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Vielleicht bin ich ja gar keine Autistin

Seit einiger Zeit erlebe ich das häufiger: Asperger-Autistinnen, die eine offizielle und kompetente Diagnose bekommen haben, äußern im Gespräch mit mir Zweifel daran, ob sie überhaupt AS sind.

 

Sehr merkwürdig.

1.)   Die Diagnose ist offiziell.

2.)   Die Diagnose ist von erfahrenen und kompetenten Menschen in einem langwierigen Prozess erstellt worden.

3.)   So ziemlich alles im Alltagsverhalten dieser Frauen weist darauf hin, dass sie Autistinnen sind.

 

Aber sie haben Zweifel. „Vielleicht bin ich ja in Wirklichkeit doch neurotypisch.“ „Vielleicht bin ich ja gar nicht autistisch.“

 

Falls die Frauen das wollen, dann rattere ich im Gespräch runter, was mir an ihrem Alltagsverhalten auffällt, und was für mich darauf hindeutet, dass sie Autistinnen sind.

·         Blickverhalten

·         Einstellung zum Small-Talk

·         Konzentration auf Spezialinteressen

·         Neigung zur Selbstisolation

·         Sehr dezidiertes Sprachverhalten

·         Neigung zur sachlichen Kommunikation

·         Grundehrlich in sozialen Beziehungen bis hin zur Selbstschädigung

·         Neigung, sich sozialen Problemstellungen sachlich und lösungsorientiert zu nähern

·         Meidung unverbindlich-oberflächlicher Sozialkontakte

·         Hypersensibilitäten

·         Enormer Erholungsbedarf nach Sozialkontakten

·         Und so weiter

 

Es ist nicht meine Aufgabe, diese Frauen von irgendwas zu überzeugen. Ich bin auch nicht kompetent und erfahren im Bereich der Autismusdiagnose. Aber ich beobachte Menschen schärfer und genauer als das allgemein üblich ist. Und sowohl mein logischer als auch mein mathematischer IQ sind weit überdurchschnittlich. Also zähle ich ihnen eins und eins zusammen, wie man so schön sagt.

 

Und dann sind sie sich wieder sicher, Autistinnen zu sein.

 

Und dann höre ich mir von ihnen – Tagen oder Wochen später – wieder an:

„Vielleicht bin ich ja gar nicht autistisch.“

„Ich bin kein Autist.“

 

Ja.

Selbstverständlich.

Jemand wie du ist durch und durch neurotypisch – völlig klar (Ironie).

 

Da mich sowas interessiert, forsche ich seit einiger Zeit nach, wodurch diese permanenten Zweifel an der eigenen Identität ausgelöst werden. Dabei habe ich bis jetzt zwei Hauptpunkte identifizieren können

 

1

Unklarheit über das Konzept „Autismus“

 

Was selbst von ausgewiesenen Experten für ein Unsinn über Autisten verbreitet wird, ist manchmal einfach nur schauerlich:

·         Autisten sind krank.

·         Autisten sind behindert.

·         Autisten sind emotional verarmt.

·         Autisten haben kein Interesse an Sozialkontakten.

·         Autisten haben andere Spezialinteressen als Neurotypische.

·         Autisten kommen im Leben nicht zurecht.

·         Autisten sind in Wirklichkeit behinderte Neurotypische.

·         Autisten sind merkwürdig.

·         Autisten sind unverstehbar.

·         Autisten sind sozial inkompetente Computerfreaks.

·         Autisten sind Genies.

·         Autisten sind Sozialtrottel.

·         Autisten können keinen Kontakt mit ihrer Umwelt aufnehmen.

·         Autisten sind beziehungsunfähig.

·         Autisten hatten eine schwere Kindheit.

·         Autisten sind gefährlich – die meisten sogar potenzielle Amokläufer.

·         Und so weiter.

 

In diesem abwertenden Zerrbild finden sich die meisten Autistinnen natürlich nicht wieder. Die Autistinnen, die ich kenne, sind alle gut in ihrer sozialen Umwelt integriert. Sie fallen im Alltag nur wenig auf, sind in der Lage, ihr Leben zu meistern, haben ein reiches emotionales Innenleben … und so weiter.

 

Ich will alle Autistinnen unter meinen Leserinnen ermutigen, nicht auf den Unsinn hereinzufallen, der über sie verbreitet wird. Es reicht, wenn Neurotypische, deren intellektuelle Aufnahmekapazität sich irgendwo zwischen Talkshow und Bildzeitung bewegt, das tun. Verblüffend viele NTs beginnen Gespräche mit mir mit den Worten:

„Ich habe im Internet gelesen …“

 

Ja.

Sie haben es im Internet gelesen.

Sicher.

Dann muss es ja stimmen. (Ironie)

Im Internet steht auch, dass die Erde flach ist, dass der amerikanische Präsident ein extrem stabiles Genie ist und dass Autismus durch Impfschäden verursacht wird.

Und wenn selbst ausgewiesene Experten (Professoren, Fachärzte etc.) so wenig unterscheiden können, was

a)    uns Autisten tatsächlich ausmacht

b)    über uns seit Generationen an Schauermärchen verbreitet wird

wie sollen das irgendwelche NTs, die sich durch Fernsehen und Internet „schlau“ machen?

 

Fernsehprogramme werden fast immer durch Einschaltquoten finanziert. Also müssen Fernsehformate so konfiguriert werden, dass möglichst viele Menschen einschalten. Dadurch steigt die Gefahr, dass Autisten im Fernsehen verzerrt dargestellt werden, ganz erheblich. Ein Bericht über einen langweiligen und durchschnittlichen Autisten generiert keine Einschaltquoten. Aber die meisten von uns führen ein -von außen betrachtet eher langweiliges und durchschnittliches Leben. Unser Leben findet zu einem großen Teil – für die meisten anderen unsichtbar – in unserem Inneren statt.

 

Und im Internet kann sowieso jeder posten, was er will.

 

Meiner AS-Tochter (die mittlerweile auch keine Autistin mehr ist), habe ich mal gesagt:

„Leg eine Tabelle an: Links schreibst du alles auf, was dafür spricht, dass du Autistin bist. Und rechts schreibst du alles auf, was dagegen spricht. Und dann ziehst du deine Schlüsse.“

 

Vielleicht ist das eine Möglichkeit für manche meiner Leserinnen:

Eine Tabelle anlegen, in der aufgelistet ist, was dafür und was dagegen spricht, dass sie AS sind. Mit der Zeit wird so eine Liste sicher recht umfassend werden. Und immer, wenn sie im Zweifel sind, ob sie AS sind, können sie diese Liste ja zu Rate ziehen.

 

 

2

Das soziale Image von Autisten ist katastrophal

 

Jeder Frau, die mir sagt, dass sie ihre Autismus-Diagnose bekommen hat, gratuliere ich dazu. Meistens sehe ich dann in ein fragendes Gesicht. Denn Autismus ist im allgemeinen nichts, wozu man gratuliert, sondern was man verschämt verschweigt.

„Ja“, erkläre ich dann, „du hast jetzt die Lizenz zum klaren Denken.“

Denn für mich ist das einer der Kernpunkte des Autismus: Wir können Soziales und Sachliches besser voneinander unterscheiden und trennen als NTs. Unser Denken ist weit weniger als ihres mit sozialen Bedürfnissen kontaminiert.

 

Aber im sozialen Bild der NT-Gemeinschaft ist es immer noch so, dass ein Asperger-Autist behindert ist. Das Märchen, dass ein Asperger-Autist ein behinderter Neurotypischer ist, scheint unausrottbar.

 

Einschub

Weil das so wichtig ist, an dieser Stelle nochmal:

Ein Asperger-Autist ist ein ganz normaler und gesunder Asperger-Autist und nicht etwa ein behinderter NT. Ein Kaninchen ist ja auch kein behinderter Hase.

Einschub Ende

 

„Nein“, sage ich dann diesen Frauen, „du bist nicht behindert, du wirst behindert.“

Und das ist ein Riesenunterschied.

Natürlich gibt es AS, die behindert sind. So wie es Neurotypische gibt, die behindert sind. Das eine hat nach allem, was ich sehen kann, wenig mit dem anderen zu tun.

Wer NT ist, ist nicht automatisch behindert.

Wer AS ist, ist nicht automatisch behindert.

 

Aber ich glaube, dass die wenigsten Menschen sozial damit punkten können, AS zu sein.

„Du übrigens, ich bin Autist“ – das bringt von den NTs wenig soziale Anerkennung ein.

 

Das kann ich leider nicht ändern.

Es wird aber nicht dadurch besser, dass AS versuchen, ihren Autismus zu leugnen und ihren Avatar nicht nur zu leben, sondern auch dieser Avatar zu sein. Jeder AS, den ich kenne, hat Schwierigkeiten zu unterscheiden, was er selbst ist und was sein Avatar ist, den er entwickelt hat, um in einer NT-Umgebung überleben zu können. Und natürlich ist es für die meisten von uns wichtig, diesen Avatar laufend zu verbessern.

 

Aber es ist ein Unterschied, ob ich versuche, diesen Avatar zu verbessern oder dieser Avatar zu sein.

AS, die versuchen, ihr Avatar zu sein, steigern dadurch dramatisch die Wahrscheinlichkeit

a)    depressiv zu werden

b)    körperlich schwer zu erkranken

c)    weit vor ihrer Zeit zu sterben.

 

Wir Autisten kriegen mächtig Gegenwind von den NTs. Und die NTs stellen so ziemlich überall die Mehrheit. Beinahe überall und beinahe laufend müssen wir uns verteidigen, uns rechtfertigen, uns schützen oder gegen uns gerichtete Vorurteile bekämpfen. Ich weiß das. Beinahe nichts, was uns ausmacht oder für unser Wohlbefinden wichtig ist, darf einfach so sein. Wir müssen es uns laufend erneut erkämpfen und dann verteidigen. Ich weiß das.

 

Aber wenn wir das aufgeben, was unsere Identität ausmacht – unseren Autismus – dann wird es auch nicht besser.

Ich habe nach meiner Diagnose lange Zeit damit zugebracht, für mich herauszuarbeiten, was von meiner Persönlichkeit autistisch ist und was nicht. Oder auf eine simple Formel gebracht:

 

Was bleibt von meiner Persönlichkeit übrig, wenn man den Autismus abzieht?

 

Was mich betrifft, ist die Antwort vergleichsweise simpel:

Ungefähr fünf Prozent meiner Persönlichkeit bleiben dann übrig.

Und bei aller Liebe – ich will nicht mit fünf Prozent meiner Persönlichkeit weiterleben (und den Rest von mir verleugnen oder abtöten), nur weil ich dann den NTs besser gefalle.

 

Wenn ich es den NTs recht machen will, dann werde ich daran zugrunde gehen.

Damit muss ich leben.

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