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Bin im Gefecht

Immer wieder bin ich erstaunt, dass ich selbst den NTs, die sich für AS interessieren, klar machen muss, dass es für mich beinahe immer Arbeit und Anstrengung bedeutet, wenn ich im Gespräch mit einem NT bin.

 

Also – nochmal und in Zeitlupe:

Mich mit einem NT zu unterhalten bedeutet für mich fast immer:

  • Arbeit (das ist also keine Freizeit und keine Pause für mich)
  • Unangenehmer Energieeinsatz (das ist also keine Erholung für mich)
  • Erhöhte Wachsamkeit (Stress)

Ja, ich rede oft und viel mit NTs. Aber das tue ich nicht, um mich zu entspannen oder meine Freizeit zu gestalten. Im Gegenteil: Will ich mich entspannen oder meine Freizeit gestalten, meide ich NTs, wo ich nur kann. Dass ich so oft und so viel mit NTs spreche, liegt daran, dass sie nun mal mein ältestes Spezialinteresse sind. Ich will alles über sie erfahren. Aber das kann ich meistens nur im Gespräch. Das ist aber so, als ob Bombenentschärfen mein ältestes Spezialinteresse wäre: Dann müsste ich immer sehr aufmerksam und wachsam sein. Denn sonst fliegt mir so eine Bombe beim Entschärfen um die Ohren.

 

Ein NT-Kollege, den ich sehr schätze, hat mir in dieser Sache aus seiner Bundeswehrzeit einen Tipp mitgeben können:

„Die Handgranate wegwerfen, wenn sie anfängt, dick und rissig zu werden.“

Na, ausgezeichnet – aber was mache ich mit einem NT, der allmählich „dick und rissig“ wird?

Denn das ist für mich die Hauptschwierigkeit in so einem Gespräch:

Wie kriege ich einen NT, den ich zum Reden gebracht habe, wieder zum Schweigen?

 

Meistens will ich nur ein oder zwei Informationen von diesem NT haben. Knapp und präzise. Aber die allermeisten NTs sind derart glücklich, dass sich da tatsächlich mal jemand für sie interessiert und ihnen aufmerksam zuhört, dass sie mit dem Reden gar nicht mehr aufhören können. Da kann jedes Gespräch mit einem NT ganz schnell in einen regelrechten Dammbruch ausarten. Und das kann mir durchaus Probleme bereiten.

 

Was für Probleme bereitet es mir, wenn ein NT, mit dem ich spreche, ganz viel redet?

(Und welcher NT tut das nicht, wenn er das Gefühl hat, dass ihm tatsächlich aufmerksam und geduldig zugehört wird? Schweigsame NTs gibt es in meiner Welt tatsächlich nicht!)

 

Solange der andere redet, kann ich keinen klaren Gedanken fassen. Ich muss also all das, was er sagt, irgendwo im Zwischenspeicher lagern, bis er wieder still ist und ich über das, was er gesagt hat, nachdenken kann. Und meine Güte - können diese NTs redselig sein! So einen großen Zwischenspeicher kann ich gar nicht haben, dass ich das alles abspeichern könnte! Also muss ich anfangen, Information zu verdichten:

„Jetzt erzählt er vom Urlaub - das ist gerade ein irrelevantes Thema, das können wir löschen. Wir müssen uns nur merken, dass er vom Urlaub erzählt hat.“

„Jetzt erzählt er gerade zum dritten Mal dasselbe von seiner Oma, hier brauchen wir uns nur die Zahl 3 zu merken.“

Und so weiter.

 

Schon anstrengend sowas.

 

Wenn ich mit NTs rede, will ich Information von ihnen. Wenn sie reden, wollen sie ganz oft nicht Informationen weitergeben, sondern sozialen oder emotionalen Austausch haben. Mit diesem Austausch kann ich aber meistens nichts anfangen. Wie trenne ich also Informationen von diesem emotional-sozialen Sprühnebel, den sie von sich geben?

 

Autistischer Feldforscher bei NTs in der freien Wildbahn zu sein hat es also durchaus in sich. Denn es bleibt ja nicht dabei, dass ich das, was die NTs sagen, dauernd analysieren und filtern muss. Nein, sie wollen ja auch was von mir. Sie verlangen oft auch, dass ich mich sozial und emotional zu dem äußere, was sie mir da erzählen. Aber wie um alles in der Welt soll ich das machen, wenn ich gerade im Informationsaustauschmodus bin? Wenn ich auf der Suche nach Informationen bin, dann bin ich nicht sozial oder emotional. Dann bin ich Wissenschaftler. Dann will ich was wissen.

 

Und ihr alle wisst, wie die NTs reagieren, wenn sie sich sozial oder emotional nicht akzeptiert fühlen. Eher kannst du von der Marmorstatue einer Kuh Milch bekommen als von so einem NT brauchbare Informationen.

(Und nicht vergessen: Der durchschnittliche NT ist sozial und emotional immer bedürftig).

 

In all den Jahren, in denen ich nun weiß, dass ich Autist bin und mich hin und wieder einem NT gegenüber als Autist oute, habe ich es bislang nur 1 Mal (in Worten: ein einziges Mal) erlebt, dass ein NT sich ernsthaft bemüht, seine Welt zu verlassen und in meine zu wechseln. Nur ein einziges Mal. (Und nein, dieser Mensch ist nicht die Frau, mit der ich de jure verheiratet bin).

Alle anderen NTs (auch wenn sie Experten für Autismus sind), nehmen die Information, dass ich Autist bin, kopfnickend aber ungerührt zur Kenntnis und machen mit ihrem Verhalten genauso weiter wie zuvor auch.

Für diese Menschen sieht Inklusion also so aus:

„Bemühe dich nur weiterhin, ein NT zu sein. Ich werde dir geduldig und freundlich dabei zuschauen. Manchmal gebe ich dir auch nützliche Tipps.“

 

Ich kann mich gut erinnern, wie ich diesen NT, der sich bemüht, in meine Welt zu wechseln, im Gespräch immer wieder stoppte:

„Wenn ich einen Satz sage, dann sagst du zehn.“ (Ich hatte – wie üblich – mitgezählt).

Auch ihm fällt es immer wieder verflucht schwer, mir Informationen zu geben, wenn ich ihn darum gebeten habe, und diese Informationen nicht mit einem emotional-sozialen Sprühnebel zu versehen.

 

Für mich als Autisten ist das ganz einfach:

„Gib mir die Information, um die ich dich bat (und sonst nichts) und sei dann wieder still.“

Für NTs ist das nur sehr, sehr schwer umzusetzen. Das habe ich von diesem NT, der immer wieder in meine Welt wechseln will, mittlerweile gelernt. Das – und noch sehr viel mehr.

 

Es ist also meine Aufgabe als Autist, der als Feldforscher unter den NTs unterwegs ist, die NTs nicht zu überfordern. Das, was für mich ganz leicht ist, fällt ihnen oft sehr, sehr schwer. Und dennoch:

Wenn ich auf Tagungen bin (permanent umgeben von lauter wild durcheinander kommunizierenden NTs) und dann sehe, dass die Frau, mit der ich de jure verheiratet bin, versucht hat, mich telefonisch zu erreichen, ist es sehr wahrscheinlich, dass sie diese SMS von mir bekommt:

 

„Bin im Gefecht. Was willst du?“

 

Es ist für mich beinahe immer Arbeit und Anstrengung, mich mit der Frau, mit der ich de jure verheiratet bin, zu unterhalten.

 

Wenn ich mich mit NTs unterhalte, dann bin ich im Gefecht.

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