Die Welle

Um mein heutiges Thema griffig darstellen zu können, muss ich ein wenig ausholen.

 

Grundlage von allem ist, dass ich gesichtsblind bin. Ich bin beinahe nicht in der Lage, Menschen an ihrem Gesicht zu erkennen. Sogar meine beiden Töchter kann ich nur aufgrund von Kleidung und Frisur auseinanderhalten. Wenn ich mit der Frau, mit der ich de jure verheiratet bin, einkaufen gehe, muss ich mir, bevor wir in den Laden gehen, auf‘s genauestes einprägen, was sie anhat, sonst finde ich sie im Laden nicht mehr wieder.

 

Dafür habe ich eine andere Fähigkeit entwickelt, die ich „Sehen“ nenne. Ich kann in Menschen buchstäblich hineinsehen: Wenn Menschen sich bewegen oder was sagen, dann löst das Farben, Bilder und dreidimensionale Figuren in mir aus, die mir sehr genau Auskunft geben, was in dieser Person vorgeht. Das war schon immer so.

 

Beispiel 1

Ich gebe in Süddeutschland ein Seminar. Inhalt des Seminars ist (wie so häufig): „Wie Neurotypische funktionieren“. (Natürlich hat das Seminar einen anderen Titel. Aber genau darum geht es inhaltlich – ich erkläre den Neurotypischen, wie sie funktionieren). Teilnehmer sind Fach- und Führungskräfte aus Bayern. Nach dem Seminar gibt es für sie die Möglichkeit, Einzelgespräche mit mir zu führen. Wie meistens nehmen zahlreiche Teilnehmer diese Gelegenheit wahr, Dinge, die sie bewegen, unter vier Augen mit mir zu besprechen. Ich führe also ein Gespräch nach dem anderen – bis tief in den Abend.

 

Dann sitzt eine ranghohe Führungskraft vor mir am Tisch. Sie hat einiges auf dem Herzen. Sie erzählt, ich schreibe mit. Ich stelle zahlreiche Nachfragen, um zu verstehen, worum es geht. Die Führungskraft erzählt mir von Problemen in ihrer Ehe. Sie erzählt davon, wie sie mehrere außereheliche Verhältnisse gehabt hat, welche Schwierigkeiten es darüber hinaus im Beruflichen gibt. Und so weiter. Ich frage nach. Und je stärker ich in die Tiefe frage, desto mehr verdichten sich die Farben, die ich sehe, zu einem Schwarz-Gelb, das beinahe wespenhaft ist. Aus Erfahrung weiß ich, was das bedeutet. Deshalb lege ich Stift und Block beiseite und schaue die Führungskraft an:

„Was du mir da erzählst, ist alles schwerwiegend, keine Frage. Aber das ist kein Grund, nach dem Seminar ein Gespräch mit dem Trainer zu führen.“

„Was?“

„Du erzählst mir von Scheinproblemen, um das Eigentliche nicht ansprechen zu müssen. Das darfst du gerne tun, und ich werde dir aufmerksam zuhören. Du darfst aber auch das ansprechen, was dich wirklich bewegt. Du entscheidest.“

Im Inneren der Führungskraft macht es lautlos aber sehr deutlich spürbar „Knack!“ Alles Schwarz-Gelbe verschwindet schlagartig. Stattdessen breitet sich eine dunkelbraune Stille in der Führungskraft aus. Diese Stille ist durchdringend. Ich bin still. Die Führungskraft ist still. Das bleibt eine ganze Weile so. Dann fragt die Führungskraft mit einer ganz anderen Stimme ziemlich leise:

„Darf ich was aufschreiben?“

„Klar.“

Ich schiebe ihr Block und Stift rüber.

Die Führungskraft denkt kurz nach und schreibt dann in Windeseile los. Dann betrachtet sie das, was sie da zu Papier gebracht hat und schiebt es zu mir rüber. Sie schaut mich nicht an.

Ich lese:

„Ich denke dauernd darüber nach, wie es ist, tot zu sein.“

Das dunkle Braun, das die Führungskraft bislang ausfüllte, bekommt auf einmal Struktur. Zahlreiche Türen springen in dieser dunklen Bräune auf.

„Klar“, sage ich der Führungskraft. „Das ist das Thema. Wenn du willst, können wir gerne darüber reden.“

Und die Führungskraft erzählt.

 

Beispiel 2

Ich mache in Norddeutschland eine Teamentwicklung. Einer unserer besten Unternehmer, hat mich gebeten, ihm und seinem Team unter die Arme zu greifen. Er und seine Leute (zusammen sechs Personen) leisten hervorragende Arbeit und behaupten sich ganz ausgezeichnet am Markt. Dennoch spürt der Unternehmer, dass er und seine Leute deutlich mehr erreichen könnten, wenn nur …

 

Ja, er weiß selber nicht, was ihm und seinem Team eigentlich fehlt. Er weiß nur, dass da wesentlich mehr ginge. Er hat von mir und meiner Dienstleistung gehört und lädt mich ein, sein Team und ihn mal zu durchleuchten. Wir vereinbaren, dass wir uns für zwei Tage mal in seiner Firma zu einer Klausur treffen und ich diese zwei Tage moderiere. Trotz stundenlanger Auftragsklärung habe ich keinen blassen Schimmer, worum es geht, aber das ist erst mal egal. Ich komme mal, um mir ein Bild von der Lage zu machen, und dann sehen wir weiter …

 

Am ersten Tag der Teamentwicklung passiert das Übliche: Wir sitzen in einem „Stuhlkreis“ (Es sind also keine Tische im Raum, sondern nur Stühle, und wir sitzen in einer Art Kreis zusammen). Und die Teilnehmer spielen mir „Märchen“ vor. „Märchen“ heißt: Alles Mögliche wird thematisiert, was mich beschäftigen soll, bloß damit das, was das eigentliche Thema ist, nicht zur Sprache kommt. Das ist bei Teamentwicklungen so üblich. Am Ende des Tages bin ich randvoll mit Bildern, die keinen rechten Sinn ergeben, aber dennoch irgendwie zusammenpassen. Ich kann es mir nicht erklären. Ich schlafe in dieser Nacht sehr schlecht. Die Bilder in mir wuseln herum – immer wieder habe ich den Eindruck zu verstehen, worum es geht, dann aber verflüchtigt sich dieser Eindruck wieder, und ich bin genauso ratlos wie zuvor.

 

Am frühen Morgen bin ich ziemlich zerschlagen. Ich fahre mit dem Taxi zur Firma. Die Bilder in mir verdichten sich, aber ich weiß immer noch nicht, worum es geht.

Ich eröffne diesen Tag damit, dass ich davon berichte, wie es in mir aussieht. Ich setze die Teilnehmer ins Bild, dass ich Synästhet bin, und was das in diesem konkreten Fall bedeutet. Dann wage ich mich ins Ungewisse – volles Risiko:

„Ich habe die Fähigkeit, in Sie hineinzusehen. Sie sind für mich wie ein Tresor: Die Seitenwände, Boden, Decke und die Tür sind aus zentimeterdickem Stahl. Aber die Rückwand ist aus Pappe. Und diese Pappe kann ich herausnehmen. Wenn sie das wollen, tue ich das. Ich weiß noch nicht, was dabei rauskommen wird. Es kann gefährlich sein. Aber wenn Sie wollen, dann tue ich das und erzähle Ihnen, was ich sehe.“

Die Teilnehmer sind sichtlich beeindruckt. Sie überlegen. Aber dann wird sich die Gruppe sehr schnell einig, dass sie das mal riskieren wollen. Ich schaue mir jeden einzeln an und sehe, dass tatsächlich ein Konsens da ist. Jeder ist gespannt und neugierig, was der Psycho jetzt machen wird. Also los.

Ich schließe die Augen und sortiere die Bilder erneut. Allmählich ergibt das einen Sinn. Ich verstehe immer noch nicht, worum es geht. Aber das habe ich schon so oft erlebt – erst, wenn ich anfange, meine Bilder zu verbalisieren, ergibt das einen Sinn.

 

Ich habe die Augen immer noch geschlossen und wende mich dem jungen Mann (ca. 23 Jahre) zu, der links vor mir sitzt. 

„Darf ich mit Ihnen anfangen?“ frage ich ihn und öffne die Augen.

Der Mann zuckt unsicher mit den Schultern.

„Okay …“

„Okay ist nicht okay. Wir operieren hier am offenen Herzen. Ich weiß nicht, was dabei rauskommen wird. Ich kann ihnen versichern, dass alles, was ich sage, wahr sein wird. Ich weiß aber nicht, ob Sie das wissen wollen.“

Der junge Mann strafft sich sichtlich:

„Doch, doch! Ich bin interessiert, was Sie in mir sehen!“

Das ist echt. Das ist aufrichtig. Mit diesem Auftrag kann ich anfangen.

 

Ich schließe erneut die Augen und sichte die Bilder in mir. Stockend und zögernd fange ich an zu verbalisieren. (Meine Augen bleiben dabei geschlossen, damit ich die Bilder in mir besser sehen kann).

„Alles, was Sie gestern gesagt und getan haben, ergibt nur dann einen Sinn, wenn Sie … Wenn Sie im Alter von ungefähr zwei bis vier Jahren Ihren Vater verloren haben. Durch Tod oder was auch immer. Auf jeden Fall ist da eine Wunde in Ihrem Herzen, die sich nicht geschlossen hat oder gar verheilt ist. Sie suchen Zeit Ihres Lebens. Da ist eine nie stillbare Sehnsucht. Sie hoffen, Sie wünschen, dass Ihr Chef“ – ich nicke mit geschlossenen Augen nach rechts von mir, wo der Firmeninhaber sitzt - „diese Funktion einnimmt. Sie haben sich aber nie getraut, ihm das zu sagen. Und so überfrachten Sie diese Arbeitsbeziehung zu Ihrem Chef mit ganz tiefen Sehnsüchten und Wünschen, die unausgesprochen im Raum stehen.“

Ich öffne die Augen und schaue den jungen Mann an:

„Kann da etwas dran sein.“

Es ist absolut still im Raum. Jeder ist auf tiefste betroffen. Ich weiß, dass das jetzt eine ganz, ganz heikle Situation ist. Ich weiß aber auch, dass ich mich auf meine Bilder verlassen kann. Sie haben sich noch nie geirrt. Alle sind still. Vor allem die Frauen im Raum halten den Atem an oder atmen nur noch ganz flach. Ich habe meine Frage gestellt. Jetzt bin ich still und warte.

 

Der junge Mann sinkt in sich zusammen und bricht in Tränen aus. Eine ganze Weile schluchzt und weint er still vor sich hin. Dann beginnt er stammelnd zu sprechen:

„Dass … dass …  dass mal einer sieht … dass das … endlich mal einer sieht … das ist etwas … Neues.“

Er weint stärker. Niemand sagt was.

Dann beginnt der Mann zu erzählen, wie er seinen Vater verlor, als er ein ganz kleines Kind war. Wie das sein Leben zerstörte und wie durch alle möglichen Techniken versuchte, diesen entsetzlichen Verlust zu vergessen oder ungeschehen zu machen …

 

 

Ich kann also „sehen“.

 

Das ist das eine.

 

Das andere ist, dass ich einige Erfahrung mit Leistungssportlern habe. In dem Konzern, in dem ich arbeite, gehört es bei den Spitzenmanagern zum guten Ton, dass man Marathon läuft oder Triathlet ist. Ich habe keine Ahnung, wieso. Aber viele Vorstände und Bereichsleiter sind so drauf. Sie berichten mir von Marathonbestzeiten, die zwischen zwei und vier Stunden liegen. Einer läuft sogar unter zwei Stunden! Für mich sind das unfassbare Leistungen. Ich habe absolute Hochachtung davor. Darüber hinaus tauchen sehr oft absolute Spitzensportler in meinen Seminaren auf. Ich hatte schon Olympiateilnehmer bei mir (Gewichtheben und Kajak), den deutschen Meister im Bankdrücken, zahlreiche Männer, die im A-Kader von Bundesligisten standen … und so weiter.

 

Auch die kann ich „sehen“.

 

Darüber hinaus begegnen mir bei meinen Wanderungen in Mittel- und Hochgebirgen laufend (im besten Wortsinne) irgendwelche Jogger. Ich muss in den letzten Jahren tausende von ihnen gesehen haben. Zahlreiche von ihnen zeigten ein sehr hohes Leistungsvermögen und haben mich sehr beeindruckt.

 

Aber dann begegnete mir vor ein paar Jahren dieser Mann:

 

Es war ein sonniger Sonntagvormittag im Frühling. Ich war im Taunus unterwegs und ging einen ebenen, geraden Waldweg entlang. Da es noch recht früh war, war ich allein. Dann sah ich auf ungefähr dreihundert Meter Entfernung einen Jogger auf mich zukommen und verlangsamte meinen Schritt. Sowas hatte ich noch nie gesehen. Noch nie!

 

Dieser Mann, der da auf mich zukam, der rannte nicht. Der floss. Der floss wie Wasser in einem Bach. Und das war auch genau das Bild, das ich synästhetisch sah: Eine Welle in einem Bach. Noch nie habe ich einen erwachsenen Menschen in solch einer Bewegungsharmonie gesehen. Meine Kleinen in mir sperrten Mund und Nase auf. Als der Mann näher kam, sah ich, dass es sich um einen Schwarzafrikaner handelte. Er war derart dunkel, dass ich auf Äthiopier tippte. Er rannte nicht, er floss wie Wasser in einem Bach. Es war völlig mühelos und harmonisch. Gegen diesen Mann bewegte sich ausnahmslos jeder Weiße, den ich je gesehen hatte, eckig, zackig, unharmonisch, ungelenk, stolperig.

 

Manchmal wurde mir von Teilnehmern in meinen Seminaren gesagt, der oder der Schwarzafrikaner könne so gut und harmonisch tanzen. Ich habe mir das zig-mal auf YouTube angeschaut – dieser oder jener schwarze Tänzer, der angeblich so harmonisch und so natürlich in seinen Bewegungen war. Aber meine Kleinen in mir können „sehen“. Sie lassen sich in dieser Hinsicht weder reinlegen noch täuschen. Und ausnahmslos jedes Mal, wenn wir so ein Video sahen, sagten sie:

„Bääh!!“

Und wir klickten das weg.

Das ist also ein ziemlicher Mythos mit den Schwarzen, die sich rhythmischer und natürlicher bewegen können als die Weißen. Auf der Ebene, die ich „sehen“ nenne, ist das der reine Stuss. Alles Augenwischerei!

 

Aber dieser Mann hier – der war Wasser im Fluss. Meine Kleinen tauften ihn spontan „Die Welle“. Denn genau das war dieser Mann – eine Welle. Mir war völlig unbegreiflich, wie sich ein erwachsener Mensch so bewegen kann.

 

Die Welle kam auf mich zu und sah, dass ich ihn durch die Sonnenbrille ganz aufmerksam musterte. Mit freundlicher Geste und freundlichem Gesicht grüßte er, ohne seinen Laufrhythmus zu ändern. Ich grüßte zurück. Die Welle floss auf mich zu und an mir vorbei. Ich schaute hinter ihr her und kam aus dem Staunen nicht mehr heraus.

 

So ist das.

Das ist es, was ich heute erzählen wollte.

 

Ich bin der Welle nie wieder begegnet. Und auch sonst habe ich nie wieder jemanden getroffen, der sich auch nur ansatzweise so bewegte, wie dieser Mann. Ich kann „sehen. Und ich war und bin zutiefst, zutiefst beeindruckt.

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