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Die Ratschläger 03 – Lebe deinen Traum!

Ja.

Träume nicht dein Leben, sondern lebe deinen Traum.

Ich weiß nicht, wie oft ich diesen Quatsch schon gehört und gelesen habe. Ich kann mich noch gut erinnern, wie ich bei uns im Konzern mal in der Kantine saß und zwei Kollegen in einiger Entfernung ihre Version von Tiefsinn besprachen. Sie taten das in ziemlicher Lautstärke. Und dabei fiel dieser ominöse Satz:

„Träume nicht dein Leben, sondern lebe deinen Traum.“

Aus der Art, wie der Sprecher bei diesen Worten atmete, schloss ich, dass er das gesagt hatte, um alle in Hörweite mit seinem Tiefsinn zu beeindrucken.

 

Und ich dachte nur:

„Aus dem Poesiealbum der Teilzeiterleuchteten.“

Und meine Kleinen, die so gerne den Harlekin geben, machten daraus flugs:

„Säume nicht beim Nähen, sondern nähe deinen Saum.“

 

Träume nicht dein Leben, sondern lebe deinen Traum. Manchmal ist es nur ein kleiner Schritt vom Tiefsinn zum Quatschsinn. Und manchmal stehen die Tiefsinnigen schon mitten drin im Quatsch, ohne das zu bemerken.

 

Was ist an diesem Satz so furchtbar, dass ich ihn hier bespreche?

Was ist das destruktive Potenzial?

 

Das hat für mich zwei Seiten

 

 

 

1

Die ethische Komponente – wo führt dieser Traum eigentlich hin, wenn er gelebt wird?

 

Man kann über die Jahrhundertverbrecher des 20. Jahrhunderts alles mögliche sagen. Aber nicht, dass sie nicht ihre Träume gelebt hätten. Sie haben ihre Träume gelebt – und wie!

Hitler, Himmler, Pol Pot, Mao, Stalin … sie alle waren beseelt von einem Traum. Und den haben sie gelebt. Das hat Millionen von Menschenleben gekostet.

Klasse, nicht? Dem kann man doch nur nacheifern, oder? (Ironie)

Der eine träumt vom germanischen Weltreich, der nächste vom Steinzeitkommunismus und wieder der nächste vom Sieg der Arbeiterklasse – und dann geht’s rund. Das kostet Millionen von Menschenleben – aber egal, Hauptsache, man lebt seinen Traum! (Ironie)

 

Nein, Leute.

Schon allein dadurch sollte sich dieser Unsinn, dass man seinen Traum leben sollte, eigentlich schon erledigt haben.

Hat er aber nicht.

Denn „Träume nicht dein Leben, sondern lebe deinen Traum“ ist einer von diesen Ratschlägen, die das klare Denken einlullen sollen. Und wenn das klare Denken sich erst mal verabschiedet hat, dann kann auch der schlimmste Stuss auf einmal völlig sinnvoll klingen. Der Schlaf der Vernunft gebiert Monster.

 

Also – was immer du auch tust mit deinen Träumen: Wenn ihre Realisierung gravierend unethische Folgen hätte, dann ist es wesentlich besser, wenn du weiter träumst. Das ist für dich besser und für alle anderen.

 

 

2

Traum und Wirklichkeit – wo kommt dieser Traum eigentlich her?

 

Ganz ernsthaft – kannst du das beantworten?

Aus welchen Schichten von dir stammt dein Traum? Wie alt warst du damals? In welcher Situation ist er entstanden? In welcher Umwelt hast du damals gelebt? Welchen Drücken bist du damals ausgesetzt gewesen und wie hast du dich dabei gefühlt?

 

Das meiste, wovon wir „träumen“ kommt aus einer Zeit, in der wir kleine Kinder waren. Dagegen ist nichts zu sagen. Aber kleine Kinder haben eine sehr eingeschränkte Sicht auf die Dinge. Ihr Erfahrungshintergrund ist sehr begrenzt, ihre Problemlösekapazität auch.

 

In unseren Kindersehnsüchten steckt unsere meiste Energie, unsere meiste Vitalität, unsere meiste Kreativität. Sie sind unser Kraftzentrum. Sie sind unser ständiger Antrieb. Aber wenn du deine Kinderträume einfach so realisieren willst, dann brauchst du eine Kinderwelt. Und wenn du versuchst, deinen Traum zu leben, wirst du nicht umhin kommen, aus der Welt, die du vorfindest, dein privates Disneyland zu machen – deine eigene Scheinwelt. Michael Jackson hat mit seiner Neverland-Ranch vorgemacht, wie’s geht. Aber wer derart hartnäckig seine Kinderillusionen verfolgen will, kann das auch mit bedeutend weniger Geld tun. Man muss nicht Millionär sein, um sich beharrlich zu weigern, erwachsen zu werden.

 

„Lebe deinen Traum“ ist für die, die nicht aufwachen wollen.

Das ist für die, die nicht erwachsen werden wollen.

Nach meiner Erfahrung gibt es deutlich bessere Alternativen.

 

 

Die besseren Alternativen

 

Wie gehe ich mit meinen Träumen um? Welche Alternativen kann ich denen bieten, die bislang dachten, es sei völlig in Ordnung, seine Träume zu leben?

Ich habe keine Alternativen, die ich bieten kann. Seine Alternativen muss jeder für sich selber finden. Ich kann hier nur schildern, was ich beobachte und was ich daraus schließe.

 

1

Weit über 90% der Menschen, denen ich begegne, scheinen (zumindest zum großen Teil ihrer wachen Zeit) in einer Welt zu leben, deren Realität längst untergegangen ist. Wieder und wieder und immer wieder agieren sie nicht in der Realität, sondern in einer Wirklichkeit, die nur noch zwischen ihren Ohren existiert.

Sie kämpfen mit den immer selben Themen.

Sie haben dabei die immer selben Gefühle.

Sie haben dabei immer dieselben Gedanken.

Sie zeigen dabei fast immer dasselbe Verhalten.

Sie kommen jedes Mal zu praktisch identischen Ergebnissen.

Wieder und wieder und wieder und immer wieder. Das ist ein „Leben“ in einer Endlosschleife. Ihr „Leben“ ist ein Labyrinth, aus dem es kein Entkommen gibt. So kann man sich auch beschäftigen. Aber das ist nicht das, was ich darunter verstehe, wenn ich sage: „Ich lebe.“

 

Menschen, die auf diese Weise ihre Zeit verbringen, leben nicht in der Realität, sondern agieren wie auf einer Theaterbühne, auf der sie laufend ein bis maximal drei Stücke inszenieren.

Diese Stücke haben klingende Namen:

„Mein Mann versteht mich nicht!“

„Es ist alles so schrecklich!“

„Ich bin erfolgreicher als alle anderen, obwohl meine Eltern nie an mich geglaubt haben!“

„Ich bin schon ein arger Tunichtgut“

„Wie kann ich bloß meine Schwiegereltern überleben?“

„Ich bin von Idioten umgeben!“

„Wir sind eine wahrhaft glückliche Familie.“

„Wenn ich hier nicht auf alles aufpasse, dann macht jeder was er will, und alles versinkt im Chaos!“

„Ich bin so ein guter Mensch.“

„Mir gelingt aber auch gar nichts!“

„Man kann den Menschen einfach nicht trauen!“

„Wenn ich hier nicht alles selber mache und mich um alles selber kümmere …“

Und so weiter.

 

Manche Stücke dauern wenige Minuten, andere Tage und Wochen. Irgendwann sind sie vorbei, und dann fängt alles wieder von vorne an. – Dieselben Themen, dieselben Sprüche, dieselben Gefühle, dasselbe Verhalten, dieselben Ergebnisse etc.

 

Diesen Menschen sage ich:

Hör auf zu träumen, wach‘ auf.

Das sage ich ihnen maximal zweimal. Dann gehe ich woanders hin und beschäftige mich mit was anderem. Jeder darf sein Leben verträumen. Falls er dabei ethisch über die Stränge schlägt, gibt es Strafverfolgungsbehörden, die sich seiner annehmen. Das ist alles geregelt.

 

 

2

Jetzt nehmen wir mal an, du hast dich entschieden, in der Realität zu leben und nicht in der Wirklichkeit, die nur noch in dir existiert, was dann? Was wird dann aus deinen Träumen?

 

Wenn du real bist, dann bietet dir die Welt eine überwältigende Fülle an Möglichkeiten. Du hast es jetzt gar nicht mehr nötig, deinen Traum zu leben, weil du ja aufgewacht bist. Die Fülle, die dir die Realität bietet, übertrifft jeden Traum bei weitem. Viel mehr als „lebe deinen Traum“ gilt hier: „Lebe wache Bewusstheit“:Sei dir bewusst, wer du bist, was du willst, wo du bist und wie die Welt um dich herum gerade ist. Sei dir bewusst, was du tatsächlich fühlst und denkst und lebe in der Realität.

 

So einfach sich das auch anhört – nach meiner Erfahrung gehört das zum Schwierigsten, was es überhaupt gibt.

(Ein Lackmus-Test für alle, die überlegen, ob sie aufwachen bzw. wacher werden wollen: Jeder, der dir sagt, dass das alles ganz einfach ist und in kürzester Zeit und vor allem ohne jede Mühe und ohne jedes Leid bewerkstelligt werden kann, der will dich betrügen oder hat keine Ahnung, wovon er da gerade spricht.

Oder anders ausgedrückt:

In der Realität zu leben ist tatsächlich ganz einfach. Aber es ist alles andere als leicht).

 

 

Lebe deinen Traum ist für die, die nicht aufwachen wollen.

Nach meiner Erfahrung gibt es deutlich bessere Alternativen.

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