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Opfer

Vor geraumer Zeit sprach mich eine Autistin an, dass sich Asperger-Autisten im Internet bevorzugt als Opfer darstellen würden. Sie beschrieb mir, dass auf Facebook und in Internetforen in der Kommunikation zwischen Asperger-Autisten vor allem Thema sei, was sie alles nicht können, womit sie Schwierigkeiten haben und worunter sie leiden.

 

Ich kann das nicht beurteilen. Ich war erst zweimal Mitglied in AS-Foren. Beide Male musste ich schon nach kurzer Zeit feststellen, dass ich dort nicht richtig war. Es war zu wenig Zeit, um fundierte Beobachtungen zu machen und Schlüsse daraus zu ziehen.

 

Aus meiner Sicht ist es völlig legitim, untereinander zu besprechen, was einem nicht gelingt, womit man Schwierigkeiten hat und worunter man leidet. Das kann zu interessanten neuen Lösungsansätzen führen. Und es kann sehr gut tun, festzustellen, dass man nicht allein ist mit dem, was einen umtreibt.

 

Ich ziehe mich jedoch zurück, wenn Menschen sich über ihre „Mängel“ definieren oder darauf reduziert werden sollen.

Beispiel:

Mein Nachbar ist taub. Gut, er ist taub. Aber das war’s auch schon. Er ist Schreiner und arbeitet irgendwo im Nachbarort.Er lebt immer wieder in einer Beziehung, baut immer wieder mit viel Energie und Freude am Detail seine Wohnung um, liebt seine Katze (die inzwischenziemlich dick geworden ist) … und so weiter.

Warum sollte ich mich damit aufhalten, dass er nicht hören kann?

 

Mich interessiert nicht, was nicht geht. Mich interessiert nur, was geht.

Und irgendwas geht immer.

Wenn ein Erwachsener sich als (hilfloses) Opfer definiert, dann ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass er damit die Realität verlassen hat.

 

Wenn erwachsene Menschen sich als Opfer definieren, dann verlassen sie meistens die Realität. Natürlich ist jeder von uns immer wieder Gewalten ausgesetzt, die er nicht beeinflussen kann und die ihn zum Opfer machen. Darum geht’s an dieser Stelle nicht. In diesem Text geht es darum, ob ich das Opfer-Sein zum Kern meiner Identität mache – ob ich mich darüber definiere. Und wenn jemand als erwachsener Mensch das tut, dann ist es sehr wahrscheinlich, dass er die Realität verlassen hat.

 

Einschub

Oft genug kommen mir die NTs mit dem Spruch

„Geht nicht – gibt’s nicht.“

Das ist eine andere Art, die Realität zu verlassen. Natürlich ist oft genug „Geht nicht“ real. Alles andere wäre eine Illusion. Ich kann nicht ohne Hilfsmittel aus dem Stand zehn Meter hoch springen, ich kann nicht dreihundert Jahre alt werden, ich kann nicht die Schwerkraft aufheben und nach Belieben durch die Gegend schweben – oft genug gibt’s eben „Geht nicht!“ Alles andere ist eine Illusion. Aber ich konzentriere mich eben nicht auf das, was nicht geht, sondern auf das, was geht.

Und irgendwas geht immer.

Einschub Ende

 

Bei meiner Arbeit begegne ich sehr häufig Menschen, die sich mir gegenüber als Opfer darstellen und auf diese Weise negative Zuwendung von mir erpressen wollen. Ich gehe nicht darauf ein.

·        Du lebst seit Jahren in einer unglücklichen Beziehung und willst dich darüber langatmig bei mir beklagen? – Ja, ich nehm‘ zur Kenntnis, dass du in einer Beziehung lebst, die dir nicht gefällt. Was hast du für einen Nutzen davon, dass du das tust?

·        Du verstehst dich nicht mit deinen Schwiegereltern und willst von mir bedauert oder beratschlagt werden? – Gut, ich nehm‘ zur Kenntnis, dass dir die Beziehung zu deinen Schwiegereltern nicht gefällt. Dann erzähl mir mal, was du in die Wege geleitet hast, um die Beziehung zu verbessern. Und wenn wir gemeinsam feststellen, dass da tatsächlich nichts geht, dann lass uns darüber sprechen, mit wem du dich gut verstehst und was sich da ausbauen lässt.

·        Du wirst von deinem Ehepartner nicht geliebt, und er erfüllt dir deine tiefsten Sehnsüchte nicht, und du willst darüber traurig und enttäuscht sein? – Gut, das höre ich mir eine Weile mit an. Trauer und Enttäuschung zu fühlen ist wichtig. Aber dann werde ich dich auffordern, mit deinen Sehnsüchten dahin zu gehen, wo sie befriedigt werden und dich ansonsten an Menschen zu wenden, die dich lieben.

·        Du kommst in deinem Beruf nicht voran? – Ja, dann erzähl mir mal (a) wohin du dich entwickeln willst und (b), was du in die Wege geleitet hast, um das zu erreichen. Und wenn wir im gemeinsamen Gespräch feststellen, dass es für dich tatsächlich nicht mehr möglich ist, in deinem Beruf unter vernünftigen Bedingungen voranzukommen, dann lass uns das Thema beiseite legen und darüber sprechen, auf welchen Feldern du denn sonst vorankommen könntest.

·        Du lebst ein sinnloses und fruchtloses Leben und willst mir mit epischen Schilderungen darüber das Leben vermiesen? – Ja, das ist dein gutes Recht. Aber was mich vor allem interessiert, ist: Was hast du davon? Was hast du davon, dass du ein Leben führst, das dir nicht gefällt?

·        Du willst etwas haben, was du nie erreichen wirst und du willst bei mir dein Schicksal beklagen? – Ich werde dich darauf hinweisen, dass das eine der sichersten Methoden, sich vor der Realität zu drücken und dauerhaft unglücklich zu sein. So kann man sich auch beschäftigen.

·         Du willst eine andere Vergangenheit haben als die, die du hattest? – Vergiss es.

·        Du bist chronisch krank geworden? – Das ist interessant. Jede Krankheit erzählt eine Geschichte. Welche Geschichte erzählt deine chronische Krankheit?

·        Und so weiter. … Es gibt sogar Menschen in meinem Leben, die es schaffen, sich über das Wetter zu beklagen. Die erleben sich dann tatsächlich als Opfer des Wetters.

 

Viele Menschen erleben mich in solchen Gesprächen als eher robust und hart.

Aber mich interessiert nicht, was nicht geht. Mich interessiert nur, was geht.

Und irgendwas geht immer.

Erzähl mir also nicht ausufernd und in vielen Wiederholungsschleifen, was in deinem Leben alles nicht geht. Das interessiert mich nicht. Dafür ist mir meine knappe Lebenszeit wirklich zu schade.

Erzähl‘ mir, was geht.

Wenn du dich häufig hilf- und machtlos fühlst oder oft den Eindruck hast, in auswegloser Lage zu sein, dann ist die Wahrscheinlichkeit sehr hoch, dass du da Kunstgefühle produzierst und die Realität verlassen hast.

 

Und wenn du dich tatsächlich innerlich nicht von dem lösen kannst, was in deinem Leben nicht geht, dann beschäftige dich doch mal mit der Frage, warum du dich davon nicht lösen kannst.

Mein Standard-Spruch dazu ist:

„Ich kann dir bei allem helfen. Aber nicht bei deinem Kampf gegen die Realität.“

 

Ich weiß nicht, ob Asperger-Autisten dazu neigen, sich als Opfer zu definieren. Es interessiert mich auch nicht besonders. Ich habe jedoch immer wieder festgestellt, dass viele Menschen große Schwierigkeiten mit einem selbstbewussten Autisten wie mir haben. Aber das ist einer der Riesenvorteile meiner Art, in der Welt zu sein: Was andere von mir halten, ist mir fast völlig egal.

 

Wenn ich bislang irgendwo als Autist erkennbar war, habe ich sehr oft erlebt, dass ich „als Autist“ gefälligst dies zu sein habe

·         Sozialtrottel

·         wirtschaftlicher Versager

·         krank – körperlich und seelisch

·         voller Mängel und Unvermögen

·         arbeitslos oder doch wenigstens in prekärer Beschäftigung

·         behindert

·         beziehungsunfähig

·         kommunikationsgestört

·         chronisch unglücklich

·         bedürftig

·         bemitleidenswert

·         hilflos

·         wehleidig

·         dankbar für jeden Mist, der mir ungefragt als Hilfe angedient wird

·         schweigsam, wenn andere in meiner Gegenwart über mich reden

·         dankbar, dass mich überhaupt jemand wahrnimmt

·         rücksichtsvoll, wenn andere absichtsvoll und wider besseres Wissen Mist über AS verbreiten

·         demütig und duldsam, wenn ich schlecht behandelt werde

·         unterwürfig

·         und so weiter

 

Wenn ich also schon die Stirn habe, zuzugeben, dass ich Autist bin, dann habe ich mich aber auch gefälligst so zu verhalten und zu fühlen, wie man sich einen Autisten im allgemeinen vorstellt. Und offenbar ist in der allgemeinen Vorstellung der Autist meistens ein Opfer.

 

Ihr könnt mich mal.

 

Ich wurde also als Autist oft genug von meinem sozialen Umfeld in die Rolle des Opfers gedrängt. Diesen Druck habe ich von NTs ebenso erlebt wie von AS. Es scheint genügend AS zu geben, die alles mögliche ertragen können, aber nicht einen vitalen, selbstbewussten und erfolgreichen Autisten. Ein Autist ist gefälligst ein Opfer. Das ist mit mir aber nicht zu machen. Ich bin groß und stark. Ich bin wehrhaft. Ich bin eloquent und ziemlich vital. Ich bin kein Sozialtrottel, mein Jahresgehalt liegt im sechsstelligen Bereich (Euro wohlgemerkt, nicht italienische Lira), ich bin nicht kränker oder gesünder als andere, ich bin nur begrenzt unglücklich … und so weiter.

Ja – und da gab’s halt regelmäßig Stunk.

Das Motto war sehr oft:

„Du bist AS, das können wir geradeso noch akzeptieren. Aber dann sei gefälligst auch ein Opfer, sonst passt du hier nicht rein.“

War mir egal.

Einer der Vorteile, meiner Art, in der Welt zu sein, ist, dass es mir meistens ziemlich egal ist, ob ich irgendwo reinpasse oder nicht. Und wenn ich nicht hier reinpasse, dann passe ich eben woanders rein. Irgendwas geht immer.

 

In meiner Welt darf also jeder jederzeit ein Opfer sein, so viel und so ausgiebig wie er das will. Er darf mir damit aber nicht auf den Geist gehen. Kommst du also alsewiges Opfer zu mir, gibt’s eine freundliche (hoffe ich) aber robuste (weiß ich) Zurückweisung:

 

Opfer sein kannst du woanders. Hier interessiert nur, was geht.

Und irgendwas geht immer.

 

Du führst mit Sicherheit ein (potenziell) wundervolles Leben. Lass uns nicht unsere kostbare Lebenszeit damit vergeuden, dass wir uns gegenseitig die Ohren vollheulen. Lass uns darüber reden, was geht.

 

Und irgendwas geht immer.

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Kommentare: 1
  • #1

    K (Samstag, 16 November 2019 21:49)

    Vielen Dank für diesen wunderbaren Blogeintrag. Ich vermag mich meistens nicht so auszudrücken, wie du das hier tust, aber meine eigene Einstellung sehe ich zumindest in vielem, was du schreibst.