Ich bin Synästhet. Immer schon gewesen. Beinahe alles, was ich höre, sehe, schmecke, fühle und denke, löst in mir Bilder aus. Diese Bilder können alles mögliche darstellen: Einfache Farben, farbige Strukturen, dreidimensionale Gebilde, fließende Strukturen, flüchtige Bilder, kurze filmartige Sequenzen – so ziemlich alles, was sich denken lässt.
In mir ist also immer mächtig was los.
Den meisten meiner Gesprächspartner fällt auf, dass ich während einer Unterhaltung ganz oft die Augen schließe. Das tue ich nicht, weil ich kurz vor dem Einschlafen bin, sondern weil ich die Bilder in mir abrufen will. Wenn ich die Bilder in mir anschaue, dann kann ich die Wirklichkeit häufig wesentlich besser und differenzierter wahrnehmen, als wenn ich mich nur auf meine ganz normalen Sinne stütze.
Auf diese Weise ist auch mein Gedächtnis strukturiert:
Wenn ich mich an irgendwas erinnern will, dann geht das am besten, indem mich erinnere, was ich zu dem Zeitpunkt an Bildern in mir gesehen habe. Während des Studiums habe ich auf diese Weise meine Prüfungen gemeistert. Heute nutze ich das, um das Wissen, das sich in Jahrzehnten aufgetürmt hat, zu organisieren.
Man kann damit aber auch Spaß haben.
Manchmal ärgere ich damit die Frau, mit der ich de jure verheiratet bin: Sie schaut sich irgendwas im Fernsehen an – für mich lautlos über Kopfhörer – und ich komme vorbei. Ich schaue für den Bruchteil einer Sekunde auf den Bildschirm und sage ihr:
„Den Film haben wir schon mal gesehen. Vor 23 Jahren. Gleich wird rechts die Tür aufgehen und der Farmer wird sagen …“
Ihr Gedächtnis arbeitet anders als meins. Sie denkt, dass sie diesen Film das erste Mal sieht. Aber nein, dann muss ja dieser Stiller vorbeikommen und ausplaudern, wie es weiter geht. Sie ärgert sich dann, und meine Kleinen kichern.
Manchmal mache ich das auch so, dass ich mich hinter sie stelle und leise murmel, was gleich im Film gesagt werden wird. Sie dreht sich dann zu mir um, weil sie mich nicht genau verstanden hat und hört dann über Kopfhörer genau dasselbe, was sie gerade schon mal hörte. Sie ist dann verwirrt, und meine Kleinen kichern.
Ohne diese Bilderfluten in mir wäre mein Sein nicht denkbar. Ziehe diese Bilder von mir ab und beinahe nichts von dem, was mich ausmacht, bleibt übrig: Dass ich in Menschen hineinschauen kann, verdanke ich diesen Bildern. Dass ich am ersten Arbeitsmarkt Fuß gefasst habe und erfolgreich wurde, verdanke ich meinen Bildern. Dass ich meine grausame Kindheit überlebt habe, verdanke ich meinen Bildern. Ebenso , dass ich später überhaupt daran denken konnte, sie aufzuarbeiten und ein Leben zu leben, das diesen Namen auch verdient. Und so weiter.
Ohne meine Bilder bin ich buchstäblich blind: Ich weiß nicht mehr, was ich gerade machen wollte, ich habe größte Orientierungsschwierigkeiten, ich weiß nicht, mit wem ich mich da gerade unterhalte und was er gerade gesagt hat. Und so weiter. Reißt der Bilderstrom ab (was nur sehr selten vorkommt), dann bin ich verloren.
Es gibt aber auch Situationen, wo die Bilder alles durcheinanderbringen.
Ich war da mal vor ein paar Jahren im Taunus unterwegs und wanderte nördlich von Wiesbaden durch finsteren Tann und etwas lichteren Buch. Die Blümelein schwitzten, und die Auerhähne dufteten – oder so ähnlich, auf jeden Fall war es ein milder Sommertag, ich war allein unterwegs, und es ging mir gut. Und dann brachte ich alles durcheinander.
Ich wollte zum Schläferskopf, das wusste ich ganz genau. Aber nach beinahe zehn Kilometern bemerkte ich, dass ich am Kellerskopf rausgekommen war. Und das war genau in der entgegengesetzten Richtung. Und dennoch sagte alles in mir, dass ich am richtigen Ziel angekommen war. Ich war ziemlich durcheinander. Ich setzte mich da also im finsteren Tann, der den Kellerskopf umgibt, auf ein blümelndes Felslein, deckte Bein mit Bein und bedachte meine Lage: Was um alles in der Welt ging hier gerade vor?
Ich brauchte bestimmt zehn Minuten, um zu begreifen, was passiert war.
Ich werde versuchen, es so verständlich wie möglich auszudrücken:
Wenn ich das Wort „Schläferskopf“ sehe, dann entsteht in meiner Bilderwelt eine Farbkontur, die ganz genauso so aussieht, wie Rotwurstaufschnitt. Ich hatte mir also nicht „Schläferskopf“ gemerkt, sondern war die ganze Zeit in Richtung Rotwurst (in Scheiben) gelaufen, ohne mir dessen bewusst zu sein. Las ich auf irgendeinem Wegweiser „Schläferskopf“, dann las ich nicht dieses Wort, sondern sah direkt diese Wurst und wusste, dass ich richtig unterwegs war.
Das dumme ist: Wenn ich das Wort „Kellerskopf“ sehe, dann entsteht in mir eine farbliche Kontur, die nicht ganz genauso aber ziemlich genau so aussieht, wie diese Wurst riecht. Jedenfalls, wenn sie direkt aus dem Kühlschrank kommt. Wenn sie warm ist, sieht ihr Geruch anders aus.
Ich hatte mir also „Rotwurst“ gemerkt, als ich im Wald unterwegs war und war eine Weile dem Bild der Wurst gefolgt und hatte dann an einer Abzweigung die Richtung geändert und war ihrem Geruch gefolgt.
Dabei habe ich diese Wurst nie gemocht. Und seit bestimmt 40 Jahren habe ich sie auch nicht mehr gegessen.
Es gibt auch Situationen, wo Worte unterschiedliche Bilder in mir auslösen, je nachdem, ob ich sie lese oder höre. Und dann kann es auch noch ziemliche Unterschiede machen, ob eine Frau oder ein Mann dieses Wort ausspricht und ob ein Dialekt rauszuhören ist oder nicht. Es ist also beileibe nicht so, dass die Bilder alles einfacher für mich machen.
Sylvia zum Beispiel ist ein Name, der blassviolett beginnt und schwarz ausläuft, wenn ich ihn lese. Wird der Name ausgesprochen, dann ist er vor allem rot. Und wenn aus einer Ursula eine Uschi wird, dann bin ich verloren. Ursula ist blauschwarz. Uschi hat so einen ganz leichten Anklang von Blau und ist ansonsten rot.
Oder der Rüdiger, der in Wirklichkeit ein Rainer war – meine Güte, war das peinlich!
Ich wurde von einem Mann namens Rainer in einem Bereich der angewandten Psychologie ausgebildet, der mir sehr, sehr wichtig war. Er machte seine Sache gut. Aber er war eine durch und durch violette Persönlichkeit für mich. Wenn ich ihn ansah oder hörte, dann stiegen beinahe nur Farben auf, die irgendwas mit Lila zu tun hatten. Und dummerweise ist Rüdiger ein Name, der in meiner Bilderwelt genau dieses Lila abbildet. So habe ich ihn immer mit Rüdiger angesprochen und erst nach ein paar Tagen begriffen, dass ich da in Wirklichkeit die ganze Zeit einen Rainer vor mir gehabt hatte. Rainer ist ein rotbrauner Name. (Ich hab’s schon mal in einem anderen Zusammenhang geschrieben: Es gibt viele Techniken und Wege, sich zum Idioten zu machen und merkwürdig auf andere zu wirken. Ich glaube, ich kenne und beherrsche sie alle).
Aber zurück zum Taunus und zur Rotwurst.
Nachdem ich da auf diesem Felsen im Tann am Kellerskopf meine Lage hinreichend bedacht hatte, hatte ich so viele Bilder von Wurst in mir gesehen und so viel Wurst gerochen, dass ich einen Bärenhunger davon bekommen hatte. Da ich nicht mit einer so langen Wanderung gerechnet hatte, hatte ich meine Vorräte aber schon alle aufgegessen. Also wollte ich im Restaurant, das sie da am Kellerskopf haben, eine Kleinigkeit essen.
Als ich die Klinke der Restauranttür niederdrückte und die Tür nicht aufging, fiel mein Blick auf ein Schild, auf dem irgendwas von Ruhetag stand, der heute sein sollte. Die Farbe des Schildes passte nicht zum Wort „Ruhetag“. Das Geräusch aber, das die Klinke machte, das passte haargenau zum Geruch von Rotwurst, wenn sie etwa eine Stunde in der prallen Sonne gelegen hat.
Kommentar schreiben
Die von hinterm Mond. (Dienstag, 20 August 2019 03:14)
Violett und Braun sind bei bestimmten Lichtverhältnissen schwer bis kaum zu unterscheiden.
Wie es sich mit Rotbraun dabei verhält: Keine Ahnung. Könnte ich mal ausprobieren.
Wie rot ist das Braun, wie blau das Violett?
Ich bin kein Synästhet.
Aber aufgrund der Tatsache, dass ich bei den zwei Farbtönen häufig den jeweils falschen Buntstift erwischt habe, wundert mich die Verwechslung von "Rainer" und "Rüdiger" nicht.