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Gullibles Reisen

*** gullible (Adj.) – leichtgläubig ***

 

Neulich hatte ich wieder mal das Privileg, einen Asperger-Autisten coachen zu dürfen, der bei uns im Konzern sehr erfolgreich ist. Genauso wie ich gibt er sich öffentlich nicht als Autist zu erkennen. Genauso wie ich ist er im Vertrieb tätig. Keine Ahnung, was Autisten ausgerechnet in den Vertrieb treibt, aber die wenigen AS, die ich im Vertrieb bislang kennengelernt habe, machen ihre Sache ausgesprochen gut.

 

In diesem Gespräch wurde mir mal wieder sehr deutlich, wie leichtgläubig ich bin.

Ich kann so viele negative Erfahrungen mit NTs machen kann, wie ich will … ich werde vermutlich mein Leben lang naiv und leichtgläubig bleiben. Egal, was die NTs mir erzählen, ich glaube ihnen das. Da bin ich nur sehr begrenzt lernfähig.

·         Wenn sie mir sagen, dass sie im Urlaub auf Eisbärjagd waren – ich glaube ihnen das.

·         Wenn sie mir sagen, dass sie Millionär sind – ich glaube ihnen das.

·         Wenn sie mir sagen, dass ihr Sohn die Ehrendoktorwürde  der Universität Graz hat – ich glaube ihnen das.

·         Wenn sie mir sagen, dass sie an einer bahnbrechenden Erfindung arbeiten – ich glaube ihnen das.

·         Und so weiter

 

Egal, wie unwahrscheinlich das ist, was sie mir da erzählen, ich glaube ihnen das. Zumindest solange bis ich die Angaben nachgeprüft habe. (Aber das kann Jahre dauern). Ich gehe immer davon aus, dass NTs es gut mit mir meinen und mir die Wahrheit sagen.

Ich glaube ihnen nur das nicht, was offensichtlich nicht stimmen kann oder unlogisch ist.

 

 

1

Es kann nicht stimmen

 

Wenn mir zum Beispiel ein 60-jähriger erzählt, dass er die hundert Meter immer noch in unter 11 Sekunden läuft, dann kann das nicht stimmen. Das gibt die Physik des menschlichen Körpers nicht her. Was dieser Mensch sagt, stimmt also nicht mit der Realität überein. Entweder er irrt sich oder er lügt mich bewusst an (aus welchen Gründen auch immer). Ich werde ihm das nicht so sagen. Ich habe große Scheu, Menschen vor den Kopf zu stoßen. Deshalb habe ich die Sätze „Das stimmt nicht“ und „Das ist gelogen“ ersetzt durch drei Sätze, die meinen Unglauben abgestuft wiedergeben:

a)    „Das halte ich für unwahrscheinlich.“

b)    „Das halte ich für ziemlich unwahrscheinlich.“

c)    „Das halte ich für extrem unwahrscheinlich.“

Und wenn mir ein über 60-jähriger erzählt, dass er die hundert Meter immer noch in unter 11 Sekunden läuft, dann sage ich ihm eben:

„Das halte ich für extrem unwahrscheinlich.“

 

Dass jemand in seinem letzten Urlaub auf Eisbärjagd war, ist auch extrem unwahrscheinlich. Aber es kann stimmen. Und da ich so leichtgläubig bin, glaube ich ihm das erst mal. Bis zum Erweis des Gegenteils.

 

 

2

Es ist unlogisch

 

Die Logik ist unbezwingbar. Was unlogisch ist, kann nicht richtig sein - das kann so nicht sein, das kann so nicht stattgefunden haben. Wenn mir zum Beispiel jemand sagt, er habe seinen Erfolg ausschließlich seinem Fleiß zu verdanken, dann liegt das vor, was in der Logik eine „Implikation“ genannt wird. Fleiß ist (vielleicht) eine notwendige Bedingung für den Erfolg. Aber Fleiß ist keineswegs hinreichend für Erfolg. Wenn du nicht die nötigen Kenntnisse hast oder nicht über die physikalischen Voraussetzungen für den Erfolg verfügst, dann kannst du fleißig sein, wie du willst, du wirst trotzdem keinen Erfolg haben.

 

Wenn mir also jemand sagt:

„Wenn ich nicht so fleißig wäre, wäre ich nie so erfolgreich geworden“, dann weiß ich, dass diese Aussage entweder wichtige Vorbedingungen außer Acht lässt oder logisch falsch ist.

 

Solche logischen Prüfprozesse laufen bei mir ständig im Hintergrund ab, wenn ich im Gespräch bin. Und wenn etwas unlogisch ist, dann ist es nicht richtig, da kann ich so leichtgläubig sein, wie ich will.

 

 

Im Coaching-Gespräch mit diesem extrem erfolgreichen Asperger-Autisten drehte sich vieles darum, dass er seinen Vorgesetzten einfach nicht zutraut, ihn hereinzulegen oder ihn zu manipulieren.

Offenbar geht es ihm auch so wie mir: Er kann mit Menschen so viele schlechte Erfahrungen gemacht haben, wie er will. Unausrottbar ist in ihm verankert, dass Menschen einfach nicht übelwollend sein können. Alle Menschen meinen es gut mit uns und alle sagen immer die Wahrheit.

 

Ich habe keine Ahnung, wo das herkommt. Mittlerweile haben mir das schon einige Asperger-Autisten berichtet, denen es genauso geht wie mir. Erst wenn ein Mensch uns unübersehbar reinlegt oder uns fühlbar und in nachweisbarer Absicht schadet, nehmen wir das wahr. Vorher nicht. Dann kommt dieser Mensch auf die Liste derer, bei denen wir jeden Schritt argwöhnisch beäugen und hinterfragen. Aber ansonsten gilt unumstößlich: Jeder Mensch, dem wir begegnen, meint es richtig gut mit uns. Bis zum logisch unabweisbaren Erweis des Gegenteils. Und natürlich sagen uns Menschen immer die Wahrheit.

 

Ich habe mit diesem Asperger-Autisten seine berufliche Situation besprochen. Es ging um sehr viel Geld. Gemeinsam haben wir uns die Persönlichkeit seiner Vorgesetzten angeschaut. Wir haben uns gemeinsam angeschaut, was sie getan haben und was sie nicht getan haben. Ich summierte auf Nachfrage:

„Die Wahrscheinlichkeit, dass sie dich tatsächlich hereinlegen, liegt bei 50 Prozent.“

 

 

Ich habe in meinem Leben schon verflucht viele sehr negative Erfahrungen mit Menschen gemacht. Ich bin als Säugling, Kleinkind, Kind und Jugendlicher von NTs so schlecht behandelt worden, dass ich eigentlich längst tot sein müsste. Ich war meine ganze Kindheit und Jugend umgeben von Erwachsenen, die ganz viel Energie daraus zogen, wenn sie anderen schaden konnten.

Jetzt bei meiner Arbeit geht das in abgeschwächter Form weiter:

Zu meinen Kunden gehören regelmäßig Psychopathen, die häufig absolut haarsträubende Dinge tun. Ich habe mit Menschen zu tun, die Kinder missbrauchen. Frauenhändler haben meinen Weg gekreuzt und andere Schwerkriminelle. Dann sind da die ganzen Sadisten und die, die von Rachsucht oder Missgunst getrieben Unglück und Unheil verbreiten … und so weiter.

 

Solchen Menschen zu begegnen und konstruktiv damit umzugehen, gehört auch zu meiner Arbeit. Ich arbeite viel als Coach und als Berater. Ich berate und coache ohne Ansehen der Person. Wenn die Strafverfolgungsbehörden einzuschalten sind, dann tue ich das. Aber häufig erfahre ich bei meiner Arbeit von Taten, die entweder verjährt oder nicht justiziabel sind, die mir aber dennoch sehr deutlich machen, wie schwarz menschliche Seelen werden können und zu welcher Destruktivität diese Menschen dann in der Lage sind. Mir fällt dazu ein Zitat von Charles Bukowski ein, das in der deutschen Übersetzung lautet:

„Was Menschen einander antaten, war einfach nicht zu fassen.“

 

Und dennoch:

Wenn ich einem Menschen begegne, gehe ich davon aus, dass er es mit jedem gut meint und immer die Wahrheit sagt. Misstrauen gegen Menschen scheint in mir nicht zu verankern zu sein.

 

Natürlich habe ich mit der Zeit Algorithmen entwickelt, die mich zuverlässig warnen, wenn ich jemandem begegne, der mir schaden will. Solche Menschen halte ich auf Abstand und sorge dafür, dass sie mir nicht schaden können.

Aber was ist, wenn Menschen mir schaden werden, ohne das bewusst zu wollen? Viele Menschen sind derart destruktiv und manipulativ unterwegs, dass sie jeden schädigen, der sich ernsthaft auf sie einlässt. Auch hierfür habe ich Algorithmen entwickelt.

Ich kenne insgesamt 33 Manipulationstechniken und habe den Eindruck, dass ich die meisten schnell erkennen und wirksam bekämpfen kann, wenn sie gegen mich eingesetzt werden.

Aber Hochstapler, Angeber, Reinleger und Lügner kann ich nicht auf Anhieb erkennen. Immer wieder stelle ich im Nachhinein fest, dass ich naiver und leichtgläubiger war als jeder andere in meiner Umgebung. Ich kann es mir nicht erklären.

 

 

 

Mein Leben ist eine Forschungsreise. Eine autistische Forschungsreise.

Oft genug denke ich darüber nach, ob sie nicht „Gullibles Reisen“ genannt werden könnte. 

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