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Der Prepper

Ich schau nur hin und wieder in die (a)sozialen Medien. Aber in den letzten Tagen nehme ich angesichts der Corona-Krise immer öfter ein bestimmtes Verhalten in den (a)sozialen Medien wahr, das mir sehr typisch erscheint. Es immer derselbe Fünfklang:

a) Andere zeigen ein bestimmtes Verhalten, dass ich von mir nicht kenne.

b) Ich kenne die Beweggründe für dieses Verhalten nicht. Deshalb gehe ich wie selbstverständlich davon aus, dass jeder, der dieses Verhalten zeigt, sich mit Leichtigkeit auch ganz anders verhalten könnte. Darüber hinaus unterstelle ich ethisch fragwürdige Motive für dieses Verhalten – Egoismus, Selbstsucht etc.

c) Dieses Verhalten erzeugt negative Konsequenzen.

d) Also missbillige ich dieses Verhalten aufs schärfste und verurteile den, der es zeigt.

e) Ich gebe meiner Hoffnung Ausdruck, dass sich durch diese Missbilligung und vor allem durch diese Verurteilung etwas ändert.

f) Da capo al fine. (Musikalisch für: Wiederhole diesen Fünfklang bis zum Ende).

 

Dieser Fünfklang ist immer derselbe. In Zeiten der Corona-Krise erlebe ich oft, dass er auf Menschen angewandt wird, die Klopapier, Nudeln und Reis horten. In anderen Krisen werden dann eben andere Menschen und anderes Verhalten ins Visier genommen. Dieser Fünfklang wird millionenfach in unterschiedlichen Varianten erstellt geteilt, gelikt. Dadurch ändert sich am Verhalten, das man brandmarkt, vermutlich nichts. Aber man hat seiner Empörung Luft gemacht und signalisiert sich gegenseitig, dass man zu den Guten gehört. Und das sollte ja reichen (Ironie).

 

Und jetzt trifft es eben die Hamsterer.

 

Deren irrationales Horten in Zeiten allgemeiner Verunsicherung ist nicht nur lästig. Es kann darüber hinaus eine sehr gefährliche Dynamik entwickeln. Deshalb will ich hier von meiner Erfahrung berichten. Ich habe zu wenige Beobachtungsdaten, um allgemeingültige Schlüsse ableiten zu können.Deshalb gibt dieser Text nur meine Sichtweise und meine Meinung wieder.

 

Ich will von einem Mann erzählen, der schon seit vielen Jahren in meinen Seminaren auftaucht. (Und zum Schluss erzähle ich noch von einem Professor).

 

 

1

Das muss jetzt schon gut fünfzehn Jahre her sein. Dieser Mann war Teilnehmer in einem Seminar, in dem ich den NTs erkläre, wie sie funktionieren. Ich begegnete ihm zum ersten Mal. Mir fielen vor allem sein Blick und seine Körperspannung auf. Sein Oberkörper schien unter einer permanenten Anspannung zu stehen. Sein Blick war freundlich, traurig, verzweifelt – und dieser Blick kam von sehr, sehr weit weg.

 

In meinen Seminaren wird niemand vorgeführt. Ich schildere den NTs, was die Bestandteile sind, auf die man achten muss, wenn man erkennen will, was in einem Menschen vorgeht. Aber ich nehme niemandem zum Beispiel und sage:

„Schaut euch mal den hier an – der ist der lebende Beweis dafür, dass es stimmt, was ich sage.“

 

Die Kleinen in diesem Mann, die mit hochnervösem und starkem Misstrauen in dieses Seminar gekommen waren, tauten allmählich auf. Ich ließ ihn in Ruhe. In meinen Seminaren darf jeder sein Misstrauen pflegen - und sei es noch so tief und noch so schwerwiegend. Ich fordere die Teilnehmer auch immer wieder sehr aktiv dazu auf, mir bitte kein einziges Wort zu glauben und an allem zu zweifeln und zu mäkeln, was ich sage.

 

Am Ende des letzten Tages, als sich alle voneinander verabschiedeten, packte der Mann langsam seine Sachen zusammen. Unbewusst achtete er darauf, dass er so langsam packte, dass wir schlussendlich alleine im Raum sein würden. Als wir alleine waren und er weiter zusammenpackte, drehte er seinen Oberkörper in dieser charakteristischen Weise zu mir, die Gesprächsbereitschaft signalisierte. Ich nahm dieses Signal auf:

„Fährst du jetzt nach Hause?“ fragte ich ihn.

Er erwachte wie aus einer Art Trance:

„Nein, nein … ich muss … ich brauch‘ noch Ersatzteile für meinen Wasserfilter in meinem Auto, und da kenn‘ ich jemanden, der hat sowas. Da fahr ich jetzt erst mal hin.“

Ich verstand nicht recht:

„Du hast einen Wasserfilter in deinem Auto?“

„Ja.“

„Und für diesen Filter brauchst du jetzt Ersatzteile?!“

„Ja.“

Er antwortete kurz und knapp und schmallippig. Und auf einmal begriff ich:

„Sag‘ – bist du ein Prepper?“

 

Damals war dieser Begriff in der Bevölkerung noch sehr unbekannt. Ein Leuchten huschte über das Gesicht dieses Mannes. Seine Kleinen beschlossen, dass mir zu trauen war. Zumindest in einem kleinen, gewissen, sehr eingeschränkten Maße. Er hatte mir diese eine Information hingeworfen – dass er einen Wasserfilter mit sich führte, für den er Ersatzteile brauchte -, und ich hatte richtig darauf reagiert.

 

Wir unterhielten uns dann noch ungefähr eine halbe Stunde intensiv über sein Preppertum. Er erzählte mir, und ich hörte zu. Ich fragte nach, wenn ich nicht verstand. Und so berichtete er mir. Er berichtete mir von seinen Vorbereitungen. Was ein echter Prepper ist, der hortet nicht nur Vorräte. Der bereitet sich auf die Apokalypse vor: Wundbehandlung, Nahkampftechniken, Aufspüren, Erlegen und Zubereiten von Wild, Techniken der Tarnung, Nahrungsbeschaffung, Herstellung einfacher Werkzeuge, Umgang mit Waffen – Beschaffung, Lagerung, Einsatz … es gibt sehr vieles, was ein Prepper beherrschen muss. Es gibt sehr vieles, woran ein Prepper laufend denken muss und was er ständig üben muss. Prepper zu sein ist eine Vollzeitbeschäftigung.

 

Ein Prepper tut das alles, um bereit zu sein, wenn es darauf ankommt. Er geht ganz sicher davon aus, dass die große Katastrophe kommen wird. Dass das gesamte Sozial- und Wirtschaftsgefüge, wie wir es kennen, zusammenbrechen wird. Und dann werden nur die Stärksten überleben – und die, die gut vorbereitet sind.

 

Als der Mann mir fertig berichtet hatte, verabschiedeten wir uns freundlich. Ich stellte ihm zwei, drei Fragen, um zu klären, ob er das, was er da die ganze Zeit tat, freiwillig tat, oder ob er ein Getriebener war (wie praktisch alle Prepper, von denen ich bislang gehört hatte). Und nein – er konnte sich das nicht aussuchen. Prepper ist man, oder man ist es nicht. Man sucht sich das nicht aus. Aber wenn du Prepper bist, dann kannst du nicht anders. Selbst, wenn du wolltest.

 

Ich schaute ihn mir genau an und sagte ihm als letztes:

„Die Katastrophe, auf die du dich da die ganze Zeit vorbereitest – ich habe den Eindruck, die findet in dir statt.“

Er guckte mich verblüfft an. Ich ergänzte:

„Und nirgendwo sonst.“

 

Er war ein sehr schweigsamer Mensch. Er war jetzt wieder im Schweigemodus. Schweigend gingen wir auseinander.

 

 

2

Einige Jahre später tauchte er im Fortgeschrittenenseminar auf. In diesem Seminar zeige ich den NTs unter anderem die Programme, nach denen sie funktionieren. Ich zeige ihnen, wie wenig das, was sie da die ganze Zeit tun, fühlen und denken, bewusst von ihnen gesteuert wird. Dieses Seminar kann für Menschen, die bislang der Illusion anhingen, dass sie freie Menschen wären, sehr verstörend sein. Wenn man diese Programme versteht, und wenn man weiß, wie man sie in einem Menschen erkennen kann, dann ist das Verhalten eines Menschen derart exakt vorhersagbar, dass von „Freiheit“ meistens nicht mehr viel übrig bleibt.

 

Die meisten Teilnehmer behelfen sich so, dass sie sehr verstört aufnehmen und begreifen, was sie in diesem Seminar von sich selbst sehen – und es danach ganz schnell und sehr gründlich wieder verdrängen und vergessen.

Das ist ihr gutes Recht.

Ich zwinge niemanden dazu, sich zu erkennen. Ich zwinge niemanden dazu, frei und wach zu werden. Ich stelle die Dinge vor, und wer sie aufnehmen will, der nimmt sie auf. - Und wer das nicht will, der lässt es eben sein.

 

Die weitaus meisten lassen es eben sein.

Aus einem Schlaf aufzuwachen, in dem man ein Leben lang gelegen hat, ist nicht für jeden was.

 

Nach diesem Seminar kam ein Teilnehmer auf mich zu. Während des Seminars war er ein unauffälliger Schweiger gewesen. Ich erinnerte mich schwach, so ein Gesicht und so ein Lächeln schon mal gesehen zu haben - freundlich, traurig, verzweifelt – aber ich hatte keine Ahnung, wer das war. Jedes Jahr begegne ich mehr als tausend Menschen. Ich kann mir die unmöglich alle merken.

„Ich bin der Prepper“, sagte er mir.

Und ich hatte sofort wieder alles auf dem Schirm.

„Können wir mal unter vier Augen reden?“ fragte er mich.

Das ist ein Service, den ich immer nach meinen Seminaren anbiete. Also konnten wir das.

 

Er berichtete diesmal deutlich stockender als beim letzten Mal. Was er sich da zusammenstockte, ließ sich so zusammenfassen:

„Ich hab‘ mir die ganze Zeit (in diesem Seminar) angeschaut, was du uns da gezeigt hast. Und ich habe begriffen, dass es in meinem Leben nie irgendwelche Sicherheit gegeben hat. Nie. Nirgendwo. Es gab keinen Platz, wo ich hätte hingehen können. Als Kind nicht. Als Jugendlicher nicht. Mein Leben war immer nur eins von beiden: Entweder die Katastrophe oder die Vorbereitung auf die Katastrophe. Was anderes kenne ich in meinem Leben gar nicht.“

Er berichtete aus seiner Kindheit. Er berichtete von seinen Eltern. Und ich hatte den Eindruck, dass ich ihn verstand.

Der Prepper berichtete lange. Zum Schluss sagte er mir:

„Du erinnerst dich, dass du mir das letzte Mal gesagt hast, dass die Katastrophe in mir ist?“

„Ja.“

„Das ist so.“

 

Schweigend gingen wir auseinander.

 

 

3

Letztes Jahr traf ich ihn in einem ganz anderen Seminar wieder. Es ging auch hier um Psycho-Kram.Aber in diesem Seminar bleibt alles sehr an der Oberfläche.

 

Ich erkannte ihn sofort wieder, und er erkannte, dass ich ihn erkannte. Deshalb wartete er diesmal nicht bis zum Schluss des Seminars. Schon am ersten Tag kam er in einer Kaffeepause auf mich zu und sagte leise:

„Stiller, wir müssen reden.“

Ich arrangierte, dass das möglich war.

 

„So geht das nicht weiter“, fing er an. Ich begriff nicht:

„Was?“ fragte ich. „Was geht nicht so weiter?“

„Ich bin voller Unruhe. Ständig. Du hast mir gesagt, dass ich horten kann, soviel ich will. Dass ich Kampftraining und Survival machen kann, bis der Arzt kommt, dass ich aber niemals Frieden und Sicherheit finden werde.“

„Ja.“

„Das ist so. Ich horte und kämpfe. Ich mach Kampftraining und leg Vorräte an … das hat wirklich Ausmaße angenommen!“

Er wirkte ziemlich verzweifelt auf mich.

„Ja?“ ermutigte ich ihn.

Er erhob die Arme und ließ sie in einer hilflosen und verzweifelten Geste wieder sinken:

„Ich horte so viel … das darf ich wirklich keinem erzählen. … Aber es geht mir immer schlechter.“

Wir schwiegen.

„Ich fühl mich kein bisschen sicherer“, fuhr er fort. „Da kann ich machen, was ich will.“

„Das ist zu sehen. Das glaube ich dir.“

 

Er berichtete weiter.

Vor mir saß offenbar ein Mann, der so ziemlich alles versucht hatte, sein Leiden zu mildern. Aber nichts hatte funktioniert. Im Gegenteil – es war mit den Jahren immer schlimmer geworden.

„Ja“, sagte ich. „Die einzige Tür, die aus deinem Gefängnis herausführt, ist die Tür nach innen. Es gibt keinen anderen Weg. Du kannst weiter machen wie bisher oder du kannst dich befreien.“

„Ich muss Therapie machen“, sagte er mir. Ich schwieg dazu.

Schweigen.

Schweigen.

„Kannst du mir einen guten Therapeuten empfehlen?“

 

Diese Frage höre ich häufiger. Aber ich kann niemanden empfehlen. Der Therapeut, der für den einen gut ist, der kann für den anderen eine Katastrophe sein. Ich gab ihm die Empfehlung, zu suchen und dabei seinem Herzen zu folgen. Ich sagte ihm:

„98% der Menschen, die Psychotherapie anbieten, sind in meinen Augen völlig ungeeignet dafür. Aber dein Vorteil ist: Du brauchst nur einen einzigen zu finden, der zu dir passt. Nur einen. Wenn du dengefunden hast, dann hast du das große Los gezogen. Also zieh los und suche solange, bis du ihn gefunden hast.“

Er dachte nach. Dann fragte er mich:

„Du sag‘ mal … wenn ich so eine Therapie anfange … wie lange dauert das denn, bis ich fertig bin?“

 

Ich verdrehte die Augen. Diese Frage war mir schon so oft gestellt worden …. Ich beschloss, mal einen Blogtext zu dieser Frage zu schreiben. Aber das ist ein anderer Text und eine andere Geschichte.

 

 

4

Der Professor:

 

Das ist nun schon deutlich mehr als ein Jahrzehnt her. Ich wurde damals von dem Konzern, in dem ich arbeite, national und international als Verhandlungsführer eingesetzt. Ich habe heute keine Ahnung mehr, wie es dazu eigentlich gekommen war. Es hatte sich irgendwie so ergeben. Man war zufrieden mit meiner Arbeit, also ging das weiter.

 

In einer Verhandlungspause kam ein Mann von der „Gegenseite“ auf mich zu. Sowas war ungewöhnlich, aber warum nicht?

„Sie sind doch Psychologe“ begann er.

Und wenn Gespräche so anfangen, dann gehen sie nach meiner Erfahrung immer in die gleiche Richtung.

 

Er stellte sich vor und gab mir seine Visitenkarte:

Professor so und so. Professor für Marketing und noch irgendwas. So viele akademische Titel, dass da ein halbes Alphabet auf der Visitenkarte stand. Wenn man die Karte umdrehte, dann sah man, dass er außerdem noch der Geschäftsführer einer mittelständischen Firma war. Vor mir stand also der Großmufti des beruflichen und sozialen Erfolges. Was wollte der von einem Psychologen? Er sagte es mir.

 

In seiner Firma wurde so viel programmiert, dass sie dort eine größere Abteilung mit Programmierern aufgebaut hatten.

„Und die sind alle verrückt geworden, Herr Stiller!“

„Aha.“

„Ja, irgendwo haben die plötzlich die Meinung her, dass der Euro abgeschafft wird.“

„Ach! Woher das denn?“

„Das weiß ich auch nicht. Aber die haben alle … alle! Herr Stiller, die haben alle ihre gesamten Sparkonten aufgelöst und sich davon bei Aldi Konservendosen und sowas gekauft. Die haben mir Fotos von ihren Wohnungen gezeigt: Da stapeln sich überall die Dosen. Die ganzen Wände hoch. Die können sich kaum noch bewegen in ihren Wohnungen vor lauter Vorräten.“

„Na, dann sind sie ja für den Weltuntergang gerüstet.“

„Ja, aber sind die denn jetzt verrückt geworden oder was?! Auf sowas kommt doch kein normaler Mensch! Was sagen Sie denn als Psychologe dazu? Können Sie mir das erklären?“

 

Da ich den Eindruck hatte, dass dieser Professor wirklich ernsthaft daran interessiert war, seine Leute zu verstehen und nicht diesen vermaledeiten Fünfklang loswerden wollte,

 

a) Andere zeigen ein bestimmtes Verhalten, dass ich von mir nicht kenne.

b) Ich kenne die Beweggründe für dieses Verhalten nicht. Deshalb gehe ich wie selbstverständlich davon aus, dass jeder, der dieses Verhalten zeigt, sich mit Leichtigkeit auch ganz anders verhalten könnte. Darüber hinaus sind ethisch fragwürdige Motive für dieses Verhalten zu unterstellen – Egoismus, Selbstsucht etc.

c) Dieses Verhalten erzeugt negative Konsequenzen.

d) Also missbillige ich dieses Verhalten und verurteile den, der es zeigt.

e) Ich gebe meiner Hoffnung Ausdruck, dass sich durch diese Missbilligung und vor allem durch diese Verurteilung etwas ändert.

f) Da capo al fine. (Musikalisch für: Wiederhole diesen Fünfklang bis zum Ende).

 

Weil ich das alles bei ihm nicht sehen konnte, sondern nur ernsthafte Sorge um seine Leute, nahm ich mir Zeit für ein längeres Gespräch. Ich versuchte, ihm in Grundzügen zu erläutern, was Menschen antreiben kann, die sich so irrational verhalten.

 

 

Wir können verstehen oder wir können verurteilen. Beides zusammen geht nicht. Wenn wir Verhalten nachhaltig verändern wollen, dann führt der Weg über das Verstehen, nicht über das Verurteilen. Selbstverständlich muss denen, die sich und andere schädigen, schnell und wirksam entgegengetreten werden. Das steht außer Frage. Aber jede Krise hört irgendwann mal auf. Und spätestens dann – das ist jedenfalls meine Empfehlung – sollte man mit dem Verurteilen und Bekämpfen aufhören und mit dem Verstehen anfangen.

 

Wenn wir uns empören, dann ist das meistens richtig und wichtig. Aber es ändert in so einer Situation normalerweise nicht das Verhalten des anderen.

 

Wenn wir zu den Guten gehören (wollen), dann ist damit wirklich niemandem gedient. Darauf sollten wir verzichten. 

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Kommentare: 2
  • #1

    Widersynnig (Sonntag, 29 März 2020 11:48)

    Lieber Stiller,
    Ein Text, der gut tut in dieser Zeit.
    Mir fällt es gerade nicht leicht, die NTs zu verstehen, die nach nur 1 Woche Ausgangsbeschränkung von „Lagerkoller“ usw. reden.
    Ich beginne zu verstehen, wie sehr mein neurodiverses Leben von dem der NTs abweicht, besonders im Umgang mit äußeren und inneren Katastrophen.
    Und wieviel das alles mit Angst und Unsicherheit und dem Umgang damit in unserer Gesellschaft zu tun hat.


  • #2

    Stiller (Montag, 30 März 2020 01:53)

    Hallo, liebe Widersynnig,

    danke für deine Rückmeldung.
    Du schreibst:
    "Mir fällt es gerade nicht leicht, die NTs zu verstehen, die nach nur 1 Woche Ausgangsbeschränkung von „Lagerkoller“ usw. reden."

    Das geht mir genauso. Ich werde vermutlich noch viele Beobachtungen machen müssen und viele Gespräche führen müssen, bevor ich verstehen kann, worum es hier geht. Ich habe den Eindruck, dass es nicht DEN Lagerkoller gibt, sondern dass hier unterschiedliche Gefühlslagen zu einem Begriff zusammengezogen werden. Das, was ich von den üblichen NT-Experten (Psychologen, Therapeuten, Coaches) zu diesem Thema lese und höre, hilft mir wie üblich nicht weiter. Ich werde selber forschen müssen.

    Du schreibst:
    "Ich beginne zu verstehen, wie sehr mein neurodiverses Leben von dem der NTs abweicht, besonders im Umgang mit äußeren und inneren Katastrophen."
    Vielleicht verstehe ich, was du meinst. Ich habe den Eindruck, dass in der jetzigen Situation die AS deutlich bessere Coping-Strategien haben, weil
    a) so ziemlich alles, was die Behörden an Verhaltensänderungen anordnen, einem autistischen Lebensstil viel eher entspricht als einem neurotypischen und
    b) AS sowieso von Kindheit an gewohnt sind, mit Ereignissen umzugehen, die sie als Katastrophe erleben.

    Du schreibst:
    "Und wieviel das alles mit Angst und Unsicherheit und dem Umgang damit in unserer Gesellschaft zu tun hat."
    Ich habe in meinem beruflichen Umfeld jetzt vergleichsweise oft die Führung inne, obwohl das weder meine Aufgabe ist, noch meiner hierarchischen Stellung entspricht. Aber die Menschen in meinem beruflichen Umfeld sind zum großen Teil derart verunsichert und verängstigt, dass es für sie sehr wichtig ist, dass jetzt einer klar sagt, was gemacht wird und was nicht gemacht wird. Ich habe kein Problem damit. Klare Anweisungen geben und die Alpha-Position einnehmen und behaupten, das kann ich.