach Stuttgart, Berlin, München, Dresden, Hamburg etc. – um dieses Seminar vor Ort durchzuführen.
Ja, selbstverständlich kann ich das. Wir müssen nur einen Termin finden. Die nächsten 18 Monate bin ich komplett ausgebucht, aber für danach können wir was ins Auge fassen.
Ja, das sei ja wirklich wunderbar. Aber eins wäre noch wichtig – ich müsste das kürzer machen. Mehr als drei Tage seien absolut nicht drin.
Der Dialog, der dann folgt, war bislang immer derselbe:
Stiller: „Entweder es ist Ihnen so wichtig, wie Sie gerade gesagt haben …“
Führungskraft: „Ja, das ist uns total wichtig. Der Herr [Name] war vor drei Wochen ja bei Ihnen, und glauben Sie mir – der spricht von nichts anderem mehr …“
Stiller: „Ich glaube Ihnen das. Mir geht es um etwas anderes: Entweder es ist Ihnen so wichtig, wie Sie sagen - dann haben Sie die fünf Tage. Definitiv. Oder es ist Ihnen nicht wichtig. Und dann lassen wir das.“
Bislang haben wir es immer gelassen. Es war ihnen nicht wichtig.
Die NTs behaupten zwar, dass es ihnen wichtig ist, sich und andere zu verstehen.
Aber das stimmt nicht.
Sie wollen sich nicht zuhören, sie wollen anderen nicht zuhören.
Sie wollen sich nicht verstehen, sie wollen andere nicht verstehen.
Sie wollen nicht fühlen, sondern sich nur gut fühlen bzw. „gut drauf“ sein oder „gut gelaunt“ sein. (Und ich kann als Experte in dieser Sache versichern, dass es ein großer Unterschied ist, ob man seine Gefühle bewusst und differenziert fühlt oder einfach nur „gut drauf“ ist oder „gut gelaunt“). Von ihren „schlechten“ Gefühlen wollen sie nichts wissen. In ihrem Herzen soll nur Sonnenschein sein. – Da, wo nur die Sonne scheint, entsteht in kürzester Zeit eine lebensfeindliche Wüste, und so erlebe ich auch die meisten Herzen von NTs.
Sie wollen nicht wissen, was andere fühlen, die sollen auch nur „gut drauf“ sein.
Und so weiter.
Was wollen die NTs, die ich bislang erlebt habe, stattdessen tatsächlich?
Sie wollen, dass sie selber mit maschinenhafter Perfektion funktionieren. (Stichworte: „Selbstoptimierung“, „Gefühlsmanagement“,„Gut drauf sein“, „Frohgelaunt genießen“etc.).
Sie wollen, dass andere mit maschinenhafter Perfektion funktionieren, ihnen innerlich nicht nahe kommen und keinen Ärger machen.
Sie wollen, dass ihre Beziehungen mit maschinenhafter Perfektion laufen.
Die Maschinen (sie selber und ihre jeweiligen Beziehungsmaschinen) laufen dann perfekt, wenn sie „gut drauf“ sind. Signalisiert irgendeine Maschine, dass sie nicht „gut drauf“ ist, dann ist sie kaputt und muss repariert werden. Bevor man sie in Reparatur bringt, versucht man es mit gutem Zureden oder – je nach Naturell – man haut mal wuchtig mit dem Hammer drauf (Sprachbild).
Wenn man sie in Reparatur bringt, dann übergibt man sie irgendeinem Experten und beschäftigt sich erst wieder mit ihr, wenn sie aus der Reparatur zurück ist.
Verglichen mit mir leben fast alle NTs, denen ich bis jetzt begegnet bin, mit geradezu grotesker Oberflächlichkeit. Sie sausen und rasen durch’s Leben - immer auf der Suche nach irgendwas, was gerade nicht da ist und was sie vermutlich auch nie kriegen werden. Das verbraucht ihre gesamte Zeit. So kommt es, dass sie ungeduldig werden, wenn ich mehr als 30 Sekunden schweige, um eine Frage zu verstehen, die sie mir gestellt haben. (Und ich brauche bei vielen Fragen, die mir gestellt werden, deutlich länger als drei Minuten, bevor ich anfangen kann, darüber zu reden).
Sie haben also nicht mal Zeit dafür, dass ich ihnen zuhöre.
Und wenn sie schon nicht mal die Zeit aufbringen dafür aufbringen wollen, dass ich ihnen zuhöre und sie verstehe – wie sollten sie da noch Interesse und Zeit aufbringen für mich und das, was in mir ist?
Völlig ausgeschlossen.
Fazit
Für alle AS da draußen:
Über 99% aller NTs, denen ihr begegnet, interessieren sich nicht dafür, was ihr für Menschen seid, wie es euch geht, wonach ihr euch sehnt etc. Sie haben – außer sie sind verliebt in euch oder haben beruflich mit euch zu tun -, keinerlei Interesse an euch als Person. Ihr sollt - bitteschön - klaglos funktionieren und euch genauso klaglos in die Rolle fügen, die sie für euch vorgesehen haben und damit fertig.
Das mag schmerzhaft für euch sein.
Aber ihr Verhalten hat nichts mit euch zu tun. Mit ihresgleichen (mit sich selber und mit allen anderen NTs) gehen sie genauso desinteressiert, gleichgültig und distanziert um. Für 99% aller NTs ist das die Art, mit der sie in der Welt sind.
Menschen sind diesen NTs nicht wichtig. Irgendwas anderes ist ihnen geradezu wahnsinnig wichtig. Sie geben in rastloser Unruhe ihre ganze Zeit und all ihre Energie dafür aus. Ich weiß bis heute nicht genau, was diese NTs da eigentlich anstreben in ihrem Leben. Wenn ich sie dazu befrage, stelle ich regelmäßig fest, dass sie es selber nicht wissen.
Aber was immer sie da auch mir aller Gewalt anstreben - ein intensives und tiefes Leben ist es ganz sicher
nicht.
Kommentar schreiben