The kids are all right

The kids are all right

(Zitiert nach einer Rockgruppe, die zu ihrer Zeit sehr bekannt war).

 

Gestern, als ich in den Supermarkt ging, um Lebensmittel zu kaufen, passierte es wieder einmal: Ich sah im Eingangsbereich ein kleines Kind, das von seiner Mutter in einem Sportwagen geschoben wurde. Ich schaute das Kind an, und es nahm sofort Kontakt mit mir auf. Es ruderte wild mit seinen kleinen Ärmchen und bedeutete mir damit, näher zu kommen. Offenbar wollte es mir ganz dringend was zeigen. Ich trat auf das Kind zu und ging vor ihm in die Hocke, um zu sehen, was es mir mitzuteilen hatte. In einer Hand hielt es eine kleine bunte Schachtel irgendwas, auf die es sehr stolz war. Ich schaute mir das an.

„Was hast du da?“ fragte ich leise.

Das Kind antwortete nicht, sondern hielt mir weiterhin seine Schachtel irgendwas unter die Nase.

„Das ist ja klasse“, sagte ich dem Kind.

Das Kind freute sich riesig. Ich verabschiedete mich freundlich von dem Kind, stand wieder auf und ging weg. Ich wollte noch Lebensmittel einkaufen.

 

Kinder mögen mich, und ich mag Kinder. Das war schon immer so, seit ich Erwachsener bin. In allen möglichen und unmöglichen Situationen binden sie mich wie selbstverständlich in ihre Welt ein, obwohl wir uns noch nie gesehen haben. Sie benutzen mich als Kletterbaum, als Notrufsäule, als Spielassistenten, als Ablageplatz und als was weiß ich. Sie zeigen mir was, sie erzählen mir was, sie erklären mir ihre Welt. Die Kinder sind in Ordnung.

 

Die Kinder sind in Ordnung.

Das war nicht immer so.

 

Als ich selber ein Kind war und mit meinen drei Geschwistern zusammensaß, erzählte uns unser leiblicher Vater mal eine Geschichte. Sie handelte vom Teufel, der sich mit einem Menschen anlegen wollte. Zu diesem Zweck sprach er einen Wandersmann an, der ihm einen Menschen zeigen sollte. Da der Wanderer keine Lust auf diese Auseinandersetzung hatte, bot er sich an, dem Teufel einen Menschen zu zeigen. Gemeinsam gingen sie in Richtung Stadt. Ein alter Mann kam an ihnen vorbei.

„Ist das ein Mensch?“ wollte der Teufel wissen.

„Nein“, sagte der Wanderer, „das war mal einer.“

Und dann begegneten sie einem Kind.

„Ist das ein Mensch?“ wollte der Teufel wissen.

„Nein“, sagte der Wanderer, „das wird mal einer werden.“

Meine Geschwister und ich unterbrachen unseren leiblichen Vater. Wir waren nicht der Meinung, dass ein Kind kein Mensch sei. Mein leiblicher Vater war da anderer Ansicht. Kinder waren keine Menschen. Wortreich legte er uns das dar. Und irgendwo sah ich das ja auch ein – ich kannte keinen Erwachsenen, der anderer Ansicht war als mein leiblicher Vater. Und es sollte noch viele, viele Jahre dauern, bis ich auf einen Erwachsenen traf, bei dem das nachweislich anders war. (Der also nicht gutmenschlich irgendwas daherfaselte wie wichtig ihm Kinder seien, durch sein Verhalten aber ganz klar bewies, dass für ihn Kinder keine Menschen waren).

 

Wenn ich Messungen mache (also beobachte und diese Beobachtungen statistisch auswerte), stelle ich fest, dass die Erwachsenen, die mir begegnen, heute deutlich besser zu Kindern sind als noch vor zwanzig Jahren. Der Wind dreht sich allmählich. Ich zähle, wie oft Kinder von ihren erwachsenen Begleitpersonen in der Öffentlichkeit geschlagen, angeraunzt, abgekanzelt und ignoriert werden. Das wird langsam aber stetig weniger. Es gibt weniges in der Welt, was mir wichtiger ist als das: Wie geht es den Kindern?

 

Wann immer ich in irgendeine soziale Situation komme, ist das meine erste Frage:

Wie geht es den Kindern? Den Kindern in den Erwachsenen und den Kindern, die auch physisch noch Kinder sind. Wer als Erwachsener hässlich zu Kindern ist, oder hässliches über Kinder sagt, der kann machen, was er will – ich werde freundlich und verbindlich zu ihm sein, aber niemals wird er mir auf irgendeine Weise näher kommen können. Denn die Kinder sind in Ordnung.

 

Die Grundschule, in die meine Töchter gingen, blies zum Sammeln. Irgendwas Wichtiges sollte gemacht werden, und die Eltern sollten antreten, damit ihnen das verkündet werden konnte. So saßen wir auf diesen Stühlen, die uns viel zu klein waren und lauschten der Schulobrigkeit. Hausaufgaben, Leistungssteigerung, wissenschaftliche Untersuchungen und bla und blubb. Als ich den ganzen sozialen und rhetorischen Unsinn aus diesem Geschwurbel herausdestilliert hatte, hörte ich das, was die Behörden uns tatsächlich mitzuteilen hatten:

Bei irgendwelchen Untersuchungen war rausgekommen, dass die Grundschulkinder in Deutschland erheblich weniger leisteten als vergleichbare Kinder in anderen Staaten. Die deutschen Politiker litten deshalb an Minderwertigkeitskomplexen. Damit sie nicht mehr so leiden mussten, sollte das Regiment in den Grundschulen erheblich verschärft werden: Mehr Schulstunden, mehr Lernstoff, mehr Leistungsanforderungen, mehr Hausaufgaben etc. Die Eltern hörten sich das an. Immer wieder sah ich zustimmendes Nicken. Offenbar waren hier viele der Ansicht, dass die Kinder zu wenig leisteten, und dass es ihnen viel zu gut ging. Als dann die Stille nach dem Geschwurbel eintrat, stellte ich die Frage, die mich so beschäftigte:

„Habe ich das richtig verstanden? Das dient alles dem Wohl der Kinder?“

 

Ich kann mich an die Zeit erinnern, in der ich als Kommunalpolitiker aktiv war und in der Mahatma (zu deutsch: die große Seele) Gandhi ein Vorbild für uns alle war. Gandhi – das war der Säulenheilige der gewaltfreien aber effektiven Politik. Ein monumentaler Film wurde über sein Leben und Wirken gedreht, Bücher und Broschüren über ihn erreichten Spitzenauflagen. Dann las ich seine Biographie. Ich wollte mehr über diesen Menschen wissen. Ich las bis zu der Stelle, an der sein Sohn Suizid beging. Dann klappe ich das Buch zu. Egal, was dieser Mensch auch immer getan haben mochte – es verblasste vor dieser Tatsache. Nichts, aber auch wirklich gar nichts, was er getan hatte oder hätte tun können, war auch nur annähernd in der Lage, das aufzuwiegen. Ich habe nie wieder etwas von ihm oder über ihn gelesen. Keine Seele ist groß, wenn sie Kinder in den Suizid treibt.

 

So sind Kinder meine Welt. Und die Kinder sind in Ordnung.

Du bist als NT über alle Maßen beruflich erfolgreich? Das freut mich für dich. Wie geht es deinen Kindern? Denen in dir und denen, die du in die Welt gesetzt hast?

Du bist als Künstler, Sportler, Wissenschaftler, Politiker, spiritueller Führer oder was auch immer überragend erfolgreich? Klasse! Ich freu‘ mich für dich. Wie geht es deinen Kindern? Denen in dir und denen, die du in die Welt gesetzt hast?

Du hast Geld wie Heu, deine Nachbarn halten dich für einen Nobelpreisträger und der Bürgermeister geht mit dir Mittagessen? Gratuliere. Wie geht es deinen Kindern? Denen in dir und denen, die du in die Welt gesetzt hast?

 

Fast alles, was die NTs so bewerkstelligen, bedeutet mir sehr wenig. Viele von ihnen neigen dazu, die Maßstäbe zu verschieben und die Kinder zu ignorieren – die Kinder, die sie mal waren und die Kinder, die physisch noch Kinder sind. In meiner beruflichen Arbeit liegt mein Hauptaugenmerk darauf, dass die Maßstäbe wieder gerade gerückt werden. Mein Interesse gilt den Kindern – privat wie beruflich. Auf dieser Welt nehme ich buchstäblich nichts ernst außer Kindern, ihren Gedanken, Gefühlen und dem, was sie tun.

 

Und die Kinder sind in Ordnung.

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