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Wissenschaftler in so ziemlich jeder Situation

Ich arbeitete damals noch mehr als heute. Ich war für einen riesigen Konzern Projektleiter in nationalen und internationalen Projekten und beschäftigte mich mit den Dingen, die Projektleiter eben so tun:

 

Konferenzen und Besprechungen leiten, mit Entscheidern Mittag essen gehen, mit Gremien verhandeln, Listen ausfüllen, Mitarbeiter akquirieren, die Konzernleitung hinhalten, Geld akquirieren, Juristen an der Nase herumführen, in endlosen Meetings herumsitzen und so tun, als wüsste man Bescheid, Entscheider umgarnen, Listen ausfüllen, rumnerven, damit die Powerpointfolien für den Lenkungsausschuss endlich fertig werden, Telefonkonferenzen mit Menschen machen, die noch schlechter Englisch sprechen als man selber, die interne Revision abwehren, zu nächtlicher Stunde in irgendwelchen internationalen Videokonferenzen rumhängen, Listen ausfüllen, das Marketing an der Nase herumführen, Tagungen organisieren, verhandeln, arbeiten, wuseln, überleben. Listen ausfüllen.

 

Ich schlief fünf bis sechs Stunden pro Nacht. Den Rest der Zeit arbeitete ich oder war für meine Familie da. Ich hatte weder Freizeit noch Hobbys. Viele Jahre ging das so. Es war eine spannende Zeit, es war eine „heiße“ Zeit. Da ich schon über vierzig Jahre alt war, merkte ich allmählich, dass mein Körper nicht mehr so mitmachte wie früher. Damit konnte ich ganz gut leben. Aber dann merkte ich, dass mein Kopf auch zu meinem Körper gehörte. Und davon will ich heute berichten.

 

Es gab da diese NT-Kollegin, mit der ich mich gut verstand. Sie beriet mich immer wieder in juristischen Fragen und war dabei sehr kompetent. Sie war gut bekannt mit der Frau, mit der ich de jure verheiratet bin. Beide Frauen hatten ein Treffen ausgekungelt, und ich sollte mitkommen. Warum nicht?

Wir trafen uns und gingen sehr lange in Wald und Flur spazieren. Die Frauen redeten miteinander, ich schaute mir die Gegend an und beobachtete die Leute, die an uns vorbeikamen. Dann setzte der Hunger ein, und wir gingen in eine Pizzeria. Die Frauen unterhielten sich, ich aß mein Essen und beobachtete die Leute, die da waren. Dann musste ich auf’s Klo. Das war im Keller.

 

Schmuck sah es im Keller aus! Das hier war keine heruntergekommene Kaschemme, wo du den Eindruck hast, auf dem Weg zum Klo an Orten vorbeizukommen, wo Leichen hinter schief hängenden Holztüren im muffigen Halbdunkel auf umgekippten Mülltcontainern sitzen und Skat spielen. Hier war alles angenehm ausgeleuchtet. Die Wände waren frisch gestrichen. Der Boden war mit sauberen Terrakotta-Fliesen ausgelegt. Der Duft von Lavendel, Oleander, Libanonzeder und feuchter Kachel hing in der Luft …

 

Der Waschraum der Toilette war in sehr gepflegtem Zustand. Selbst Duftstäbchen in kleinen Glasfläschchen fehlten nicht … Ich hörte hinter mir Schritte und eilte durch die nächste Tür, um auf’s Klo zu kommen. Ich begriff sofort, dass ich in der Falle saß:

Hier fehlten die Pissoirs an den Wänden - ich musste auf der Damentoilette gelandet sein. Vor mir waren fünf Klokabinen – zwei besetzt, drei frei, und hinter mir näherten sich eilige Schritte von mindestens vier Füßen: „Tack!-Tack!-Tack!-Tack!“ machte das – wie eben High Heels auf Terrakottafliesen klingen. Vor mir in den Klokabinen wurde gekruschelt und gekramt, ich hörte eine Gürtelschnalle und eine Spülung. Im gleichen Moment wurde eine dieser Türen entriegelt und energisch geöffnet.

 

Das alles passierte im selben Augenblick, und ich sah die Schlagzeilen des nächsten Tages schon vor mir:

Pervers-autistischer Psychologe auf Damentoilette erwischt! Unaussprechliches Grauen! BILD sprach mit den schwer traumatisierten Opfern.

 

In Krisensituationen reagiere ich eiskalt. Dass ich den Kopf verliere und etwas Unvernünftiges (oder gar nichts) tue, kommt praktisch nie vor. Der Rückzug war versperrt, von vorne sah ich die Silhouette eines Menschen aus der Kabine kommen, weitere Nebenräume oder Türen gab es keine – ich flüchtete also nach rechts vorne und riegelte mich in der Kabine ein, die am Ende der Reihe stand. Das war ganz praktisch, denn ich musste ja sowieso auf’s Klo. 

 

Klack! Der Riegel verschloss die Tür. Ich war in Sicherheit.

Um mich herum hörte ich das Klackern von High Heels auf Terrakotta-Fliesen, Reißverschlüsse wurden auf und zu gemacht, Türen klappten, Riegel wurden gedreht …

 

Ich tat erst mal in aller Ruhe das, weswegen ich gekommen war. Ich bin ja auch nur ein Mensch. Und solche Gelegenheiten sollten nicht ungenutzt bleiben. Aber schon nach wenigen Minuten begriff ich, dass ich mir eine sehr ungünstige Zeit für mein Missgeschick ausgesucht hatte – es war ein reges Kommen und Gehen auf dieser Toilette. Und aus irgendwelchen Gründen hielten sich die Frauen im Waschraum deutlich länger auf als Männer in vergleichbarer Situation. Ich brauchte aber einen leeren Waschraum, um hier ungesehen wieder raus zu kommen.

 

Die Minuten verstrichen. Frauen kamen und gingen. Oben saßen die beiden Frauen, mit denen ich gekommen war und waren vermutlich noch immer ins Gespräch vertieft. Die waren beide neurotypisch und wussten vermutlich, sich zu beschäftigen. Aber irgendwann würde ihnen mein Fehlen auffallen. Und dann?

 

Es war ja nicht das erste Mal, dass ich auf der Toilette die falsche Tür gewählt hatte. Das war mir vor ein paar Wochen schon mal passiert. Ich war derart überarbeitet, dass ich nicht mehr klar wahrnehmen konnte. Ich war sicher gewesen, das international gebräuchliche Logo für „Männer“ über der Tür gesehen zu haben. Damals hatte ich sofort flüchten können, da außer mir keiner da war. Und als ich beim Rausgehen nach der Tür schaute, sah ich dort das international gebräuchliche Logo für „Frauen“. Ich war sicher, dass irgendwelche Kobolde das blitzschnell und heimlich ausgetauscht hatten.

 

Kennt ihr das? Ihr wollt, dass die Zeit mal ausnahmsweise still steht, damit ihr irgendwas machen könnt, was keiner bemerkt – in der Nase bohren, mal schnell am Hintern kratzen, in die offene Supermarktkasse greifen oder vom Damenklo flüchten. Also ich kenne das. Aber die Zeit tut mir den Gefallen nicht.

Ich saß da also in dieser Klokabine und wartete auf bessere Zeiten. Ich hoffte inständig, dass niemandem auffiel, dass diese eine Kabine ständig besetzt war.

Die Minuten verrannen. Frauen kamen und gingen.

 

Vermisster autistischer Psychologe nach Wochen auf Damentoilette gefunden. Zum Skelett abgemagert. Experte sicher: Merkel ist schuld.

 

Man sagt, dass der Mensch sich an so ziemlich alles gewöhnen kann. Also begann ich, mein zukünftiges Heim mal genauer in Augenschein zu nehmen. Ich zählte die Kacheln, schaute mir die diversen Schrauben in den Wänden sehr genau an, prüfte den Klopapierhalter auf Festigkeit und Stabilität, untersuchte die Klobürste. Dann begannen zwei Frauen in den Kabinen neben mir, sich angeregt zu unterhalten. Und mit einem Schlag war der Wissenschaftler in mir hellwach. 

 

Für die Frauen und Mädchen unter meinen Lesern:

Ich habe es noch nie erlebt, dass Männer sich auf dem Klo unterhalten. Das ist bei uns absolut nicht üblich und würde vermutlich als schwerer Tabubruch gewertet werden.

 

Die Frauen, die sich da unterhielten, kannten sich offenbar nicht. Sie schlossen Bekanntschaft auf dem Klo und unterhielten sich erst mal über sehr oberflächliche Dinge. Aber sie kamen dann schnell in einen sehr lebhaften Austausch über Familien und Kinder: Zwei Mütter, die ihr Herz ausschütteten. Dann waren sie auf dem Klo fertig und verließen plappernd und ratschend die Kabinen, um ihre Unterhaltung im Waschraum fortzusetzen. Dann verließen sie den Waschraum, und ich hörte sie nicht mehr. Ich schaute auf meine Stoppuhr:

Drei Minuten und vierzehn Sekunden hatte dieses Gespräch gedauert.

 

Dann kamen die nächsten Frauen ins Gespräch und dann wieder die nächsten. Auf der Damentoilette hörte es sich auf einmal an wie im Vogelhaus im Wuppertaler Zoo. Da wurde geratscht, getratscht, geschnattert, gelacht, geplappert …

 

Ich stoppte die Zeiten, die die Gespräche dauerten. Ich merkte mir, welche Themen angesprochen wurden, ich protokollierte, wer wen unterbrechen durfte und wer das nicht durfte. Ich registrierte Stimmlagen und Wortwahl und fing an, Muster bei der Gesprächsverteilung zu erkennen. Ich war Wissenschaftler in der Feldforschung - ich war in meinem Element! Dann drückte jemand auf die Klinke meiner Kabine. Ich erstarrte …

 

Autistischer Sittlichkeitsverbrecher mit Stoppuhr und Notizblock auf Damentoilette erwischt. Polizei: Wir vermuten das Schlimmste!

 

Aber dann ging dieser Mensch in die Kabine neben mir und nahm dort Platz. Ich registrierte, dass die weibliche Harnröhre offenbar deutlich kürzer ist als die männliche. (Wozu Stoppuhren alles gut sein können!)

Und dann ging auch dort eine Unterhaltung los.

 

Was ich nie rausbekommen habe:

Wie erkennen diese Frauen in den Klokabinen eigentlich, wer bereit ist, ein Gespräch zu führen? Denn nur ca. 80% der Frauen ließen sich in Gespräche einbinden bzw. beteiligten sich daran. Ich habe es nicht erlebt, dass irgendeine Frau unwirsch zu verstehen gab, dass sie jetzt nicht reden wollte. Niemand, der das nicht wollte, wurde angesprochen. Ich habe über 30 Minuten da unten verbracht. Auch ich wurde nicht ein einziges Mal angesprochen.

Woran erkennen die Frauen das eigentlich, ohne einander sehen zu können?

 

Nach besagten (über) 30 Minuten verebbte das letzte Gelächter und Geplapper im Waschraum. Die Schritte entfernten sich, die Tür fiel ins Schloss. Klack! Alles war ruhig und still. Ich lauschte noch ein wenig, und dann sah ich zu, dass ich da raus kam! Ich hatte ziemliches Glück – alles war menschenleer, selbst auf dem Gang zu den Toiletten war niemand. Als ich mich nach der Tür umdrehte, sah ich, dass wieder einmal Kobolde die Logos über der Tür ausgetauscht hatten. – War ja klar gewesen.

 

Als ich wieder oben im Gastraum war, stellte ich fest, dass die beiden Frauen, mit denen ich hergekommen war, mich kaum vermisst hatten. Sie waren ins Gespräch vertieft und gingen von einem schweren Anfall von Durchfall aus. Ich ließ sie in dem Glauben.

 

 

Das alles ist nun schon über zehn Jahre her. Ich habe schon viele aufregende Situationen in der Feldforschung erlebt, doch das hier gehört für mich zum Einprägsamsten. Ich bin heilfroh, dass das alles so glimpflich ausgegangen ist. Aber seitdem treibt mich diese Frage um:

Wie um alles in der Welt erkennen Frauen ohne einander zu sehen, ob die andere Frau auf der Toilette in ein Gespräch eingebunden werden will?

 

Ich werde mich vermutlich wieder auf die Damentoilette verirren müssen, um das rauszukriegen.

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