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Selbstvergiftung

Es ist heute schon über 20 Jahre her, dass ich schließlich meine Konsequenzen zog und einen Vertrag mit mir selber schloss. Ich hatte in einem Imbiss am Marktplatz gesessen und mir die Leute angeschaut, die vorbeiliefen. Eine Frau fiel uns auf.

„Die sieht aus, als hätte sie früher immer die nächste Konferenz der Blockfreien Staaten vorbereitet“, kommentierten meine Kleinen „und wäre dabei immer kläglich gescheitert.“

Ich schaute mir die Frau genauer an.

Ich sah sofort, was sie meinten.

Das war sehr treffend beschrieben – wie immer. Meine Kleinen hatten es mit ihrer Lästerei schon vor Jahren zur Meisterschaft gebracht. Es gelang ihnen beinahe immer, für jeden Menschen auf den ersten Blick einen Spitznamen oder eine Beschreibung zu finden, die das Wesentliche an seiner Persönlichkeit auf den Punkt brachte.

 

„Der Marmeladeverkäufer.“

„Der züchtet Frösche und versteht sich mit ihnen besser als mit seiner Frau.“

„Die hat als Kind eine Schokoladentafel werden sollen, hat es aber nicht ganz geschafft.“

„Der hat bei der Verteilung der Intelligenz nicht „Hier!“ geschrien.“

„Die gurgelt jeden Morgen mit Espresso und wundert sich, dass sie nicht schön davon wird.“

„Der gilt als Erfinder des existenzialistischen Fragezeichens.“

„Der zankt sich immer, wenn er heimkommt, mit einem leeren Schuhkarton.“

 

 

Meine Kleinen waren da schier unerschöpflich.

Ihnen fiel immer was ein.

Bissig und scharf waren ihre Kommentare, wie blitzschnell gezeichnete Karikaturen. Immer fingen sie mit ihren Sprüchendas ein, was dieser Mensch anscheinend an Unfrieden und Unerlöstheit mit sich herumtrug. Meine Kleinen sahen sofort, wenn jemand an den eigenen Ansprüchen zu scheitern schien, oder versuchte, sich anders darzustellen als er war oder ein bestimmtes Bild von sich allzu deutlich nach außen trug.

 

„Der ist zum dritten Mal in Folge zum zweitschönsten Mann seines Betriebes gewählt worden.“

„Der arbeitet daran, der erste Teenager-Rentner Deutschlands zu werden.“

„Die hat ihrem Dackel heute Morgen einen bunten Schonbezug gehäkelt.“

„Die hätte einen begnadeten Körper, wenn sie nur begnadet wäre.“

 

Meine Kleinen hatten’s drauf.

Ihre Kommentare kamen wie aus der Pistole geschossen (Sprachbild).

Und was sie sagten, das saß. Das saß wie ein Peitschenhieb. Das war klar, präzise und auf den Punkt gebracht. Vielleicht hättenwir damit in irgendeinem drittklassigen Varieté auftreten können.

 

Aber es war beinahe immer bissig, abwertend und gemein, was sie da sagten.

Sie zogen über die Leute her. Erbarmungslos und unablässig.

 

Wir sprachen nur sehr selten aus, was wir uns da ausgedacht hatten. Aber darum ging’s nicht. Wir dachten es. Und das war entscheidend. Wir werteten die Menschen ab und fühlten uns jedes Mal danach wirklich schlecht. Zuerst kam direkt nach dem Lästern ein kurzes Zwischenhoch, so eine Art Triumph. Und dann fühlten wir uns rabenschwarz schlecht. Dass es uns so schlecht ging,konnte aufgefangen werden durch einen zweiten bösartigen Spruch. Aber danach ging‘s dafür umso erbarmungsloser schlecht. Also brauchten wir einen dritten Spruch – und so weiter.

Und das konnte nach all der Lästerei ziemlich dauern mit dem Schlechtgehen. Das war wirklich schlimm.

 

Jetzt also war es soweit, dass wir Konsequenzen zogen.

Meine Kleinen sagten:

„Die sieht aus, als hätte sie früher immer die nächste Konferenz der Blockfreien Staaten vorbereitet und wäre dabei immer kläglich gescheitert.“

Wir fühlten uns wirklich schlecht.

Ein Ruck ging durch uns:

„Das war’s!“

Ich setzte mich mit meinen Kleinen zusammen, und von jetzt auf gleich beschlossen wir, nie wieder über Menschen zu lästern.

Wir wollten einfach nicht mehr, dass es uns danach so schlecht ging.

 

Das war ein ziemliches Opfer für uns. Denn

a) zum einen hatte diese Lästerei einen guten Teil unseres Tages ausgefüllt,

b) waren diese Lästerkommentare immer sehr hilfreich gewesen, wenn ich pointiert erkennen wollte, was in diesem Menschen nicht erlöst war,

c) war das immer eine gute Übung unserer verbalen Fähigkeiten gewesen,

d) hatte das herrlich von unseren eigenen Schwächen abgelenkt. So lange wir lästerten, brauchten wir nicht nach innen zu schauen und uns selbst zu erkennen.

 

Also keine Lästereien mehr.

Nie mehr über irgendwen herziehen.

Bitter.

Aber auf lange Sicht war das sehr lohnend für uns, denn dieses ewige Schlechtfühlen nach den Lästereien, das fiel auch weg. Und mit den Jahren begriffen wir, dass alles Hässliche, was wir über andere sagten, in Wirklichkeit auf uns selber gemünzt war.

Was immer ich auch an der Person eines anderen kritisierte und ins Lächerliche zog – ich kritisierte es bei mir selber. Ich lästerte und hetzte also über mich selber. Ich machte mich selber so richtig fertig.

Kein Wunder, dass es mir danach immer so fürchterlich schlecht ging.

 

Noch später begriff ich, dass das ein Naturgesetz ist:

Wann immer wir einen anderen Menschen abwerten, werten wir uns selber ab. Es geht nicht anders. Das ist eine permanente Selbstvergiftung.

 

Einschub

Es geht hier um das Abwerten des anderen als Person. Es geht nicht darum, ob wir sein Verhalten kritisieren oder nicht. Wir können unser eigenes Verhalten oder das anderer Menschen auf’s schärfste kritisieren, ohne irgendwessen Menschenwürde anzutasten, oder irgendwen als Person abzuwerten.

 

Beispiel:

Jemand sagt etwas über Politik, was uns überhaupt nicht passt.

Abwertung der Person: „Du bist ein Vollidiot! Wie kommst du denn auf diesen Schwachsinn?!““

Abwertung des Verhaltens: „Da bin ich komplett anderer Ansicht. Ich halte deine Ansicht – wenn man sie umsetzt - für schädlich und gefährlich!“

Einschub Ende

 

 

 

Schon seit geraumer Zeit nehme ich dieses wahr:

Die Selbstvergiftung durch Abwertung anderer nimmt rasant zu in der öffentlichen Kommunikation (zum Beispiel in den (a)sozialen Medien). Der Ton verschärft und verhärtet sich zusehends, und egal, wo im öffentlichen Raum ich Stichproben ziehe, ich finde deutlich häufiger als früher, dass in schriftlichen und mündlichen Kommentaren andere Personen massiv abgewertet werden.

Das scheint völlig unabhängig vom politischen Lager und von der jeweiligen Thematik zu sein: „Hier sind wir, und wir sind gut (selbstverständlich). Und da sind die anderen, und die sind schlecht (ebenfalls selbstverständlich). Die dürfen, ja müssen, (a) angegriffen, (b) dehumanisiert, (c) abgewertet, (d) verjagt, (e) verachtet, (f) verfolgt, (g) vernichtet werden. Kommunikation ist immer Kampf, Angriff, Krieg.“

Und der Ton scheint sich zunehmend zu verschärfen.

 

Ich weiß nicht, was Menschen umtreibt, die sowas tun.

Ich kann nur auf dieses Naturgesetz hinweisen:

Alles, was ein Mensch über andere Menschen (als Person) sagt, das sagt er in Wirklichkeit über sich selber.

Je hetzerischer und verachtender sich ein Mensch über andere äußert, desto mehr schadet und verletzt er sich selber.

 

Disclaimer:

Das hier Gesagte gilt nur für Menschen, die außerhalb von uns sind.

Das gilt nicht für Menschen, die in unserem Herzen wohnen.

Disclaimer Ende

 

 

Niemandem tut es gut, wenn er sich selbst verachtet.

Niemandem tut es gut, wenn er über sich selber herzieht und hetzt.

Niemandem tut es gut, wenn er sich selber hasst und vernichten will.

 

Vermutlich wird ein Mensch, der soviel hetzt und über andere herzieht, nur unterschwellig spüren, wie sehr er sich selber schadet. Wahrscheinlich wird er versuchen, diese ganz, ganz schlechten Gefühle, die sich in ihm nach jeder Hetzerei ausbreiten, durch weiteres, verstärktes und schärferes Hetzen beiseitezuschieben und sie auf diese Weise nicht fühlen zu müssen. Denn direkt nach jeder Hetzerei kommt erst mal so ein Zwischenhoch, der Triumph. Und danach geht es dann rasant bergab.

 

Wenn das so ist, dann nutzt dieser Mensch die Hetzerei wie eine Droge.

Dann ist so viel Hass in der Kommunikation, weil die Menschen stärker als früher süchtig nach Hass sind.

Auch beim Drogenkonsum muss ab einem bestimmten Punkt die Dosis laufend erhöht werden – und am Ende spürt man dann so ziemlich gar nichts mehr. Man füllt nur stumpf eine Drogendosis nach der anderen in sich ein, um sich nicht so schlecht fühlen zu müssen, wenn die Droge nicht mehr da ist. Das ist ein schleichender Tod.

Vielleicht ist das einer der Gründe, warum so viel Lebenszeit in den (a)sozialen Medien versickert: Sie werden als Droge genutzt, deren Dosis laufend erhöht werden muss.

 

 

Ich habe es mir in meinem Beruf zur Aufgabe gemacht, diesen Kreislauf zu durchbrechen. Das gelingt mir nicht immer aber immer wieder.

Ich will ein Beispiel geben:

 

Vor einiger Zeit war es meine Aufgabe, eine strategische Tagung von Führungskräften zu leiten. Wir kamen inhaltlich sehr gut voran, aber am Ende des ersten Tages ermüdeten die Teilnehmer zusehends. Die Wortbeiträge wurden allmählich bissiger. Ich registrierte das und versuchte, gegenzusteuern. Das gelang nur bedingt.

Dann sagten die Manager Sätze wie:

„Und wenn die ganzen Schwachmaten das nicht mitmachen, dann werden wir uns eben von ihnen trennen müssen!“

 

Ich ergriff das Wort:

„Ich bitte darum, dass wir uns auf folgendes einigen: Wir reden hier nicht von „Schwachmaten“. Wir reden hier von Menschen. Maximal reden wir hier von Menschen, die ihre Leistung nicht bringen, aber nicht von „Schwachmaten“. Können wir uns darauf einigen?“

Wir konnten uns darauf einigen.

Aber wie erfolgreiche und ranghohe Alpha-Tiereeben so sind - nach einiger Zeit kamen in der Hitze des Gefechtes wieder blöde Sprüche über Menschen, die nicht anwesend waren. Diesmal ging es nicht um Schwachmaten, sondern um „Nichtskönner“, „Versager“ und „Faultiere“.

Ich zog abermals das Wort an mich:

„Wenn das jetzt noch einmal vorkommt, dass wir hier nicht von Menschen reden, sondern von „Faultieren“ und dergleichen, dann breche ich die Veranstaltung ab und reise ab. Dann könnt ihr euch alleine über alle Tiere dieser Welt unterhalten so lange ihr wollt. Aber mit mir ist sowas nicht zu machen. Wenn ihr wollt, dass ich das hier leite, dann reden wir ausschließlich über Menschen, wenn wir über Menschen reden. Wenn wir über Tiere reden, dann reden wir über Tiere. Aber wenn wir über Menschen reden, dann reden wir nur über Menschen. Habe ich mich verständlich ausgedrückt?!“

 

Ich hatte mich verständlich ausgedrückt. Betroffen schwiegen die Manager, die sich warmgehetzt hatten und wir brachten diesen Tag erfolgreich und wertschätzend zu Ende.

 

Manchmal gelingt mir das.

Manchmal nicht.

 

Aber in dieser Sache ist mir am wichtigsten in meinem Leben, dass ich (weitgehend) aufgehört habe, über mich und meine Kleinen herzuziehen, indem ich abfällig über andere Menschen rede und denke. Es geht mir deutlich besser seitdem. Meine Lebensqualität ist spürbar gestiegen.

 

Selbstvergiftung tut niemandem gut.

Und jeder hat es in der Hand, ob er sich auf diese Weise selbst vergiftet oder nicht.

Es zwingt uns niemand, uns auf diese Weise selbst zu vergiften.

 

Als ich mit Alkoholkranken arbeitete, lernte ich den Spruch kennen:

„Es kommt darauf an, das erste Glas stehen zu lassen.“

 

Vielleicht kommt es darauf an, gar nicht mehr damit anzufangen, über andere Menschen schlecht zu reden oder zu denken.

Niemand zwingt uns dazu, es zu tun.

Es liegt nur an uns, ob wir uns auf diese Weise vergiften oder nicht. 

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