Schüchtern

Nach dem fabelhaften Erfolg, den Courtney Hadwin in er ersten Runde von „America’s Got Talent“ hatte, lese ich es in den (a)sozialen Medien wieder besonders häufig: Jemand, der so sicher und selbstbewusst auf der Bühne agiert, der kann nicht schüchtern sein. Alles Lüge. Alles Fake. Jaja, die Leute wissen Bescheid. Und die abgeklärten Verschwörungstheoretiker, die wissen ganz besonders Bescheid. Speziell, wenn sie „Menschenkenntnis“ haben. Dann kann man ihnen nichts vormachen. Sie lassen sich nicht reinlegen. Sie durchschauen alles.

 

Ich bin immer wieder erstaunt, wie schlicht und eindimensional sich manche Menschen das Konzept „schüchtern“ vorstellen. Okay, die meisten Menschen, die ich kenne, haben nur ein sehr oberflächliches und rudimentäres Verständnis davon, wie es im Inneren eines Menschen aussieht und wie Menschen funktionieren. Das ist wie bei mir und Computern – ich weiß, wie man sie anschaltet, und so ganz grob weiß ich irgendwas von Nullen und Einsen, die dann elektronisch angesteuert werden. Ich kann Hard- und Software relativ zuverlässig unterscheiden. Und wenn ich in Gesprächen über Computer ganz wagemutig sein will, dann kann ich auch schon mal Worte wie „CPU“ oder „Prozessor“ sagen. Aber das war’s dann auch schon. Ähnlich fundiert scheinen ganz viele Menschen mit dem Begriff „schüchtern“ zu hantieren. „Schüchtern“ ist für sie eine Bezeichnung dafür, dass ein Mensch sich in sozialen Situationen nichts traut. Und wenn sich jemand auf einer Bühne vor tausenden von Leuten was traut, dann kann er nicht schüchtern sein. So einfach ist das.

 

Ja, wenn das mal so einfach wäre. Aber anders als Ritter Sport ist der Mensch nicht „Quadratisch. Praktisch. Gut.“ Der Mensch ist ein extrem komplexes Wesen. Nicht kompliziert, aber komplex. (Und nein, er ist nicht widersprüchlich).

 

Wenn mir jemand schildert, wie einfach der Mensch in Wirklichkeit ist und mir dann ausschweifend von seiner „Menschenkenntnis“ berichtet, dann erlebe ich meistens nur, dass dieser Mensch seit Jahren und Jahrzehnten erfolgreich seine immer gleichen Vorurteile über Menschen ventiliert und in dieser Sache nicht bereit ist, etwas dazuzulernen. So kann man sich auch beschäftigen.

Die amtierende Kanzlerin ließ vor Jahren vernehmen:

„Das Internet ist für uns alle Neuland.“ Sie wollte dazulernen. Für die meisten Menschen sind ihresgleichen „Neuland“. So hat jeder seins, was für ihn Neuland ist. Für die Menschenneuländer unter meinen Lesern will ich das mit dem „schüchtern“ mal etwas auseinanderklamüsern.

 

Menschen, die schüchtern sind, haben mehr Angst als andere, mit Menschen, die ihnen nicht sehr vertraut sind, in sozialen Situationen zu interagieren. Wie schüchtern wir sind kann mit dem Lebensalter und mit gewonnener Erfahrung variieren. Aber die Neigung zur Schüchternheit ist weitgehend angeboren. Sie ist meistens eng mit der Neigung zur Introversion verknüpft: Introvertierte Menschen sind meistens schüchtern und umgekehrt.

 

Wer introvertiert ist, der zieht seine Kraft zum größten Teil aus seiner Innenwelt. Wer extravertiert ist, der zieht seine Kraft zum größten Teil aus der Außenwelt – aus sozialen Kontakten. Mit seiner Kraftquelle ist ein Mensch meistens gut vertraut – hier kennt er sich aus.

Extravertierte Menschen kennen sich meistens sehr gut in sozialen Kontakten aus. Hier bewegen sie sich auf sicherem Parkett. Hier sind sie zu Hause. Introvertierte kennen sich meistens sehr gut in ihrer Innenwelt aus. Frag mal einen Asperger-Autisten nach seinen Spezialinteressen, und du wirst erleben, wie sicher er sein kann.

 

Und so kann auch ein schüchterner Mensch ein ausgesprochen sicheres Auftreten an den Tag legen, wenn er mit fremden Menschen interagiert: Er bleibt dabei in seiner Innenwelt. Ich will das am Beispiel meiner Person verdeutlichen:

 

Ich bin Asperger-Autist. Ich bin schüchtern bis zum Anschlag. Aber das glaubt mir beinahe niemand. Denn ich verdiene mein Geld damit, vor Menschen zu sprechen, die ich vorher noch nie gesehen habe. Das mache ich ausgesprochen gerne und ausgesprochen gut. Wenn ich anfange zu reden, dann kommen die Leute und hören mir zu. Gib mir eine Bühne und drück mir ein Mikrofon in die Hand und ich bin nicht mehr zu bremsen. Dann fülle ich auch die größten Säle. Ich erzähle, und die Leute hören mir wie gebannt zu. Dabei ist mir von meiner Schüchternheit nichts anzumerken. Was passiert da?

 

1

Ich war noch keine zwölf Monate alt, da notierte meine leibliche Mutter über mich:

„Erzählt sich.“

Ich dachte mir Geschichten aus, die ich mir erzählte.

Und das blieb so – bis heute. Ich bin randvoll mit Geschichten. Mit hunderten, mit tausenden Geschichten, die nur darauf warten, erzählt zu werden. Ich bin kein Schriftsteller. Ich bin Geschichtenerzähler.

 

2

Als ich anfing, mit anderen zu sprechen, stellte sich sehr schnell heraus, dass ich einen besonderen Zugang zu Worten hatte. Ich klopfte so ziemlich jedes Wort auf seinen Sinn ab, hinterfragte bei der Sprache so ziemlich alles und verbrachte Stunden um Stunden damit, Wörterbücher zu lesen, um auf diese Weise neue Worte zu lernen.

 

3

Mein ältestes Spezialinteresse sind die Menschen, die mich umgeben. Das muss schon direkt nach der Geburt angefangen haben: Ich studiere die Menschen um mich herum und komme aus dem Staunen nicht mehr heraus.

„Menschen – wie sie sich verhalten und was sie dabei erleben“: Es gibt nichts, was mich intensiver und dauerhafter interessiert als das.

 

Nimm jetzt die Punkte 1 bis 3 zusammen und stell mich auf eine Bühne vor hunderte oder tausende von Menschen:

Wenn ich Geschichten erzählen darf, die davon handeln, wie Menschen funktionieren, dann bin ich in meinem Element. Dann kann ich von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang erzählen, ohne mich einmal zu wiederholen oder einmal zu langweilen. Wenn ich auf der Bühne das erreiche, was ich „Betriebstemperatur“ nenne, dann bin ich geschützt wie in einer Blase. Dann ist es so, als hätte ich den Mutterleib nie verlassen. Meine Geschichten und meine Worte schützen mich.

Ich stehe dann auf einer Bühne. Vor hunderten Menschen, die ich noch nie gesehen habe. Mit ihnen interagiere ich. Aber ich verlasse dabei meine Innenwelt nicht. Und so wirke ich kein bisschen schüchtern.

 

 

Es ist viel Musik in mir. Doch bin ich nicht im üblichen Sinne musikalisch. Im Gegenteil:

Wenn ich singe, dann fallen die Fliegen tot von den Wänden. Aber es gibt viele extrem schüchterne Menschen, deren Innenwelt die Musik ist. Wenn diese Menschen die Möglichkeit bekommen, auf der Bühne in ihrer Innenwelt zu bleiben und sich durch diese Innenwelt anderen mitzuteilen, dann fällt jede Unsicherheit von ihnen ab. Dann sind sie mitreißend. Dann sind sie begeisternd. Wie Courtney Hadwin. Als ich zum ersten Mal Aufnahmen von ihr sah, sagten meine Kleinen: „Die macht nicht Musik, die ist Musik!“

 

Dabei scheint sie extrem schüchtern zu sein.

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