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Soft to the touch

Wenn Menschen mit Neurotypischem Syndrome (NTs) in mein Blickfeld geraten, dann beobachte ich sie. Ich kann nicht anders. Das ist mein ältestes Spezialinteresse. Aber ich beobachte nicht nur die NTs, ich analysiere auch Fotos, Filme, Plakate etc., wenn dort NTs zu sehen sind. Ich studiere Schilderungen in Zeitungen und Zeitschriften, ich befrage NTs zu ihren Eigenheiten.

Und so weiter.

Damit beschäftige ich mich buchstäblich jeden Tag.

Häufig lege ich dabei Strichlisten an, um später mit Hilfe von statistischen Berechnungen entscheiden zu können, ob das, was ich beobachtet habe, ein zufälliges Ereignis war, oder ob ich etwas Gesetzmäßiges beobachtet habe.

 

Was mir dabei immer wieder auffällt, ist, wie NTs einander berühren. Oder präziser: Wie sie einander berühren, wenn sie ihre Hände dazu benutzen. Ich weiß gar nicht, wie ich das verständlich beschreiben kann … Es ist so, als würden sie sich berühren, ohne sich zu berühren. Selbst, wenn sie sich sehr vertraut sind (z.B. Liebespaare), dann sind die Berührungen mit den Händen fast immer sehr leicht, sehr sanft, locker und luftig. Auf die Spitze treiben das Plakate und Filme, mit denen großformatig für Ayurveda, Kosmetik oder irgendeine Heilsalbe geworben wird: Wenn da ein Finger die Haut berührt, dann ist das meist derart leicht, dass nicht einmal die Fingerkuppe eingedellt wird.

Ähnlich ist es, wenn dargestellt werden soll, wie seidenweich, flauschig und duftig ein Kleidungsstück wird, wenn man nur das richtige Waschmittel benutzt: Die Hand, die dann über das Kleidungsstück streicht, scheint es kaum zu berühren.

 

Anscheinend finden die NTs das toll. Sonst würde nicht auf diese Weise geworben. (Solche Werbekampagnen kosten ja Millionen. - Da wird vorher schon sehr genau getestet, was beim zukünftigen Konsumenten ankommt und was nicht). Anscheinend wollen die NTs (zumindest die überwiegende Mehrheit von ihnen) so leicht und beinahe gar nicht berührt werden, wenn sie angefasst werden.

 

Für mich wäre es der reine Horror, wenn ich so angefasst und berührt werden würde. (Aus Schilderungen anderer Menschen mit Asperger-Syndrom (AS) weiß ich, dass es vielen von ihnen ähnlich geht). Es ist mir völlig fremd, wie jemand es mögen kann, auf diese Weise berührt zu werden. Aber ich bin ja auch kein NT und werde wohl auch nie einer sein. Hier kann ich – wie so oft - mein Unverständnis nur mit Demut zur Kenntnis nehmen.

 

Vor einigen Jahren hatte ich zu dieser Thematik ein Gespräch mit einem NT, dem ich unbedingt vertraue. Der hatte irgendwo gelesen, dass AS „grob“ angefasst werden wollten. Ich habe keine Ahnung, wo dieser NT das herhatte. Aber vermutlich gehört das zu den zahlreichen Irrtümern über AS, die durch die (a)sozialen Medien und durchs Internet geistern und die unausrottbar scheinen.

 

Also bislang hat mir noch kein AS, den ich dazu befragt habe, mir gesagt, er wolle „grob“ angefasst werden. Aber noch ist meine Stichprobe nicht so groß, dass ich daraus statistisch irgendwas ableiten könnte. Vielleicht habe ich bis jetzt ja zufällig nur mit AS gesprochen, die nicht „grob“ angefasst werden wollen, und die breite Masse der AS ist glücklich, wenn genau das geschieht.

 

Manche AS haben mir gesagt, dass sie nicht oder nur sehr selten angefasst werden wollen. Bei zweien war es so, dass sie in bestimmten Körperregionen nicht angefasst werden wollten (z.B. am Kopf, speziell auf den Haaren), aber noch nie sagte mir jemand:

„Egal, wo und wann ich angefasst werde, Hauptsache: grob!“

 

Letztlich kann ich in dieser Sache also nur für mich sprechen:

Ich will keinesfalls „grob“ angefasst werden. – Danke, das hatte ich in meiner Kindheit schon genug. Ich brauche es nicht unsensibel, grob oder gar brutal. (Das gilt auch für jeden anderen Lebensbereich von mir).

 

 

Also:

Wie will ich denn angefasst werden?

Fest. Kraftvoll. Bestimmt. Entschlossen. Definiert.

Entweder du fasst mich an, oder du lässt es. Aber nicht beides gleichzeitig. Das macht mich verrückt. Das fühlt sich auf der Haut derart unangenehm an, dass ich es manchmal noch Stunden später spüre.

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Kommentare: 2
  • #1

    Neo-Silver (Montag, 12 November 2018 18:48)

    Hallo Stiller,

    ich war erst verwirrt, als ich den Text las.

    Du schreibst: "Fest. Kraftvoll. Bestimmt. Entschlossen. Definiert."
    Und das hatte ich unter grob verallgemeinert, wobei grob natürlich bei genauerer Erörterung negativ konnotiert ist.

    Unter dieser Definition kann ich Berührung auch akzeptieren. Du kannst mich also deiner Stichprobe hinzufügen.

    ------------------------------------------------

    Ich muss noch einen Punkt erwähnen, welchen du nicht beschrieben hast und zwar "unerwartete Berührungen".
    Bei mir lieben Menschen kann ich auch einmal sanftes berühren ertragen, auch wenn nicht immer oder ausdauernd.
    Viel schlimmer aber, das schließt auch Berührungen von mir lieben Menschen ein, sind unerwartete Berührungen jeglicher Art.
    Dieses Gefühl der Störung, Unordnung und des Unwohlsein, ist eine so starke Irritation, dass ich sie kaum verarbeiten kann und die Stellen meist selber in meiner Art erneut "glatt streichen" muss.

    Unweigerlich hat mich diese Geschichte auch an Temple Grandin's Berührungsmaschine erinnert.

  • #2

    Stiller (Dienstag, 13 November 2018 22:46)

    Hallo Neo-Silver,

    danke für deine Hinweise.
    Vielleicht habe ich die falschen Worte gewählt.

    Ich will die Begrifflichkeiten mal auf zwei andere Weisen darstellen:

    1
    grob = Der fühlt sowieswo nichts. Wie's dem geht, ist egal. Immer feste druff.
    entschlossen und definiert = Der fühlt sehr wohl was. Lass ihn nicht im Unklaren darüber, was du gerade tust.

    2
    Ich habe etwas Erfahrung mit Tätigkeiten, die in etwa den selben Bewegungsablauf erfordern:

    a) Wände verputzen
    b) Pferde striegeln

    a)
    Wie du so eine Ziegelmauer verputzt, ist der Mauer herzlich egal. Was hier zählt, ist, dass das Ergebnis stimmt. Geh grob ran. Wenn du an der Mauer nicht deinen Mann stehst, dann sieht's am Schluss einfach scheiße aus.

    b)
    Wenn du mit dem Striegel "uzi-duzi" und "ei-ti-tei" vorgehst, dann wird das Pferd (so meine Erfahrung) mit Sicherheit was dagegen haben. Die Pferde, die ich geritten habe, wollten ausgesprochen kraftvoll und entschlossen gestriegelt werden.

    Wenn du allerdings bei einem Pferd beim Striegeln so vorgehen würdest, als ob du eine Wand verputzt, dann würde das Pferd sich vermutlich energisch zur Wehr setzen.

    Ich hoffe, ich konnte etwas klarere machen, worum es mir geht.