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Unsichtbar

Vor vielen Jahren sprach mich eine Therapeutin darauf an:

„Du willst nicht gesehen werden. Wenn du vor einer Wand stehst, dann nimmst du sogar die Farbe der Wand an, bloß damit du nicht gesehen wirst.“

 

Das war natürlich übertrieben.

Aber in dieser Situation wurde mir das mal wieder so richtig bewusst:

Ich will nicht, dass man mich sehen kann. Ich will nicht, dass mich jemand sieht und Kontakt mit mir aufnimmt. Ganz oft wäre ich am liebsten unsichtbar für alle anderen.Ich würde mich nur sichtbar machen, wenn ich von jemandem etwas wollte.

 

Ich will in Ruhe gelassen werden.

Niemand soll Kontakt mit mir aufnehmen. Niemand soll mich ansprechen. 

Niemand soll was von mir wollen.

 

Ich wohne in einem Hochhaus. Es kommt immer wieder vor, dass ich müde von der Arbeit heimkomme, meinen Wagen parke … und dann ganz lange in meinem Auto sitzen bleibe, weil sich da Menschen im Eingangsbereich des Hochhauses aufhalten.

 

Das sind Menschen, die mich kennen, und wo durchaus die Gefahr besteht, dass sie mich ansprechen, sobald sie mich sehen.

„Ah, Herr Stiller, Sie kommen heute aber spät von der Arbeit.“

„Hallo, Stiller, wie geht’s denn immer so? Alles klar?“

(Und so weiter … ich nehme jeder AS weiß, wovon ich hier spreche).

Aber ich bin todmüde.

Ich ertrag das jetzt einfach nicht.

Also bleibe ich in meinem Auto sitzen.

 

Ich sitze da also in meinem stillen und ruhigen Auto und schaue immer wieder zum Eingangsbereich, ob die Menschen da endlich weg sind. Manchmal habe ich Pech:

Dann kommt da einer. Dann kommen zwei Leute da raus. Da entsteht dann ein Knäuel aus drei Menschen, die sich vor der Eingangstür unterhalten. Dann geht einer weg, dafür kommen aber zwei neue dazu. Dann gehen da zwei weg. Dafür kommt die komplette Familie Hase aus dem Haus. Und es wird sich unterhalten. Es wird sich unterhalten, unterhalten, unterhalten. Mal geht einer zum Briefkasten, schließt ihn auf, bückt sich, guckt rein und macht ihn wieder zu. Mal geht einer zum Papierkorb, um was aus der Jackentasche zu holen und in den Papierkorb zu schmeißen. Irgendwer fummelt an seinem Schlüsselbund und sucht seinen Wohnungsschlüssel raus.Aber auch dabei unterhalten sie sich unablässig. Ich höre zwar nichts, aber ich sehe ja, wie sie angeregt gestikulieren, mit den Köpfen nicken und ihre Münder bewegen.

 

Und da jetzt eingebunden zu werden: In einen langen Reigen aus Smalltalk und artig ausgetauschten Nichtigkeiten – ich würde es wirklich nicht ertragen. Es wäre die Hölle für mich. Ich bin jetzt einfach zu müde für sowas. Geht jetzt nicht. Völlig ausgeschlossen!

Deshalb sitze ich jetzt in meinem stillen und ruhigen Auto.

Ein Hort des Friedens.

Das ist etwas, was ich sehr häufig tue:

Warten im Auto.

Warten.

Warten.

Warten.

Ich schaue mir die Wolken an.

Ich schaue mir an, wie die Bäume sich lautlos im Wind bewegen.

Und immer wieder schaue ich zum Eingangsbereich hoch, ob sich da schon was getan hat.

Und ich warte.

Zum Glück macht mir Warten nichts aus.

Aber manchmal habe ich Hunger.

Manchmal muss ich auf’s Klo.

(Manchmal beides).

Und ich warte.

 

Wenn ich unsichtbar wäre, hätte ich diese Probleme nicht. Ich habe mich intensiv mit der Physik der Unsichtbarkeit auseinandergesetzt: Die Lichtstrahlen würden um mich herumgelenkt und hinter mir wieder zusammengeführt werden – die Menschen würden also an mir vorbeigucken und mich nicht sehen.

Ausgezeichnet!

Aber bislang ist das nicht praktikabel. Bis das technisch realisierbar ist, muss noch ziemlich viel geforscht werden. Und dann würde sich wahrscheinlich als erstes das Militär dieser neuen Technik bemächtigen.

Es ist also vermutlich besser so, wie es jetzt ist.

 

Dennoch würde ich es sehr schätzen, wenn ich auf Knopfdruck unsichtbar werden könnte. Dann könnte ich jetzt aus meinem Auto aussteigen und ungesehen in meine Wohnung gehen können. Ungesehen und unbesmalltalkt. Herrlich!

 

Im Jugendbuch Krabat (von Ottfried Preußler) fand ich einen Zauber, der in eine ähnliche Richtung ging, der mich auch faszinierte.

Für diesen Zauber zeichnete man einen Kreis auf den Boden und füllte den mit irgendwelchen magischen Zeichen. Und sobald man sich in diesem Kreis befand, konnten andere nicht mehr an einen denken.

 

Sowas brauche ich für daheim oder für’s Büro.

Denn es gibt viele Menschen, die müssen mich gar nicht sehen, um was von mir zu wollen. Die müssen nur an mich denken, um sofort aufzuspringen, zu mir zu kommen und mich anzusprechen. Es reicht, wenn die wissen, dass ich da bin. Wenn aber niemand mehr an mich denken kann, fällt auch das weg.

Ich könnte da also den ganzen Tag in meinem Büro sitzen und ungestört und hochkonzentriert meine Arbeit tun, und niemand käme für irgendein Geschwätz vorbei. Und auch das Telefon bliebe still.

 

Herrlich!

Sowas brauche ich auch.

 

Also – demnächst ist ja Weihnachten.

Wer mir was schenken will – ich hätte gerne

a) irgendwas, was unsichtbar machen kann und

b) einen Zauber, der dazu führt, dass andere gar nicht mehr an mich denken können.

 

Legt es einfach irgendwohin, wo ich es finden kann, ohne dass mich dabei jemand sehen oder ansprechen kann. Ich hole es mir dann ab.

 

Ich bedanke mich später per Mail bei euch.

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Kommentare: 1
  • #1

    Murmur (Sonntag, 01 Dezember 2019 19:41)

    Mein Trick geht so:
    Telefon ans Ohr und so tun als wäre ich mitten in einem ganz, ganz wichtigem Gespräch, was mindestens 99% meiner Aufmerksamkeit erfordert.
    Mit dem übrigen 1% schaffe ich gerade noch ein kleines Kopfnicken und ein halbes Lächeln und schon bin ich an den Leuten vorbei. �
    Im Büro gehts manchmal auch auf die gleiche Weise. Die Leute hauen wieder ab, wenn sie mich telefonieren sehen.
    Alles andere wäre ja auch unhöflich. �
    Unsichtbarkeit ist älteren Frauen vorbehalten, da habe ich dir leider keinen Tipp. Beige anziehen vielleicht?
    Ich empfand dieses Unsichtbarwerden, was vor einigen Jahren stattfand als riesige Befreiung. Extrem erleichternd. Wirklich.
    Ich kann dir das gut nachfühlen.
    Vielleicht wird es ruhiger nach der Pensionierung...