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Hass und Verachtung – gut und schlecht

Regelmäßige Leser meines Blogs wissen, dass ich als Kind und Jugendlicher reichlich und gründlich Erfahrung mit sexualisierter Gewalt gemacht habe. Bislang kenne ich nur eine künstlerische Aufarbeitung dieses Themas, die mich anspricht: Das Lied „Hell is for Children“ von Pat Benatar. Hin und wieder schaue ich mir verschiedene Live-Versionen dieses Liedes auf YouTube an. Da kann ich dann die eine oder andere Stunde mit Kopfhörern auf den Ohren verbringen, auf den Bildschirm schauen, und die Welt besteht nur noch aus „Hell is for Children“:

 

Wenn ich mir die Kommentare zu diesen Videos anschaue, fällt mir immer wieder auf, dass sie zweigeteilt zu sein scheinen. Da gibt es auf der einen Seite die, die in schlichten und knappen Worten von ihrer eigenen Erfahrung berichten und sich bei Pat Benatar bedanken. Anscheinend hat sie mir ihrem Lied schon einige Leben gerettet. Diese Beiträge berühren mich. Ich bin betroffen. Und dann gibt’s da die anderen: Wortbeiträge voller Hass und Verachtung. Die berühren mich nicht. Ich bin bloß betroffen. Da ist nicht mehr von Menschen die Rede, sondern „sick pervs“, „monsters“ und dergleichen, die sich an Kindern vergehen. Das sind Wortbeiträge, in denen immer wieder auch lauthals nach Todesstrafe, Kastration und dergleichen verlangt wird. Als ob das irgendwas ungeschehen oder besser machen würde.

 

Davon will ich heute schreiben.

 

Ich hörte mir also „Hell is for Children“ in einer Live-Version an. Bilder und Erinnerungen stiegen in mir auf, die Tränen liefen mir runter, und ich las einen dieser vielen hasserfüllten Posts über die „sick pervs“ und die „monsters“.

 

Dabei dachte ich dieses:

Du weißt aber schon, dass du hier über meine leiblichen Eltern schreibst? Über Menschen aus Fleisch und Blut - mit Zielen, Wünschen, Träumen, Nöten und Sehnsüchten? Meine leibliche Mutter liebte Blumen über alles und konnte mit uns Kindern hingebungsvoll basteln. Mein leiblicher Vater hat tolle Zaubershows für uns Kinder gemacht, und er konnte Drachen steigen lassen wie kein zweiter. Du weißt schon, dass ich meine leiblichen Eltern über alles geliebt habe und dass der Boden aus meinem Leben gefallen wäre, wenn du daher gekommen wärst und sie getötet hättest?

 

Ich lese vergleichsweise viel zum Thema sexualisierte Gewalt gegen Kinder. Das meiste scheint von Menschen geschrieben zu werden, die als Kind diese Erfahrung nicht gemacht haben. Das, was sie da schreiben, erlebe ich sehr oft als Fortsetzung dieser Gewalt mit anderen Mitteln. Speziell bei dem, was ich in den (a)sozialen Medien dazu lese, fällt mir immer wieder auf: Diese Menschen scheinen voller Hass und voller Verachtung zu sein. Randvoll mit Hass und Verachtung, die irgendwie aus ihnen raus müssen. Ihnen fällt es derart leicht, andere Menschen zu hassen oder zu verachten – Menschen, die sie noch nie gesehen haben und vermutlich auch nie sehen werden. Wen oder was sie hassen und verachten, scheint ihnen weitgehend egal zu sein, solange sie nur hassen und verachten können. Sie glauben anscheinend, dass sie nur die richtigen Menschen mit ihrem Hass und ihrer Verachtung überziehen müssen, damit aus ihrem Hass und ihrer Verachtung eine gute und gerechte Sache wird. Nach Adolf Hitler und seinen Jüngern kommen in dieser Rangliste offenbar direkt die Kinderschänder. Die kann man ruhig hassen und verachten. Das ist was gutes, und es ist sehr nützlich.

 

Aber wenn du andere Menschen hasst oder verachtest, dann hasst und verachtest du in Wirklichkeit immer dich selber. Und wenn du deine Mitmenschen zum Hass oder zur Verachtung gegen andere aufrufst, dann rufst du sie dazu auf, sich selber zu hassen und zu verachten. Wie soll daraus etwas Gutes entstehen?

 

Dennoch – für alle, die als Kind ähnliche Erfahrungen gemacht haben wie ich, sage ich:

Hass ist die unbedingte Voraussetzung für die Heilung. Wenn du die, die dir das angetan haben, nicht abgrundtief und mit jeder Faser deines Seins hassen willst, dann werden deine Wunden niemals heilen. Nicht mal ansatzweise. Die Zeit heilt alle Wunden, heißt es. In diesem Fall gilt das Gegenteil: Die Zeit heilt nichts. Gar nichts. Es ist der Hass, der die Heilung anstößt, die kompromisslose und umfassende Gegengewalt. (Für Verachtung weiß ich keine positive Verwendung).

 

Hass führt zu nichts – Hass ist unbedingt notwendig: Das scheint ein Widerspruch zu sein.

Ich will das mal auseinanderdröseln.

 

Wer als Kind und Jugendlicher dauerhaft massive sexualisierte Gewalt gegen sich erlebt, der hasst und verachtet vor allem sich selber. Er hasst und verachtet seinen Körper, seine Gedanken, seine Gefühle, seine Bedürfnisse, seine Talente, seine Eigenheiten, seine Verletzlichkeit, sein Leben - er hasst und verachtet alles an sich. Er hasst, dass er überhaupt auf der Welt ist. Aus Platzgründen will ich hier nicht aufführen, wie dieser Selbsthass entsteht, warum er so umfassend ist, und warum er nicht allmählich verblasst, wenn aus dem Kind ein Erwachsener geworden ist. Ich stehe jedoch mit meinem Wort dafür, dass es so ist, und dass es vollkommen logisch ist, dass es so ist.

 

Mit diesem Selbsthass und dieser Verachtung, die alles in uns durchdringen, zerstören wir uns selber. Es tut weh. Tag und Nacht tut es weh, Woche für Woche, Monat für Monat, Jahr für Jahr. Unser Inneres ist wie gefüllt mit stark ätzender Natronlauge. – Es stirbt in uns. Jeden Tag stirbt es in uns. Wir werden immer weniger. Wir verblassen, wir lösen uns auf, wir sterben einen schleichenden und sehr schmerzhaften Tod. – Und für den Fall, dass jemand es mit Verdrängen, Vergessen oder Vergeben versuchen sollte: Vergiss es! Du magst verdrängen, vergessen, vergeben und verzeihen – dein Körper und deine Seele nie! Nicht solange du dich dem nicht stellen willst. Aber das mit dem „sich stellen“ ist gar nicht so einfach. 

 

Wenn diese Gewalt von unseren leiblichen Eltern oder von nahen Verwandten ausgeübt wurde (was die Regel ist), dann überziehen wir die Täter mit einem Schonbezug aus Liebe, Verständnis, Vergessen und Vergebung. Um sehen zu können, was die Eltern mit uns gemacht haben, müssen wir von ihnen geliebt werden. (Auch das ist vollkommen logisch und natürlich, kann aber aus Platzgründen nicht detailliert hergeleitet werden). Je grausamer die Kindheit eines Menschen war, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass ich von ihm später zu hören bekomme:

„Ich hatte eine ausgesprochen glückliche Kindheit. (Ich erinnere mich aber nicht an Zeiten vor meinem elften Lebensjahr).“

„Meine Eltern haben es ja nur gut mit mir gemeint.“

„Meine Eltern wussten ja damals nicht, dass sie das nicht mit uns machen durften.“

„Meine Eltern waren herzensgute Menschen.“

„Das waren damals eben die Zeiten. Das haben alle so gemacht.“

„Das war eine harte Schule. Aber heute bin ich meinen Eltern dankbar dafür.“

(Das sind alles Originalzitate aus meinem riesigen Fundus. Diesen Quatsch haben mir schwerst Abhängige erzählt. - Die meisten von ihnen sind heute tot).

 

Nochmal, weil das so wichtig ist:

Je weniger wir von unseren leiblichen Eltern geliebt wurden, desto weniger können wir später sehen, was sie uns gemacht haben. Je weniger wir von ihnen geliebt wurden, umso stärker neigen wir dazu, sie und unsere Kindheit zu idealisieren – oder zu vergessen (was auf’s selbe hinausläuft).

 

Die meisten Menschen, die ich kenne, versuchen, ihren Selbsthass und ihre Verachtung loszuwerden, indem sie folgende Strategien anwenden (Mehrfachnennungen möglich):

·      Gewalt gegen sich selber

·      Hass, Verachtung und Gewalt gegen andere

·      Rückzug auf ein total minimalistisches Leben – es wird eher vegetiert als gelebt

·      Permanente Ablenkung (z.B. durch Arbeit) und Aktivität nach außen.

·      Flucht in Sucht, Krankheit, Psychopharmaka und Traumwelten

·      Flucht in künstliches (sehr häufig religiös verbrämtes) Vergeben und Vergessen. Gottes allumfassende Liebe wird es schon richten.

·      Verwandlung in eine nicht fühlende, gut funktionierende Maschine – Flucht in den Kopf: alles wird gedacht, nichts wird gefühlt.

·      Verwandlung in einen hilflosen Helfer

 

Das nützt alles nichts. Dein Körper und deine Seele erinnern sich. Sie machen Rabatz. Tag und Nacht. Woche für Woche. Monat für Monat. Jahr für Jahr.

 

Das einzige, was hilft, ist die Begegnung mit

·      den Eltern in uns

·      den geschundenen Kindern in uns.

 

Die Eltern in uns

müssen mit all dem, was sie getan haben, konfrontiert werden und mit allen zu Gebote stehenden Mitteln angegriffen und vernichtet werden. Da ist tatsächlich der totale Krieg angesagt. (Achtung: Das richtet sich gegen die Eltern in uns. Das richtet sich ausdrücklich nicht gegen die Eltern außerhalb von uns. Die müssen auch konfrontiert werden. Aber nicht mit Hass und Verachtung, sondern mit der zu Gebote stehenden Gerechtigkeit. Das ist etwas ganz anderes. Wenn du ein Erwachsener bist, dann sind dein Problem die Eltern, die du in deinem Herzen trägst, nicht die Eltern, die real irgendwo da draußen sind).

 

Die Kinder in uns

müssen die Möglichkeit bekommen, ihre Gefühle zu fühlen und zu erleben.

Auf diese Weise kann der Hass, der in uns drin ist, wieder nach außen abfließen. Auf diese Weise kann ein lebendiger, fruchtbringender Frieden entstehen. So kann wieder Lebenslust und Hoffnung entstehen. Am Ende stehen vielleicht sogar echte Vergebung und Verzeihung.

 

Zusammengefasst:

(Gilt für alle Menschen, die hassen und verachten, nicht nur für die als Kind Missbrauchten).

 

1.    Wenn du andere hasst und verachtest, dann hasst und verachtest du in Wirklichkeit dich selber.

2.    Dieser Hass und diese Verachtung sind auf das zurückzuführen, was du als Kind erlebt hast.

3.   Diesen Hass und diese Verachtung kannst du nur auflösen, indem du nach innen schaust und dir in deinem Selbsthass und deiner Selbstverachtung begegnest.

4.  Diesen Hass und diese Verachtung nach außen zu tragen und auf andere zu projizieren, gebiert nur weiteren Hass und weitere Verachtung. Das hilft dir nicht weiter. Das hilft anderen nicht weiter. Du wirst dich weiter hassen und verachten. Deshalb wirst du weiter leiden und in deinem ewigen Hass und deiner ewigen Verachtung irgendwann sterben, ohne wirklich gelebt zu haben.

5.   Wenn du diesen Weg wählst, nach innen zu schauen und dir und deinem Selbsthass und deiner Selbstverachtung zu begegnen, dann solltest du sehr, sehr viel Zeit mitbringen.

6.    Der Weg lohnt sich.

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Kommentare: 1
  • #1

    Murmur (Sonntag, 09 Dezember 2018 19:09)

    Bitte um Ergänzung:

    7. Triff bewusst die Entscheidung, DICH zu lieben. Streiche dir übers Haar.
    Halte liebevoll deine Hand. Bereite dir eine kleine Freude. Täglich.
    Bis an dein Lebensende.

    Liebende Sanftheit heilt.

    PS: Hochkomplexe Vorgänge und Problematiken sehr gut auf den Punkt gebracht. Chapeau!