Irgendwas geht immer

*** Immer wieder bin ich in Sorge, mit Texten wie diesen zu langweilen. Aber das hier bin ich. Das ist meine Art, in der Welt zu sein. Und ich zwinge niemanden, das zu lesen. ***

 

1

Berlin. Kongresszentrum. Eine der nobelsten Adressen des internationalen Business auf deutschem Boden. Hier trifft sich die Noblesse des Managertums, hier feiert man das Hochamt der Konjunktur und des Fortschritts. Hier ist man strategisch, hier ist man polyglott. Hier trägt man feinstes Tuch, feinste Manieren und feinste Zukunftsaussichten zur Schau. Und ich mitten drin! Im maßgeschneiderten Dreiteiler – Schlips, Kragen, nobles Schuhwerk … selbstverständlich. Ich tu‘ einfach so, als würde ich dazugehören. Ich haste durch die heiligen Hallen, denn ich habe vier strategische Workshops gleichzeitig zu managen. Sind meine Leute auf ihrem Posten und gebrieft? Ist alles Material da? Hat jeder seine Agenda? Wissen alle Teilnehmer, in welche Räume sie müssen? Wo sind die auftraggebenden Geschäftsführer geblieben? …

 

Einen strategischen Workshop auf der Managementebene zu leiten, ist schon eine Aufgabe für sich. Aber gleich vier auf einmal? Ich bin gestresst, ich habe es eilig, ich komme voran. Auf meine Tatkraft und mein Improvisationsvermögen kann ich mich immer verlassen. Und jeder andere kann das auch.

 

Ich eile durch die breiten Flure und wühle mich durch die Teilnehmer einer anderen Tagung: Eine sehr bekannte Automarke. Management und Spitzenmanagement auch hier. Eine junge Managerin fällt mir auf. Sie steht ein wenig am Rand der Gruppe und wirkt verzweifelt. Drei Kinder sind um sie herum. Die wirken hier völlig deplatziert. So fühlen sie sich offenbar auch. Für die Kinder ist diese Frau augenscheinlich ihre Mutter. Für die Spitzenmanager, die jetzt auf sie zukommen, ist sie offenbar eine vielversprechende Nachwuchskraft, die sich hier beweisen kann. Hier wird ihr Stern aufgehen oder für immer sinken.

 

Ich nehme das alles aus den Augenwinkeln wahr. Die Frau wirkt in ihrer Mutterrolle sehr sympathisch auf mich. Sie scheint emotional sehr bei ihren Kindern zu sein. Sie schaut sich suchend um. Offenbar sollte sich jemand ihrer Kinder annehmen, der jetzt aber einfach nicht auftaucht. Ich schätze die Kinder auf acht, sechs und vier Jahre. Ich eile weiter.

 

Zehn Minuten später komme ich wieder im Eilschritt an dieser Stelle vorbei. Die Kinder stehen, wo sie standen und sehen verloren aus. Alle anderen Erwachsenen sind im großen Tagungsraum verschwunden. Die Mutter kommt aus einer der Türen und sagt dem Ältesten hastig etwas ins Ohr. Das Kind nickt ergeben und gibt seinen beiden jüngeren Geschwistern Bericht. Die Mutter hastet auf ihren Stöckelschuhen wieder zurück in den Tagungsraum. In Kongresszentren wie diesen scheint es immer jeder eilig zu haben.

 

Meine Workshops laufen. Ich schaue in einem kurz vorbei und überzeuge mich, dass die Manager meine beiden Moderatoren am Leben lassen und sich alle an die Agenda halten. Dann steht in der Lobby ein Gespräch mit den auftraggebenden Geschäftsführern an. Eine uniformierte Servicekraft des Kongresszentrums tritt auf uns zu. Ob wir noch etwas wünschen?

„Ja“, antworte ich ihr, „noch ein Blatt Pinwandpapier“

Pinwandpapier ist braunes Packpapier im Zuschnitt von knapp zwei Quadratmetern. Damit bespannt man Pinwände, die man in Workshops benutzt – für Kartenabfragen und dergleichen.

„Gerne“, sagt die Servicekraft. „In welchen Raum wollen Sie’s denn haben?“

„Hierhin“, antworte ich ihr und strecke ihr meine Hände entgegen. „In meine Hände.“

„Kommt sofort.“

Sie eilt davon.

Die Geschäftsführer sehen mich etwas erstaunt an, aber sie kennen meinen Ruf als Spinner und sagen nichts. Das Papier kommt und kurz darauf ist die Besprechung zu Ende. Ich eile zu meinem Moderatorenkoffer und greife mir einen Haufen Filzschreiber - hochprofessionelles Zeug: Neuland Nummer 1 - die besten Stifte, die es auf dem Markt gibt. Schwarz, rot, grün und blau.

 

Mit den Stiften und dem riesigen Bogen Papier komme ich in den riesigen Vorraum vor dem riesigen Kongressaal, wo die Automanager tagen. Die drei Kinder haben inzwischen die Limonadenflaschen, die Kekse und das Obst gefunden. Aber besonders glücklich wirken sie nicht. Die Mutter schlüpft aus dem Kongressaal, spricht kurz mit ihnen und eilt wieder zurück.

 

Als ich mich den Kindern nähere, verlangsame ich meinen Schritt. Ich will nicht, dass sie vor mir erschrecken. Sie schauen mich skeptisch an.

„Habt ihr schon mal ein richtig großes Bild gemalt?“ frage ich sie.

Sie gucken nur verängstigt und sagen nichts.

„So ein richtig großes?“ frage ich weiter.

Sie gucken mich schweigend an.

Ich breite den Bogen Pinwandpapier vor ihnen auf dem Teppich aus und knie mich vor das Papier.

„Kommt mal her“, sage ich ihnen.

Sie kommen her.

Am Rand des Papiers bleiben sie neugierig stehen.

„Hier“, sage ich ihnen und halte ihnen meine beiden Hände voll Stifte hin. „Das sind richtig große Stifte für richtig großes Papier.“ Ich zeige auf das Papier am Boden.

„Was haltet ihr davon, wenn ihr euch auf das Papier setzt und mal ein richtig großes Bild malt?“

Die Kinder nehmen mir zögernd die Stifte aus der Hand und betreten zögernd das Papier. Keine Minute später sitzen sie auf dem Papier und malen eifrig drauflos.

„Ich muss wieder los“, sage ich ihnen und stehe auf. „Ich schaue später nochmal vorbei.“

Das älteste Kind ist das einzige von den dreien, das das hört. Die beiden anderen sind bereits im Malen versunken.

 

Die erste Runde Workshops ist beendet. Kurze Pause. Die Teilnehmer müssen jetzt die Räume wechseln und die Agendas müssen an die ersten Ergebnisse angepasst werden. Intensiv und knapp bespreche ich mich mit meinen Leuten und gebe die notwendigen Anweisungen. Wo sind die Geschäftsführer nur wieder geblieben?

 

Als ich zum großen Kongressaal komme, haben die Automanager gerade Pause. Am Rand einer großen Traube von Managern, die sich alle angeregt unterhalten, finde ich die drei Kinder auf ihrem Riesenblatt Papier. Sie malen immer noch. Die Mutter steht neben ihnen. Sie sieht ein wenig erschöpft aber trotzdem recht glücklich aus. Anscheinend ist es im Saal gut für sie gelaufen und ganz offenbar ist sie total erleichtert, dass sich jemand ihrer Kinder angenommen hat.

„Waren Sie das?“ fragt sie direkt los, als ich mich nähere.

Ich nicke.

„Wie geht es Ihren Kindern?“ will ich wissen. Aber denen geht es sichtlich gut. Sie malen.

„Ich bin Ihnen ja so dankbar!“

Wir lächeln uns beide an. Kinder sind das Größte. Geht es ihnen gut, dann geht es allen gut.

„Ich muss wieder los“, sage ich der Mutter. „Wenn die Kinder wollen, können sie das Papier mitnehmen. Und jeder einen Stift. Die restlichen Stifte legen Sie bitte hier auf den Tisch.“

Ich klopfe mit der flachen Hand auf einen der Tische, auf dem sich jetzt die leeren Kaffeetassen drängen. Und dann sause wieder ich davon.

 

Als ich eine Stunde später wiederkomme, sind die Kinder und ihr Papier verschwunden. Die Stifte liegen auf einem leeren und sauberen Tisch.

 

2

Universität Erfurt. Sammelstelle hoffnungsvoller zukünftiger Geistesriesen. Ich soll im größten Hörsaal einen Vortrag halten. Die Vorbereitungen laufen. Der Saal füllt sich allmählich. Das wird alles sehr souverän von der Frau organisiert und geleitet, die ich nur „meine Managerin“ nenne. Sie organisiert und plant das alles und sorgt dafür, dass alles da ist und ich mich voll auf meinen Vortrag konzentrieren kann. Jetzt ist sie im intensiven Gespräch mit einer Frau, die ganz offensichtlich zur Universität gehört. Ich schätze sie als Nachwuchswissenschaftlerin ein. Postdoc oder sowas. Neben ihr steht und zappelt ein ungefähr zehnjähriger Junge. Ich halte ihn für ihren Sohn. Der Sohn langeweilt sich offenbar fürchterlich. Aber die Mutter hat hier alle Hände voll zu tun. Ganz offensichtlich ist der Sohn der Meinung, dass die Erwachsenen nur blödes und langweiliges Zeug erzählen und dass er überhaupt nicht zu seinem Recht kommt. Ganz offensichtlich weiß die Mutter das und gibt ihm auch Recht. Aber das hier scheint sehr wichtig für ihre berufliche Karriere zu sein. Sie versucht verzweifelt den Spagat zwischen Mutter und Wissenschaftlerin. Aber irgendwie haut das nicht hin. Der Sohn fängt an, gelangweilt und totunglücklich im Hörsaal auf und ab zu tigern. Ihm geht es wirklich nicht gut. Ich habe gerade meinen Rucksack neben dem Mikrofonpult drapiert und packe mein Zeug aus.

„Komm mal her“, sage ich dem Jungen, als er gelangweilt und unglücklich an mir vorbeischlurft. Er schaut müde auf: Noch so ein langweiliger Erwachsener!

Aber er bleibt stehen: Hände in den Hosentaschen, die reine Skepsis.

Ich packe meinen Laserpointer aus.

„Hast du schon mal einen echten Laser in der Hand gehabt?“

Er traut seinen Ohren kaum und kommt näher.

Ich lege die Batterien in den Laserpointer ein und kontrolliere seine Funktionen. Der Junge schaut zu.

„Hier“, sage ich ihm und halte ihm den Laserpointer hin. „Wenn du hier drauf drückst, dann kommt da ein Laserstrahl raus. Siehst du den Punkt da auf der anderen Wand?“

Der Junge schaut quer durch den riesigen Hörsaal und sieht, wie ich den Laserpunkt auf der Wand tanzen lasse. Er bekommt ganz große Augen.

„Das ist ein Laserstrahl“, sage ich ihm. „Der ist so stark, dass du damit sogar den Mond erreichen kannst. Nur könntest du ihn nicht sehen, weil er so klein ist.“

„Cooool!“ Der Junge greift mit einer Mischung aus Vorsicht und Begeisterung nach dem Laserpointer. Ich weise ihn in die Bedienung ein und schärfe ihm ein, ja niemandem damit in die Augen zu leuchten. Er hört, wie streng meine Stimme dabei ist, und ich sehe an seiner Körperspannung, dass er dieser Anweisung Folge leisten wird.

„Cooool!“ ruft er erneut.

Er schnappt sich den Laserpointer und läuft damit aufgeregt zu seiner Mutter. Die hört erst ihm aufmerksam zu und schaut dann verblüfft rüber zu mir. Ich kenne diesen Blick. Ich kenne diese Dankbarkeit. Und ich weiß, mit welcher Begeisterung dieser Junge in der der nächsten halben Stunde beschäftigt sein wird. Einmal kommt er noch kurz bei mir vorbei:

„Und wie schneidet man jetzt damit?“ will er wissen.

„Du, das ist ein nichtmilitärischer Laser. Mit dem kann man nicht schneiden. Das wäre wirklich viel zu gefährlich“, ich weise auf all die Leute, die jetzt schon im Hörsaal sind.

Der Junge nickt. Das kann er gut verstehen. Und dann saust er wieder davon und lasert in der Gegend rum: Eine Mischung aus Sternenkrieger und Samurai.

 

 

In meiner Welt sind Kinder das Größte. Und sie sind so ziemlich das einzige, was mich wirklich interessiert – die Kinder in den Erwachsenen und die Kinder, die tatsächlich noch Kinder sind. Sehr oft kann ich unglücklichen Kindern nicht helfen – in Fußgängerzonen, in Einkaufszentren, in Schwimmbädern, in Kinderwagen …

 

Aber ich habe die Erfahrung gemacht, dass sich in Kongresszentren und in Universitäten beinahe immer was finden lässt. Ich habe Kinder in Universitäten schon mit viel bunter Kreide ganze Tafeln bemalen lassen (und die Mama sollte das dann unbedingt mit dem Handy fotografieren!), ich habe sie mit Schwämmen ausgestattet, mit der sie in der Gegend rumschmeißen konnten (ohne dass jemand geschädigt wurde, natürlich). Ich habe auf Parkplätzen vor Hotels schon Türme aus Kastanien mit ihnen gebaut oder an der Rezeption kleine Spielfiguren für sie organisiert.

 

Wenn Kinder unglücklich sind, dann sind sie immer in meinem Herzen. Und wenn es in dieser Absolutheit auch sicher übertrieben ist, in der Tendenz stimmt es:

 

Irgendwas geht immer.

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Kommentare: 3
  • #1

    Kikkulade (Sonntag, 10 März 2019 14:31)

    *Immer wieder bin ich in Sorge, mit Texten wie diesen zu langweilen*

    Ich habe Rotz und Wasser beim Lesen Deines Textes geweint.
    Danke von meinen inneren Kleinen an Dich.
    Hör nie auf damit, denn -genau- 'irgendwas geht immer', dank einem Menschen wie Dir <3

  • #2

    Stiller (Sonntag, 10 März 2019 23:30)

    Ich bin berührt.
    Danke.

  • #3

    Hanspeter Fischer (Montag, 22 März 2021 19:41)

    Herrlich