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Letzte Reise – letzte Chance

Es ist ungefähr zwei Jahre her: Die Frau, mit der ich de jure verheiratet bin und ich – wir beschlossen, ihre Stiefmutter bei uns aufzunehmen. Die Stiefmutter zeigte immer stärkere Anzeichen einer Demenzerkrankung. Sie war wirklich nicht mehr in der Lage, alleine in ihrer Wohnung zu leben.

 

So lösten wir in Windeseile die Wohnung der Stiefmutter auf und verfrachteten sie hierher – viele hundert Kilometer. Wir quartierten sie in dem Zimmer ein, in dem unsere ältere Tochter gelebt hatte, bevor sie ausgezogen war. Das tat mir zwar schrecklich leid für meine Tochter, die hin und wieder mal zu Besuch kam und dann in ihrem alten Zimmer schlief. Aber das hier war ein Notfall. Ich sagte ihr:

„Das tut man nicht, dass man alte Leute auf die Straße wirft oder ins Heim steckt, nur, weil sie tüttelig werden und nicht mehr alleine leben können. Das ist gegen die Menschenwürde.“

 

Ich war mir sicher, dass wir auf Dauer irgendeine Lösung finden würden, die allen Beteiligten gerecht werden würde. Aber jetzt richteten wir der Stiefmutter dieses kleine Zimmer ein, kauften ein neues Bett, das wir dort aufbauten, und wir verfrachteten ihren Krempel in die Schränke und Schubladen.

 

Da war sie nun, die demenzkranke Stiefmutter – unglücklich, desorientiert, entwurzelt, völlig fremd. Die Frau, mit der ich de jure verheiratet bin, gab ihren Job auf, um die Stiefmutter betreuen zu können. Es gab Unmengen an Details mit Behörden und Organisationen zu regeln, und in den letzten Jahren hatte die Stiefmutter offenbar so ziemlich jedem Vertriebsmenschen eine Freude machen wollen und alles unterschrieben, was man ihr hingehalten hatte – Versicherungen, Mitgliedschaften in wohltätigen Organisationen, Abos, Anträge auf Kontoeröffnungen und so weiter. Die Steuerunterlagen waren völlig durcheinander, die Finanzen total unübersichtlich, es war nicht klar, gegen was sie versichert war und gegen was nicht – Papierberge, Aktenwust. Und dann waren da noch Mahlzeiten zuzubereiten, Arztbesuche zu organisieren und zu unternehmen, Spaziergänge mit der Stiefmutter zu machen, damit sie begriff, wo sie war und sich auch außerhalb der Wohnung zurechtfand, lange Gespräche zu führen, um die Stiefmutter zu trösten zu bestärken und zu betütteln – das machte alles die Frau, mit der ich de jure verheiratet bin. Starke Leistung!

 

Die Stiefmutter versuchte, ihre Orientierung wiederzufinden und ihr neues Leben zu begreifen und zu meistern. Ich hatte nie groß Kontakt zu ihr gehabt. Aber ich hatte schon in der ersten kurzen Begegnung vor vielen, vielen Jahren ganz stark das Gefühl gehabt, es hier mit einem Menschen zu tun zu haben, der innerlich nie älter geworden war als sechs bis acht Jahre. Jetzt  tapste also ein gut siebzigjähriges kleines Mädchen völlig verunsichert durch unsere Wohnung und verstand die Welt nicht mehr.

 

Die Frau, mit der ich de jure verheiratet bin, gab sich alle Mühe und setzte viel Zeit und Energie für ihre Stiefmutter ein. Aber die Frau, mit der ich de jure verheiratet bin, hat ein Bild von sich selber, das mit dem Bild, das andere von ihr haben, nur in wenigen Punkten übereinstimmt. Besonders, was ihr Sozialverhalten und ihre Wirkung auf andere anbelangt. So kam es schon nach wenigen Wochen, wie es kommen musste.

 

Ich saß alleine am Esstisch. Die Frau, mit der ich de jure verheiratet bin, hatte auswärts zu tun. Die Stiefmutter schlurfte herein und setzte sich mit müden Bewegungen an den Tisch.

„Ich halte es nicht mehr aus mit ihr“, sagte sie nachdrücklich. „Ich halte es nicht mehr aus.“

Ich schaute mir die Stiefmutter genau an. Sie schien bei klarem Verstand zu sein. 

„Wer tut das schon?“ antwortete ich ihr. „Niemand hält es mir ihr aus. Am allerwenigsten sie mit sich selber.“

„Sie will mich ständig herumkommandieren und findet ständig was zu kritisieren.“

„Das glaube ich dir.“

Die Stiefmutter vergrub verzweifelt ihren grauhaarigen Kopf in den Händen:

„Hier kann ich unmöglich bleiben!“ sagte sie zur Tischplatte und schüttelte nachdrücklich ihren Kopf. „Wie soll das nur weitergehen?!“

Die Tischplatte sagte nichts dazu.

Die Stiefmutter schaute wieder hoch.

„Was soll ich nur machen?“ fragte sie mich.

„Das weiß ich nicht. Was sind denn die Alternativen?“

 

Die Stiefmutter wusste spontan auch keine Alternativen. Und dass sie sich ein Leben lang geweigert hatte, erwachsen zu werden, das fiel ihr jetzt auf die Füße (Sprachbild). Sie hatte viele Jahre gewusst, dass sich bei ihr eine Demenz anbahnte. Sie hätte wissen können, was auf sie zukommen würde. (Schließlich kannte sie ihre Stieftochter schon seit mehr als vier Jahrzehnten). Sie hätte planen können, als die Demenz noch im Anfangsstadium gewesen war. Hatte sie nicht gemacht. Sie hatte lieber noch ein paar Jahre Kind sein wollen – in den Tag hineinleben nach dem Motto: „Wenn ich nicht hinsehe, dann ist es auch nicht da.“

Und hätte sich ihre Stieftochter (die Frau, mit der ich de jure verheiratet bin) nicht gekümmert, dann wäre sie (die Stiefmutter) irgendwann von den Behörden aus ihrer Wohnung gezerrt und in irgendein Heim verfrachtet worden. Nichts hatte die Stiefmutter geplant und organisiert in den kostbaren letzten Jahren, die ihr bei klarem Verstand geblieben waren. Gar nichts.

Und jetzt war sie verzweifelt und wusste nicht mehr weiter. Mein Mitleid hielt sich in Grenzen.

 

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Eine unserer letzten Begegnungen fand bei uns in der Küche statt, ein paar Wochen später. Ich stand am Toaster, und die Stiefmutter kam hereingeschlurft. Die Frau, mit der ich de jure verheiratet bin, hatte auswärts zu tun.

„Oh, mein dummer Kopf!“ jammerte die Stiefmutter. „Ich erinnere kaum noch was und verstehe gar nichts mehr.“

Ich sagte nichts dazu. Das ermunterte sie, weiterzusprechen.

„Ich bin zu gar nichts mehr nütze“, fuhr sie fort und legte bekümmert ihren dummen Kopf in ihre faltigen Hände.

„Das Gegenteil ist richtig“, antwortete ich ihr.

Sie hob ihren dummen Kopf ein wenig aus ihren faltigen Händen und schaute mich entgeistert an:

„Wie meinst du das jetzt?“

„Wir können von dir lernen.“

„Was könntet ihr denn schon von mir lernen?“ wollte sie wissen. „Ich weiß doch nichts mehr.“

„Wie man sich auf den Tod vorbereitet. Wie man die letzte Reise antritt. Wer sollte uns das zeigen, wenn nicht du? Von wem sonst könnten wir das lernen? Und das ist so wichtig.“

Ihre Augen bekamen ein wenig von ihrem alten Glanz zurück:

„Meinst du wirklich?“ fragte sie hoffnungsvoll.

„Sonst würde ich es dir nicht sagen. Lehre uns. Unterweise uns. Wer außer dir könnte das tun?“

„Wenn du meinst“, sagte sie ein bisschen zweifelnd.

„Ich meine. Zeige uns, wie das geht.“

Sie trat auf mich zu, legte ihren Kopf an meine Brust, und ich hielt sie lange in den Armen. Niemand sagte was. Dann ging sie schweigend in ihr Zimmer zurück, und ich beschäftigte mich wieder schweigend mit meinen Toastbroten.

 

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Die Stiefmutter beschloss, das Kind zu bleiben, das sie immer gewesen war. Wenige Tage nach dem Gespräch in der Küche zog sie mit Hilfe ihrer Stieftochter in das Seniorenwohnheim, das nur zweihundert Meter entfernt von uns liegt. So hatte ihre Stieftochter keinen Zugriff mehr auf sie, und sie war versorgt. Seit fast zwei Jahren wohnt sie dort und kommt hin und wieder rüber, um ihre Stieftochter zu besuchen.

 

Gestern kam ich von einer langen Dienstreise zurück. Die Frau, mit der ich de jure verheiratet bin, saß an meinem Schreibtisch und machte ein Gesicht, das zeigte, wie es in ihr aussah.

„Die [Name der Stiefmutter] hat mir wieder mal gesagt, dass sie sich umbringen will“, eröffnete sie mir. Ich legte meine Sachen ab und sagte nichts.

„Ich kann bald nicht mehr“, fuhr sie mit eingefallenem, grauen Gesicht fort. „Immer, wenn ich ihr begegne, erzählt sie mir, was alles schlecht ist und was alles nicht geht und was alles nicht läuft, und sie meckert und nörgelt die ganze Zeit nur rum.“

Ich dachte: „An wessen Verhalten könnte uns das wohl erinnern?“

Aber ich sagte nichts. Ich legte die schmutzige Wäsche in den Korb und räumte meine Reisetasche aus.

 

Die Frau, mit der ich de jure verheiratet bin, gab mir vollumfänglich Bericht. Vor meinem inneren Auge formte sich das Bild einer Stiefmutter, die ihre letzte Chance vertan hatte.

 

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Direkt hinter dem Seniorenwohnheim liegt – durch eine Mauer getrennt – der Friedhof. Dort wird die nächste Reise der Stiefmutter hingehen – ihre letzte. Bald: Morgen, in ein paar Monaten oder in ein paar Jahren. Sie wird auch diese Reise völlig unvorbereitet antreten.

 

Die Stiefmutter hat viele, viele Chancen in ihrem Leben gehabt – wie jeder andere Mensch auch. Sie hat sie alle vertan. Sie ist weder erwachsen geworden noch mit ihren Kleinen in Kontakt gekommen – wie so viele andere Menschen auch. Und so wird sie sterben, ohne gelebt zu haben – wie so viele andere Menschen auch. Ein vergeudetes Leben. Ich kann’s nicht ändern, ich kann’s nur wahrnehmen.

 

Ob es danach noch eine andere Reise und neue Chancen für sie geben wird, das kann zum jetzigen Zeitpunkt niemand von uns wissen.

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Kommentare: 4
  • #1

    Murmur (Samstag, 16 Februar 2019 22:18)

    Ein Mensch wird gezeugt.
    Aus dem Nichts entsteht ein Organismus,
    vollkommen in seinen perfekt ineinandergreifenden Funktionen.
    Er wird geboren, beginnt zu atmen, wird geatmet.
    Gänzlich ohne sein Zutun.
    Und zwischen seinem ersten und seinem letzten Atemzug,
    ist da ein Bewusstsein, welches handelt. Auch im Nichthandeln.
    Welches denkt und versucht, seinen Instinkten zu folgen.
    Welches unterscheidet zwischen sich und anderen Menschen.
    Zwischen sich und Pflanzen, zwischen sich und Tieren, zwischen AS und NT, zwischen Frau und Mann, zwischen sich und dem ganzen Rest.
    Und aus diesem Unterscheiden entspringen sämtliche Gedanken, sämtliche Entscheidungen, sämtliches Handeln.
    Dann, eines Tages, die finale Phase beginnt... das Atmen fällt unglaublich schwer, der Mund trocknet aus, Schmerzen quälen, die Nieren versagen langsam, sprechen, sich bewegen ist nicht mehr möglich.
    Das Bewusstseit realisiert: Der Weg zurück ins Leben ist unwiderbringlich geschlossen.
    Mit dieser Erkenntnis entsteht eine immense Trauer, Angst und Einsamkeit.
    ALLES muss gelassen werden.
    Der Prozess des Sterbens ist unerbittlich und gnadenlos.
    In den letzten Stunden verschwindet auch die sogenannte Persönlichkeit.
    Ein hilfloses Wesen liegt da, welches schwer atmet und nichts mehr erkennt.
    Die Trennung löst sich auf.
    Dies alles geschieht genau so, ob die Zeit davor nun genutzt oder vergeudet wurde.
    Der Tod und das Leben sind Realitäten jenseits von solchen Attributen.
    Vielleicht höchstens:
    Das Leben nutzt den Tod.
    Der Tod vergeudet das Leben.
    Es ist vollkommen unpersönlich.
    All das.
    Es ist.
    Vollkommen und unpersönlich.

  • #2

    Stiller (Sonntag, 17 Februar 2019 04:27)

    Da scheinst du mir einiges an Erfahrung voraus zu haben.
    Nach allem, was ich weiß, war ich noch nie tot.

    Du schreibst:
    "Und zwischen seinem ersten und seinem letzten Atemzug,
    ist da ein Bewusstsein"
    Ich selber bezeichne mich als einen "zu früh Erwachten". Durch die Angriffe, denen ich im Mutterleib ausgesetzt war, bin ich zu Bewusstsein gekommen, bevor ich geboren war.

    Du schreibst:
    "Dann, eines Tages, die finale Phase beginnt..."
    Bedingt durch meine Vergangenheit habe ich mehr Erfahrung mit dem Tod als beinahe jeder andere Mensch, den ich kenne. Wie es aber ist, endgültig zu verlöschen, das weiß ich nicht.

    Du schreibst:
    "Das Leben nutzt den Tod.
    Der Tod vergeudet das Leben."
    Anscheinend ist mein Blick ein anderer.
    Das weiseste, was ich in dieser Sache je gelesen habe, ist, dass Leben und Tod in ewiger Liebe verbunden sind:
    Das Leben schickt seit Anbeginn der Zeit dem Tod Geschenke.
    Und der bewahrt sie für immer auf.

  • #3

    Murmur (Sonntag, 17 Februar 2019 07:06)

    >>Da scheinst du mir einiges an Erfahrung voraus zu haben.
    Nach allem, was ich weiß, war ich noch nie tot.<<

    Ich auch nicht.
    Jedoch: Sterbebegleitung.
    Sitzen und schauen und fühlen und Da-Sein.
    Aushalten.
    Hand halten.
    Mund befeuchten.
    Stundenlang, tagelang, nächtelang.
    Ich kann ab und zu aus dem Zimmer.
    Und wenn es vorbei ist, wieder zurück in mein Leben.
    Der da liegt kann das nicht.
    Grosser Unterschied.
    Doch du lernst, wenn du da sitzt,
    mit dem Tod im selben kleinen Raum.
    Auch wenn es (noch) nicht dein eigener ist.
    Du lernst viel.

  • #4

    Stiller (Sonntag, 17 Februar 2019 10:04)

    Der Tod war jahrelang mein engster Begleiter. Ich nannte ihn meinen „stillen Zwillingsbruder“.
    Ob und gegebenenfalls was ich dabei gelernt habe, will ich mal dahingestellt sein lassen.