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Thousand Yard Stare

Zum ersten Mal hörte ich diesen Begriff irgendwann vor 30 Jahren – Stanley Kubricks „Full Metal Jacket“. Ich war Student und sah diesen Film mit Freunden im Kino. Der Begriff sagte mir nichts, und ich verfolgte ihn nicht weiter.

 

Aber später tauchte er immer wieder am Rand meines Bewusstseins auf: Thousand Yard Stare hier, Thousand Yard Stare da. Mir wurde klar, was das bedeutete:

Immer, wenn sich irgendwas auf diese Weise in den Fransen meines Bewusstseins verfängt und da auch nicht mehr weggeht, wollen mir meine Kleinen irgendwas sagen oder zeigen.

Also ging ich dem nach.

 

Ich hab’s gegoogelt und mir die Fotos angeschaut.

„Na und?“ dachte ich. „So sieht man dann halt aus. Völlig normal.“

 

Erst viel später wurde mir das Ungeheuerliche bewusst:

So sieht nicht „man“ aus. So sehe ich aus. Ich kenne diesen Blick. Ich kenne ihn in- und auswendig. Ich weiß, wie sich das anfühlt. Ich weiß, wie dann die Welt ist, und ich weiß, dass das nie wieder weg geht. Das bin ich. Tausende Male habe ich diesen Blick im Spiegel oder auf Fotos von mir gesehen.

 

Ich war nie in irgendeinem Krieg. Auf mich ist nie geschossen worden, und ich habe noch nie jemanden mit der ernsthaften Absicht angegriffen, ihn zu töten. Aber ich war da. Ich weiß genau, was diese Männer fühlen und was sie nicht fühlen. Das, was sie in diesem Moment sind, das ist mir sehr, sehr vertraut und nah. Ich kann mir diese Fotos stundenlang auf Google Bilder anschauen, und ich sehe vor allem eins: Mich. Meine Kleinen. So sahen wir auch mal aus. Und innerlich sehen wir immer noch so aus. Das geht nie wieder weg, auch wenn man äußerlich anders aussieht.

 

Wenn deine Seele zerfällt, weil du mehr gesehen hast als du sehen kannst, dann siehst du so aus. Wenn du durch mehr durchgegangen bist, als deine Seele fassen kann, dann siehst du so aus. Wenn alles vorbei ist, und du doch irgendwie überlebt hast und das nicht fassen kannst, dann siehst du so aus. Wenn du weißt, dass es sowieso egal ist, ob du überlebt hast oder nicht, weil es dich dann eben beim nächsten Mal erwischt, dann siehst du so aus. Wenn du siehst, wie um dich herum deine Geschwister stundenlang grausamen misshandelt werden, dann siehst du so aus. Deine Seele zerfällt und du starrst und starrst und starrst. Deine Augen fühlen sich an wie große leere Schüsseln. Ansonsten fühlst du im Moment eigentlich gar nichts, und das ist auch sicher besser so.

 

Aber du bist da und starrst und starrst und starrst. Deine Seele zerfällt und du starrst. Mit weit aufgerissenen Augen. Ich weiß ganz genau, wie das ist. Ich weiß das ganz, ganz genau. So sah ich auch mal aus. Und das geht nie wieder weg.

 

Ich war da.

 

Ich weiß.

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