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Es stand in der Zeitung 04 – Das Leiden der Christen

The New York Times International Edition, Saturday-Sunday, August 18-19, 2018 pp 09 and 11 “What must survive a corrupt Catholic Church”

 

+++ Achtung, dieser Text kann Spuren von Ironie enthalten. Und Ihre religiösen Gefühle verletzen kann er auch. +++

 

Ich benutze in diesem Text immer wieder das Fremdwort „endemisch“.

Wikipedia übersetzt dieses Wort so:

„Andauernd gehäuftes Auftreten einer Krankheit in einer begrenzten Region oder Population“

 

 

Regelmäßige Leser meines Blogs wissen, dass ich es nicht so mit dem Christentum habe. Ich finde scharfe und harte Worte, wenn ich über diesen Aberglauben berichte, und wenn mir der Sinn danach steht, spitze ich die Diskussion auch gehörig zu. Aber ganz selten erlebe ich es, dass es mir buchstäblich die Sprache verschlägt, wenn Christen sich äußern. Dann sitze ich wie versteinert da, und es fällt mir wirklich nichts mehr ein.

 

Dass unter den Christen das Kreationistentum geradezu endemisch ist – geschenkt. Ich habe mich daran gewöhnt, den unsinnigsten Stuss zu lesen, der belegen soll, dass Gott das Universum vor 6.000 Jahren erschaffen hat oder – alternativ – irgendwie als Lenker und Planer hinter allem steht.

 

Dass die Christen Liebe und Gewalt bzw. Leben und Tod nicht auseinanderhalten können – geschenkt. Ich habe mich daran gewöhnt, den unsinnigsten Stuss zu lesen, der belegen soll, dass es ein Akt der Liebe bzw. der Gnade ist, wenn man seinen eigenen Sohn bestialisch zu Tode foltern lässt, und dass es ein Zeichen des Lebens ist, wenn man sich das Abbild dieses toten bzw. sterbenden Mannes an die Wand oder um den Hals hängt.

 

Dass die Wahrscheinlichkeit, irgendeinen Verschwörungsstuss zu glauben, linear mit dem Maß des Glaubens ans Christentum steigt – geschenkt. Wer glaubt, dass Jesus von einer Jungfrau geboren wurde, der Sohn Gottes war und ein paar Tage nach seinem Foltertod wieder lebendig wurde und diesen Unsinn zu seinem spirituellen Lebensmittelpunkt macht, der versetzt sich damit in die Lage, jeden anderen Unsinn genauso bereitwillig zu glauben.

 

Dass die Christen nicht logisch denken können oder wollen, wenn sie sich einen Gott ausdenken, der zugleich allgütig und allmächtig ist – geschenkt.

 

Dass ihr Gott ein „lieber“ Gott ist, obwohl er im Alten Testament einen Genozid nach dem nächsten anordnet und einen Massenmord nach dem anderen begeht – geschenkt.

 

Dass Christen dazu neigen, hinter allem einen Sinn oder einen Plan zu vermuten - geschenkt.

 

Und so weiter.

Das alles lässt mich nicht sprachlos zurück. Dazu fällt mir schon was ein. Und wenn ein ausgemachter Christ verbal die Klingen mit mir kreuzen will, dann kann er sich warm anziehen.

 

 

Aber da gibt es die andere Seite des Christentums, die meine Seele verdunkelt. Ich rede von der massiven sexuellen Gewalt, die jede größere christliche Vereinigung durchzieht wie der Teergeruch eine Straßenbaustelle.

 

Wenn ich lese, was Christen zu dieser Thematik einfällt, gewinne ich den Eindruck, dass sie das Offensichtliche nicht sehen können oder nicht sehen wollen: Diese flächendeckende sexuelle Gewalt ist kein „Betriebsunfall“ und auch kein „bedauerlicher Einzelfall“. Im Gegenteil: Hier bricht sich die dem Christentum innewohnende Gewalt Bahn. Diese Gewalt ist im Christentum strukturell verankert und begleitet die Christen, wohin immer sie auch gehen.

 

Nochmal für die seelischen Analphabeten: Das Christentum beruht darauf, dass ein Vater seinen Sohn bestialisch zu Tode foltern lässt und anordnet, diese Aktion für Liebe oder Gnade zu halten  – das ist Gewalt! Gewalt ist das Fundament des Christentums.

 

Vor ein paar Monaten wurde ich von Kunden zum Essen eingeladen. Wir gingen in ein Restaurant, das ich als Privatperson nie gewählt hätte – edel, nobel, stadtbekannter Koch. Wir hatten gerade Platz genommen, als ich meinen Augen kaum traute: Ein katholischer Würdenträger in voller Kriegsbemalung kam herein. Erst dachte ich, er wolle uns alle mal segnen, aber dann sah ich, dass er nur was essen wollte – wie alle anderen auch. Ich spürte den starken Impuls, aufzustehen, rüberzugehen und diesen Würdenträger zu fragen, wie sich das denn so anfühlt, wenn man Mitglied der größten Kinderschändervereinigung des Planeten ist und dazu auch noch ihre Uniform trägt.

 

Aber ich war mit Kunden unterwegs. Sie hatten mich eingeladen. Also ließ ich es. Wäre ich allein gewesen, hätte ich es vermutlich gemacht. (Ich bin so drauf – wenn mich irgendwas an einem Menschen interessiert, dann gehe ich hin und spreche ihn an).

 

Regelmäßig werden trotz aller Bemühungen der Amtskirchen überall auf dem Planeten ausufernde Fälle endemischer sexueller Gewalt durch Kirchenmänner (und seltener -frauen) bekannt und aktenkundig. Regelmäßig leugnen die Kirchen alles, was man ihnen nicht nachweisen kann, um sich danach in uferloser, geradezu göttlicher Barmherzigkeit und Milde gegenüber den armen und bedauernswerten Tätern zu üben. Da können einem schon die Tränen kommen – diese armen Menschen, dass sie so gezwungen waren, solche Gewalt auszuüben! Da muss man als Opfer auch schon mal verzeihen, vergeben und vergessen können. Wir sind ja schließlich alle nur Menschen, oder? Und als Gottes Kinder sind wir doch alle in seiner allumfassenden Liebe vereint. Oder etwa nicht? Wer von uns ist denn ohne Sünde und will tatsächlich den ersten Stein werfen? Man muss doch auch Verständnis haben!

Und so weiter.

Die Verhaltensmuster sind überall, wo diese Thematik hochkommt, dieselben.

Für die Kirchen gilt: Nach der Gewalt (Verbrechen an Kindern) ist vor der Gewalt (Täter zu Opfern und Opfer zu Tätern erklären, Opfer verunglimpfen, Opfer an den Pranger stellen, Opfer unglaubwürdig machen, Opfer anklagen, Opfer verhöhnen – und so weiter).

 

Diese umfassende endemische Gewalt lässt viele mitfühlende Menschen (auch viele Christen) fassungslos und entsetzt zurück. Und der unverschämte Umgang der Amtskirchen mit diesen Vorgängen auch. Aber in der New York Times von letzter Woche stieß ich auf ein Paradigma, das mir neu war. Meine Fassungslosigkeit erreichte neue Höhen. Ich musste mehrfach ansetzen, um diesen Artikel zu lesen.

 

Worum geht’s?

Ich will es kurz zusammenfassen:

 

Nicht die Opfer, sondern die gläubigen Christen leiden am allermeisten unter dieser nicht endenden Gewalt, die durch Priester und Amtsträger der Kirche an Kindern verübt wird. Die gläubigen Christen sind die wahren Leidenden. Denn sie verlieren dadurch ihren Glauben. Und das ist das Schlimmste Leid von allen.

 

Ich erlaube mir, aus diesem Machwerk zu zitieren. (Der Autor ist wegen all der Skandale von der katholischen zur orthodoxen Kirche gewechselt und berichtet jetzt von seinen Schmerzen):

 

„My once-fervent Catholic faith had been eviscerated by my covering the scandal as a journalist. Leaving Catholicism was the spiritual equivalent of a trapped animal gnawing off his own leg. It was extraordinarily painful, but if I hadn’t done it, depression would have consumed me and likely annihilated what was left of my Christian faith.”

 

“Mein ehemals glühender katholischer Glaube wurde regelrecht ausgeweidet, als ich über den Skandal als Journalist berichtete. Den Katholizismus zu verlassen war das spirituelle Äquivalent eines Tieres, das in einer Falle gefangen ist und sein eigenes Bein abnagt. Es war extrem schmerzhaft, aber wenn ich’s nicht getan hätte, hätte mich die Depression verschlungen und wahrscheinlich alles vernichtet, was noch von meinem christlichen Glauben übrig geblieben war.“

 

Ich sag’s ja – nicht die Opfer leiden, sondern die Täter. Und wenn es nicht die Täter sind, dann sind es irgendwelche Zuschauer. Gelitten wird auf’s Fürchterlichste! Aber nicht von den Opfern.

 

Der Autor berichtet, wie er als Journalist einen Priester interviewte, der sich einen Namen als Aufklärer in dieser Sache gemacht hatte:

 

„After the interview, the priest cautioned me that if I pursued this story further, it would take me „to places darker than you can imagine.“”

 

"Nach dem Interview warnte der Priester mich: Wenn ich diese Geschichte weiter verfolgen würde, würde es mich an Orte führen, die “dunkler sind als Sie sich vorstellen können.”

 

Da ich durchaus meine Erfahrungen mit diesen „Orten“ habe, kann ich dem zustimmen: Das ist deutlich dunkler als das, was sich die, die das nicht erlebt haben, vorstellen können. Es sprengt wirklich jede Vorstellungskraft. Aber schauen wir mal, was unser zutiefst leidender, zutiefst christlicher Autor aus dieser Sache macht.

 

„He was right. We learned (…) that one priest raped a 7-year-old girl as she recovered in the hospital from a tonsillectomy. The grand jury uncovered (…) a sadomasochistic clerical pedophile ring (…) that photographed boys they had posed to look like Jesus Christ, then gave them gold crosses to show that they had been groomed.”

 

"Er hatte Recht. Wir erfuhren (…) dass ein Priester ein siebenjähriges Mädchen vergewaltigt hatte, als es sich im Krankenhaus von einer Mandeloperation erholte. Die Untersuchungskommission enttarnte einen sadomasochistischen klerikalen Pädophilenring, der Jungen fotografiert hatte, die posieren mussten wie Jesus Christus und mit goldenen Kreuzen versehen worden waren als Zeichen, dass sie bereit gemacht worden waren zur Vergewaltigung."

 

Ok. Also – massivster Missbrauch an Kindern. Hier wurden Seelen zertrümmert und Leben zerstört. Hier wurde Leid aufgetürmt, hoch wie die Rocky Mountains. Und jetzt? Was bewegt diesen Christen?

 

„I left Catholicism for Eastern Orthodoxy, not because I expected to find a church free from sin, but because (…) I thought it (…) it was the only way out. I needed valid sacraments, and I needed them in a church where I would not be overcome by fear and rage. In Orthodoxy, God gave me the graces of healing.

It genuinely grieves me to see how my Catholic brothers and sisters are suffering. I’ve been there. I know that pain. And yet, for me, it was a severe mercy.”

 

"Ich verließ den Katholizismus und ging zur östlichen Orthodoxie. Nicht, weil ich erwartete eine Kirche zu finden, die frei von Sünde wäre, sondern weil ich dachte, dass das der einzige Ausweg war. Ich brauchte gültige Sakramente, und ich brauchte sie in einer Kirche, in der ich nicht durch Furcht und Wut überwältigt werden würde. Im orthodoxen Glauben gab mir Gott die Gnade der Heilung.

Es bekümmert mich zutiefst, wenn ich sehe, wie meine katholischen Brüder und Schwestern leiden. Ich habe das selbst erlebt. Ich kenne diesen Schmerz. Und dennoch – für mich war das ernste Barmherzigkeit."

 

Tja.

Ich glaube, da erübrigt sich jeder Kommentar.

Ich bin sicher, dass der liebe Gott diesem Vollidioten seinen Stuss verzeihen wird. Und vielleicht wird er ihn irgendwann mit der Gnade des Mitfühlens erleuchten und von diesem kriecherischen und egozentrischen Selbstmitleid befreien. Vielleicht. Man kann das nie wissen bei diesen Gnadenakten aus ernster Barmherzigkeit.

 

Aber warum ein Blatt von Weltruf wie die New York Times so einen Stuss in geradezu epischer Breite veröffentlich, erschließt sich mir nicht. Ich bin sicher nicht der Pressesprecher der vergewaltigten und geschundenen Kinder. Aber in dieser Sache gebe ich mir das Recht, mitzureden. Meine Leser bitte ich daher um diese Perspektive: Wenn ein Kind leidet, dann steht das Kind im Mittelpunkt und nicht ihr. Vor dem Leid eines Kindes verstummt alles andere. Alles.

 

Sowas sollte eigentlich selbstverständlich sein.

 

 

 

P.S.

 

Ich bin im Zusammenhang mit dem letzten Zitat aus diesem Artikel gefragt worden, was „ernste Barmherzigkeit“ eigentlich sei. Ich gestehe gerne, dass ich das nicht weiß. (Der Autor erklärt es in dem Artikel auch nicht). Offenbar habe ich gerade aus dem Fenster geguckt, als das in meinem Theologiestudium Thema war.

Aber „severe mercy“ ließe sich auch mit „strenge Barmherzigkeit“ übersetzen. Und diesen Begriff kenne ich durchaus. Ein (damals wie heute) weltbekannter, menschenfeindlicher und übellauniger Seelenfinsterling, der an der Nahtstelle zwischen Spätmittelalter und früher Neuzeit wirkte (Martin Luther), drängte die deutschen Fürsten in einer seiner letzten Schriften, sie sollten den Juden endlich „strenge Barmherzigkeit“ zuteil werden lassen. Damit meinte er, dass man sie vertreiben, ihnen die Häuser anzünden und den restlichen Besitz wegnehmen sollte (und einiges mehr). Er fand dafür wohlfeile Worte und theologisch klingende Begründungen.

 

Also ist „ernste Barmherzigkeit“ offenbar ein anderes Wort für das, was das Christentum im Innersten antreibt: Nackte Gewalt.

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