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Lebenszeitkosten– Nachtrag: Der Hasstext

Ich bin kein Freund von Facebook. Absolut nicht. Ich bin nicht bei Facebook, und so wie es aussieht, werde ich das auch nie sein. Facebook erlebe ich vor allem als gigantische Hassverstärkungsmaschine. Dass das Klima in öffentlichen Debatten mittlerweile derart vergiftet und hasserfüllt ist, führe ich weitgehend auf das unselige Wirken der (a)sozialen Medien zurück. Natürlich leistet Facebook auch Wunderbares beim Zusammenbringen von Menschen. Das steht außer Zweifel. Aber so wie es jetzt ist, dient Facebook vor allem dazu, Menschen gegeneinander aufzubringen. Und mittlerweile gibt es auch gut fundierte Untersuchungen, die belegen, dass dort, wo Facebook viel genutzt wird, die Hassverbrechen zunehmen. Der Zusammenhang scheint linear zu sein: Je stärker Facebook in einer Region genutzt wird, desto mehr Hassverbrechen gibt es dort.

 

Wie auch immer. Ich will heute auf einen Eintrag bei Facebook reagieren. Nach meinem letzten Blogtext „Lebenszeitkosten“ hat jemand, den ich nicht kenne, bei Facebook einen Kommentar dazu geschrieben. Dieser Kommentar besteht aus einem längeren Text, der im Original auf der Internetpräsenz des Bundesministeriums für Bildung und Forschung steht. Offizieller geht’s also kaum noch. Dieser Text ist ein Hasstext. In ihm wird zur Gewalt gegen Autisten aufgerufen. Er strotzt vor Gemeinheiten, Falschaussagen und Herabwürdigungen. Die Leute, die das geschrieben haben, müssten es nicht nur besser wissen, sie wissen es besser. Sie setzen bewusst und mit Absicht Falschaussagen über uns in Umlauf, und ihnen wird von den Laien geglaubt. Sie prägen mit am öffentlichen Bild von uns. Sie rufen dazu auf, Autismus und damit Autisten zu bekämpfen.

Nochmal, weil das so wichtig ist:

Wer dazu aufruft, Autismus zu bekämpfen, der ruft dazu auf, die Autisten zu bekämpfen. Das eine geht nicht ohne das andere.

Und deshalb halte ich es für ausgesprochen wichtig, solch kriminellem Unsinn entschlossen entgegenzutreten und das nicht unkommentiert stehen zu lassen.

 

Ich habe aus diesem Hasstext in „Lebenszeitkosten“ ganz bewusst nur einen einzigen Satz zitiert. Ich kann es jedoch nicht verantworten, den Gesamttext unwidersprochen und unkommentiert auf Facebook einfach vor sich hinvagabundieren zu lassen. In ihm wird zu Gewalt gegen Autisten aufgerufen. Er ist ein Hasstext. Menschen, die sich mit Autismus nicht auskennen, könnten ihn für bare Münze nehmen (Sprachbild).

 

Hier kommt der Originaltext:

 

Autismus-Spektrum-Störungen sind für die Betroffenen zeitlebens eine schwere Bürde. Gleichzeitig verursachen diese Erkrankungen aber auch hohe Kosten für das Gesundheitssystem. Im Vorhaben der Universität Bremen soll daher ein wirklichkeitsnahes Bild der Kosten von Autismus-Spektrum-Störungen erstellt werden. Gleichzeitig werden Daten zur Inanspruchnahme zugehöriger Leistungen des Gesundheitssystems erfasst. Bisher liegen für Deutschland keine entsprechenden Daten vor. Das Ziel ist es, anhand der gewonnenen Erkenntnisse Möglichkeiten einer effizienteren Versorgung aufzuzeigen. Die Daten werden anhand der Patientinnen und Patienten erhoben, die in den Studienzentren Marburg, Dresden, Berlin und Mannheim rekrutiert werden. Folgende Fragen sollen beantwortet werden: 1) Wie hoch sind die jährlichen Kosten von Autismus-Spektrum-Störungen in Deutschland? 2) Wie hoch sind die Lebenszeitkosten? Lassen sich diese durch Frühinterventionen im frühen Kindesalter beeinflussen? 3) Wie sehen typische Inanspruchnahme-Muster bis zur Diagnose aus? Um diese Fragen beantworten zu können, wird ein spezifischer Fragebogen entwickelt. Im nächsten Schritt wird anhand der rekrutierten Patientinnen und Patienten untersucht, wie typische Inanspruchnahme-Muster bis zur Diagnose aussehen. Anschließend sollen auf der Grundlage vorhandener Literatur die Daten verglichen werden, beispielsweise zu Lebenszeitkosten. Die im Verbund entwickelten und im Rahmen einer klinischen Studie evaluierten Interventionen werden dann auf ihre Kosteneffektivität hin untersucht.

 

Was ist dazu zu sagen?

 

 

Originalaussage:

„Autismus-Spektrum-Störungen sind für die Betroffenen zeitlebens eine schwere Bürde.“

 

Erwiderung:

Ich bin Autist. Ich habe das Asperger-Syndrom. Autismus ist meine Persönlichkeit. Das bin ich. Dieses Syndrom ist für mich keine Bürde. Im Gegenteil - ich bin sehr gerne Autist. Als lebenslange Bürde erlebe ich nicht das Asperger-Syndrom, sondern die Tatsache, dass ich in einer Welt leben muss, die auf die Bedürfnisse und die Lebensweise von Neurotypischen angepasst ist.

Und das ist ein Riesenunterschied.

 

Mir anzudichten, dass meine Persönlichkeit eine Bürde für mich wäre, ist niederträchtig und gemein. Es dient dazu, den folgenden Gewaltaufruf in ein moralisch rosiges Licht zu stellen. Man bekämpft dann nicht mich, sondern befreit mich nur von einer Bürde.

 

Darüber hinaus bin ich nicht gestört, sondern anders. Ich habe keine „Autismus-Spektrum-Störung“, sondern eine Autismus-Spektrum-Persönlichkeit.

Ich bin kein behinderter Neurotypischer, sondern ein ganz normaler, gesunder und unbehinderter Asperger-Autist.

Und das ist ein Riesenunterschied.

 

 

Originalaussage:

„Gleichzeitig verursachen diese Erkrankungen aber auch hohe Kosten für das Gesundheitssystem.“

 

Erwiderung:

Hier ist die Schwelle zum Hassaufruf eindeutig überschritten.

Krankheiten müssen bekämpft werden. Das ist ein hohes, moralisches Ziel. Mein Autismus ist meine Persönlichkeit. Mir anzudichten, dass meine Persönlichkeit eine Krankheit ist und deshalb bekämpft werden muss, ruft dazu auf, mich zu bekämpfen.

 

Darüber hinaus ist es auf mehreren Ebenen logisch falsch.

 

 

1

Wenn wir von einer „Krankheit“ sprechen, dann sprechen wir von etwas, was schädlich für den Menschen ist.

Das Asperger-Syndrom ist nicht schädlich für mich oder irgendeinen anderen Menschen.

Schädlich für mich ist, dass ich in einer Welt leben muss, die auf die Bedürfnisse und die Lebensweise von Neurotypischen angepasst ist.

Und das ist ein Riesenunterschied.

 

2

Wenn wir von einer „Krankheit“ sprechen, dann sprechen wir von etwas, was bekämpft bzw. geheilt werden sollte. Nach allem, was ich weiß, ist es heute nicht mehr opportun zu versuchen, homosexuelle Menschen zu heilen – durch Aversionstherapie, Hormongaben oder was auch immer.

Wenn man Vergleichbares mit Asperger-Autisten wie mir versucht, läuft es aber auf dasselbe hinaus.

Nochmal, weil das so wichtig ist:

Der Versuch, Autisten zu „heilen“ ist gleichzustellen mit dem Versuch, Homosexuelle zu „heilen.“ (Was würden die neurotypischen Verfasser dieses Texts eigentlich davon halten, wenn ich versuchen würde, sie vom Neurotypischen Syndrom zu „heilen“ und aus ihnen ganz normale Autisten zu machen?)

 

 

Originalaussage:

Das Ziel ist es, anhand der gewonnenen Erkenntnisse Möglichkeiten einer effizienteren Versorgung aufzuzeigen.

 

Erwiderung

(Siehe mein letzter Blogtext)

 

 

Originalaussage:

„Wie hoch sind die jährlichen Kosten von Autismus-Spektrum-Störungen in Deutschland?“

 

Erwiderung

Dieses mit öffentlichen Mitteln gefördert zu erforschen ist aus Gründen der Fairness nur dann zulässig, wenn gleichzeitig erforscht wird, wie hoch die jährlichen Kosten des Neurotypischen Syndroms sind. (Wir erforschen (hoffe ich jedenfalls) ja auch nicht die Kosten von Einwegverpackungen, ohne gleichzeitig zu erforschen, was Mehrwegverpackungen kosten).

 

Und nochmal:

Ich bin Asperger-Autist. Ich bin kein behinderter Neurotypischer, sondern ein ganz normaler und unbehinderter Asperger-Autist. Ich bin nicht gestört. Ich bin normal. Ich bin gesund.

 

 

Originalaussage:

Wie hoch sind die Lebenszeitkosten? Lassen sich diese durch Frühinterventionen im frühen Kindesalter beeinflussen?

 

Erwiderung

Ich gehe davon aus, dass mit „Frühintervention im frühen Kindesalter“ gemeint ist, Kleinkindern mit Mitteln der Folter ihren Autismus auszutreiben. Hier soll offenbar die Persönlichkeit des Kindes zerstört und vernichtet werden, um sie durch eine andere zu ersetzen. Das ist ein Aufruf zur Gewalt gegen die Schwächsten dieser Gesellschaft. Das ist nicht mit der Achtung der Menschenwürde zu vereinbaren. Deshalb ist solchem Ansinnen entschieden entgegenzutreten.

 

 

 

Fazit und Zusammenfassung

Der Text, den ich hier kommentiere, ist ein Hasstext. Er ruft zur Gewalt gegen Autisten auf. Er steht auf einer offiziellen Seite der Bundesregierung. Er ist sachlich falsch. Darüber ist er herabwürdigend, ehrabschneidend, beleidigend und geeignet, den sozialen Frieden zwischen Neurotypischen und Autisten ganz empfindlich zu stören.

Er wurde geschrieben von Menschen, die das alles sehr genau wissen. Deshalb ist hier Absicht zu unterstellen. Diesen Text haben Fachleute geschrieben, nicht irgendwelche Laien, die sich aus öffentlich zugänglichen Internetseiten ihr „Wissen“ zusammengelesen haben.

Diese Fachleute rufen also ganz bewusst zum Hass und zur Gewalt gegen Autisten auf.

 

Im internen Sprachgebrauch nenne ich solche Fachleute, die sich derart herabwürdigend und hasserfüllt über Autismus auslassen „Autistenhasser“. Ich habe bislang kein besseres Wort gefunden. Autistenhassern begegne ich häufig, wenn ich mit staatlichen Stellen beschäftigt bin, die Autisten helfen sollen. Bislang weiß ich nicht, warum es Autistenhasser ausgerechnet in diese Institutionen zieht.

 

Autistenhasser arbeiten mit daran, unseren Ruf in der Öffentlichkeit nachhaltig zu schädigen. Sie tun das wider besseres Wissen. Sie tun es mit Absicht. Was die Quelle für ihren Hass ist, weiß ich noch nicht.

 

Früher hat man in genau derselben Weise über Homosexuelle geschrieben. Das hat in heutiger Zeit stark nachgelassen.

Es wird allmählich Zeit, dass auch wir Autisten von der Öffentlichkeit nicht als „gestört“ oder „krank“, sondern als „anders“ wahrgenommen und beschrieben werden.

 

Es wird Zeit, dass solche Hasstexte nicht mehr geschrieben werden.

Es wird Zeit, dass solche Hasstexte, wenn sie denn schon mal geschrieben worden sind, nicht mehr unkommentiert über Facebook oder andere (a)soziale Medien verbreitet werden.

 

Unsere Persönlichkeit ist keine Störung und keine Krankheit. Unsere Persönlichkeit ist völlig normal und gesund. Unsere Persönlichkeit ist richtig. Unsere Persönlichkeit ist in Ordnung. Wir haben ein Recht so zu sein, wie wir sind. Wir schaden niemandem.

 

Und wir verursachen auch nicht mehr Kosten als andere.

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