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Nein 02

Manchmal lerne ich schnell, manchmal lerne ich langsam. Wenn es darum geht, irgendwelches Sozialzeug zu entschlüsseln, das mir NTs auf die Bühne zaubern, dann lerne ich meistens ziemlich langsam.

 

Heute will ich wieder eine kleine Facette aus meiner staunenswerten Welt berichten. Wie üblich werde ich das mit einigen Episoden veranschaulichen und mit sarkastischen Bemerkungen untermalen. 

 

Ich glaub‘ es fing 2001 an:

Die Frau, mit der ich de jure verheiratet bin, war der Ansicht, dass ich zu viel Zeit bei der Arbeit verbrachte. Dass ich auf diese Weise das Geld verdiente, von dem unsere kleine Familie lebte, schien ihr kein überzeugendes Argument zu sein.

„Wir brauchen dich hier!“ blaffte sie mich an. Mit „hier“ meinte sie daheim, bei der Familie.

Ich bedachte das.

„Das glaube ich dir“, antwortete ich dann. „Aber wenn ich kein Geld mehr verdiene und die ganze Zeit hier bin, dann ist euch das sicher auch nicht recht.“

„Darum geht’s gar nicht!“ blaffte sie weiter. Offenbar hatte ich sie nicht verstanden.

„Worum geht es dann?“

„Dass du öfter daheim bist. Dass du früher nach Hause kommst.“

„Ich fürchte, das lässt sich unter den jetzigen Umständen nicht machen. Du weißt, wir strukturieren gerade um, und da rollt eine Massenentlassung durchs Unternehmen. Ein Drittel der Leute müssen langfristig gehen. Meine Aufgabe ist es, dafür zu sorgen, dass ich nicht dabei bin.“

„Ja“, beklagte sie sich mit weitausholender Gestik. „Ihr strukturiert ja immer gerade um. Das geht schon seit Jahren so. Hört das auch mal wieder auf mit dem Umstrukturieren?! Ihr könnt doch nicht die ganze Zeit umstrukturieren! Dauernd höre ich: Wir strukturieren um! Wir strukturieren um! Wir strukturieren um!“

Die Hände der Frau, mit der ich de jure verheiratet bin, wirbelten ganz schön durch die Gegend. Ich schaute mir das an und wartete ab.

„Ihr strukturiert immer um!“ beendete sie irgendwann ihre Ausführungen.

„Ja“, erklärte ich ihr. „Das sind die Zeiten. Das nennt sich ‚Globalisierung‘. Das habe ich mir nicht ausgesucht.“

„Aber du arbeitest immer so viel!“

„Ja, damit verdiene ich unser Geld.“

„Du arbeitest aber viel mehr als andere Väter!“

„Ja, ich verdiene auch mehr Geld als andere Väter. Da besteht ein unmittelbarer und kausaler Zusammenhang.“

„Dann arbeite halt weniger! Wir kommen auch mit weniger Geld aus.“

„Du, ich bekomme keinen Stundenlohn. Ich bekomme ein Monatsgehalt und dafür habe ich bestimmte Aufgaben zu erledigen. Wie ich das mache, ist mir weitgehend selbst überlassen.“

„Dann mach‘ halt nicht so viele Aufgaben und komm‘ früher nach Hause!“

„Du, das lässt sich bei meinem Job und in der jetzigen Situation nicht machen. Da kann ich nicht einfach früher nach Hause gehen. Da steht dann mein Arbeitsplatz auf dem Spiel.“

„Dann sag‘ doch einfach mal „Nein!“, wenn sie dir wieder irgendeine Aufgabe geben wollen.“

„Du [Name der Frau, mit der ich de jure verheiratet bin], das geht nicht. Ich trage Verantwortung in meinem Job.“

(Seufzer) Und so weiter …

Die Frau, mit der ich de jure verheiratet bin, begriff mich nicht und ich begriff sie nicht. Szenen einer Ehe.

 

Im Jahr 2002 bat dann der Vorstand zum Personalgespräch.

„Herr Stiller“, sagte er mit Ernst und Würde. Er drehte etwas verlegen einen Stift zwischen seinen Fingern. Er suchte die richtigen Worte. Ich schaute mir seine weißen Haare an.

„Ich weiß jetzt nicht, wie ich Ihnen das sagen soll …“

Ich begriff nicht ganz:

Was sagen soll?“

„Sie sollten … ja, wie sage ich das jetzt? Sie sollten lernen, sich mehr abzugrenzen bei der Arbeit, verstehen Sie?“

„Nein. Geben Sie mir ein konkretes Beispiel.“

„Ich glaube, Sie müssen lernen, Aufträge auch mal abzulehnen. Auch mal „Nein.“ zu sagen.“

 

Ich begann, hier ein Muster zu erkennen. Es deutete sich zwar nur schemenhaft an, aber wenn man mir zweimal in so kurzer Zeit ein Gespräch zum Thema „Nein sagen“ aufnötigte, dann war irgendwas im Busch.

 

Also probierte ich das mal aus und fing mit dem „Nein“ an. Ich fing an, der Frau, mit der ich de jure verheiratet bin, „Nein.“ zu sagen, wenn sie wieder mal mit irgendwelchen Aufträgen kam, die ich übergriffig fand.

 

Beispiel:

„Stiller“, eröffnete sie mir. „Du hast doch jetzt Urlaub. Da könntest du doch mal die Wände im Essbereich neu streichen. Die haben’s wirklich mal nötig. Ich kann dir auch helfen beim Farbe Kaufen. Und wenn du gerade dabei bist – die Wände müssten auch nochmal isoliert werden. Die werden im Winter immer ziemlich kalt.“

„Nein. Ich bin fix und fertig. Der Urlaub dient der Erholung. Ich werde mich jetzt ausruhen.“

„Aber später dann im Urlaub.“

„Nein, da werde ich mich auch ausruhen.“

„Den ganzen Urlaub?!“ fragte sie entsetzt.

„Den ganzen Urlaub“, antwortete ich bestimmt.

Solche Dialoge häuften sich jetzt. Das war der Frau, mit der ich de jure verheiratet bin, überhaupt nicht recht. Unsere Beziehung trübte sich ziemlich ein.

 

Ich begann, dem Vorstand stärker seine Grenzen aufzuzeigen und Aufträge, die er mir geben wollte, abzulehnen. Das war ihm überhaupt nicht recht. Die Situation eskalierte sehr schnell sehr stark. Er ließ mich wissen, dass er mich aus dem Unternehmen raus haben wollte. Ich ließ ihn wissen, dass das vielleicht seine Absicht sei, dass ich aber einen Arbeitsvertrag mit dem Unternehmen geschlossen hätte und nicht mit ihm. Da er keine Argumente hatte, fing er das Mobben an …  

 

Schlussendlich musste er dann das Unternehmen verlassen und nicht ich. Aber das ist eine andere Geschichte, und die soll ein andermal erzählt werden. Hier ist mir jetzt nur wichtig, dass nun ein Muster im Muster erkennbar wurde:

 

a)    Die NTs wollten, dass ich öfters „Nein“ sagte.

b)    Das „Nein“ sollte ich aber nicht zu ihnen sagen, sondern zu anderen.

c)    Das sollte ich deshalb so machen, damit ich ihnen öfters „Ja“ sagen konnte.

 

Nach meiner Erfahrung ist dieses Muster extrem belastbar und hat eine große Erklärreichweite: In über 95% der Fälle, in denen mir NTs sagen, dass ich nein sagen soll, meinen sie in Wirklichkeit:

„Ich will, dass du dich mehr um meine Bedürfnisse kümmerst! Schick die anderen mit ihren Bedürfnissen weg – meine Bedürfnisse sind wichtiger!“

Das ist in etwa die Erlebniswelt eines seelisch ausgehungerten kleinen Kindes seinen Eltern gegenüber. Ich sehe deshalb in diesem Muster einen weiteren Beleg für meine These, dass Menschen, die am neurotypischen Syndrom leiden, vor allem dadurch charakterisiert sind, dass sie nicht erwachsen werden wollen.

 

Ich gestehe gerne, dass es viele Jahre gedauert hat, bis ich diese Zusammenhänge begriffen habe.

 

 

2003

Ich arbeite in einer neuen Abteilung.

Ein Kollege kommt zu mir ins Büro. Wir schätzen uns beide sehr. Er hat die Türklinke noch in der Hand und grinst mich breit an, da blaffe ich ihn auch schon an:

„Hau ab! Du willst mir nur wieder Arbeit aufhalsen!“

Er lacht mich freundlich an, kommt rein und macht die Tür hinter sich zu:

„Neiiiin, ich will dir doch keine Arbeit aufhalsen! Das würde ich doch nie tun, oder?“

„Doch“ beharre ich, „würdest du.“

„Neiiiin, Stiller, das siehst du völlig falsch“, belehrt er mich gutmütig. „Hier geht es um Herausforderungen, um Möglichkeiten, sein Können zu zeigen. Hier geht es darum, Gestaltungsspielräume auszuloten und das Unternehmen voran zu bringen. Stiller, der Mensch wächst mit seinen Aufgaben.“

„Wenn das wahr wäre, dann wäre ich jetzt schon über vier Meter groß und würde keine Klamotten mehr finden. Was willst du?“

Er kommt zu mir an den Schreibtisch:

„Also, da gibt es doch dieses Projekt ESKO …“

 

Seitdem sind viele Jahre vergangen. Inzwischen bin ich ziemlich routiniert darin, Kollegen nein zu sagen. Aber das hat nur dazu geführt, dass ich meine Aufträge nicht mehr von Kollegen bekomme, sondern (beinahe) nur noch von Menschen, die im hierarchischen Gefüge des Konzerns sehr weit oben stehen. Die Aufträge werden mir zwar von den jeweiligen Chefs vermittelt. Aber sie kommen von ganz oben. Da ich zu allem möglichen zu gebrauchen bin, ist an Aufträgen nie ein Mangel gewesen.

 

Inzwischen berichte ich auch schon lange nicht mehr direkt an den Vorstand. Aber das mit dem „Nein sagen“ ist fast schon zu einem Running Gag in meinen Personalgesprächen geworden. In so ziemlich jedem Personalgespräch nimmt das breiten Raum ein. Mein neuester Chef (Chef Nummer 16 in diesem Konzern) wollte das vor ein paar Wochen sogar in meine variablen Ziele mit aufnehmen: Ich sollte öfters Nein sagen, und daran sollten sich substanzielle Teile meines Gehaltes orientieren.

„Wie willst du das denn machen?“ wollte ich wissen.

„Ja, irgendwie: ‚Stiller sagt öfters Nein.‘“

„Aha. Und wie willst du messen, in welchem Maße ich dieses Ziel erreicht habe? Sitzt du dann mit einer Strichliste da und schreibst mit, wie oft ich während des Jahres Nein sage?“

Er lachte:

„Nein, so geht das natürlich auch nicht.“

„Und du weißt auch“, fuhr ich fort, „dass sich deine Laune nicht bessert, wenn ich dir öfter Nein sage?“

„Ja“, überlegte er, „das ist natürlich auch eine Schwierigkeit.“

 

Ich bin es gewohnt, dass ich den NTs immer wieder auf die Sprünge helfen muss, wenn es um solchen Sozialkram geht. Aber wenn ich mich dann daran erinnere, wie lange es bei mir gedauert hat, bis ich das gelernt habe, und wie mühsam dieses Lernen für mich war, dann verflüchtigt sich alle Überheblichkeit, die ich vielleicht vorher in mir trug.

 

Ich habe inzwischen auch einen Weg gefunden, meinen jeweiligen Chefs so nein zu sagen, dass sie es akzeptieren können. Die Idee dazu kam mir ganz spontan und sie hat sich als sehr wirksam und ausbaufähig erwiesen.

 

Und so kam das:

 

2012 stand im Konzern wieder mal eine Umstrukturierung an (- oh Wunder!)

Ein neuer Vorstand war da (- oh Wunder!). Und der hatte brandneue Ideen (- oh Wunder!) Und wie das bei Vorständen eben so ist: Sie haben Ideen. Sie haben viele Ideen. Und ich habe dann die Arbeit damit.

 

Ideen haben ist leicht, Arbeit erledigen ist schwer. Deshalb sind immer mehr Ideen da als ich Arbeitskraft habe. Und mein damaliger Chef ließ es sich nicht nehmen, mich per Mail ins Bild zu setzen:

„Lieber Stiller (und bla und blubb), der Vorstand hat da was beschlossen, und das Projektteam „Grüne Wiese“ hat sich da was überlegt (und Herausforderung und Gestaltungsmöglichkeiten), und da konzernweit bekannt ist, dass du das besonders gut kannst (und bla und blubb)…“

 

Wenn Mails vom Chef kommen, die länger sind als eine Meldung der Nachrichtenagentur Reuters, und wenn sie darüber hinaus mit sozialem Gesülze gespickt sind, weiß ich immer schon, was los ist. So war es auch hier: Ein Arbeitsauftrag von kolossalem Umfang war auf meinem Schreibtisch gelandet. Ich las mir das mehrfach durch. Da stand ungefähr drin:

 

„Stiller, die Vorstände Romulus und Remus haben beschlossen, auf der grünen Wiese, direkt am Tiber auf den sieben Hügeln eine neue Hauptstadt zu errichten. Sie soll in der ersten Ausbaustufe zunächst mal nur 250.000 Quadratmeter haben und Platz für 80.000 Einwohner bieten. Die Stadtmauer soll 18 Meter hoch sein und 128 Türme haben. Bitte lege in vier Wochen einen detaillierten Arbeitsplan vor, aus dem hervorgeht, wie du mit Hilfe von zehn Sklaven und eines halblahmen Esels diese Stadt innerhalb der nächsten zwei Jahre errichten wirst. Wie die Vergangenheit gezeigt hat, machst du sowas gerne und gut, und wir verlassen uns voll auf dich. (Baumaterial gibt es übrigens keins (der Konzern muss sparen, wie du weißt), aber du bekommst kostenlos einen zweistündigen Fernlehrgang „Lehmziegel kneten leicht gemacht“).“

 

Ich musste also aus dieser Nummer schnellstmöglich wieder raus. Aber wie? Ich wusste aus Erfahrung: Ein blankes „Mach‘ ich nicht. Bin überarbeitet“ kann schwere soziale Folgeschäden nach sich ziehen. Also setzte ich mich spontan hin und schrieb meinem Chef in einer langen Antwortmail auf, was ich bereits an Arbeitsaufträgen hatte. Ich bastelte Tabellen und addierte Arbeitsaufwände.

Das fasste ich am Ende der Mail so zusammen:

„Wie du siehst, arbeite ich also schon mit 128% meiner Kapazität. Wenn ich diesen Auftrag annehme, liegt meine Auslastung bei 144%. Ist das so gewünscht?“

 

Als Antwort kam …

… erst mal gar nichts.

Und das war schon mal ein sehr gutes Zeichen!

Zwei Tage später kam die Antwort vom Chef. Sie war kurz wie eine Meldung der Nachrichtenagentur Reuters und frei von jedem sozialen Gesülze.

„Nein, Stiller, das wollen wir natürlich nicht. Der Soundso macht das. Du bist raus.“

 

So mache ich das seitdem immer:

Irgendein Auftrag von ganz oben kommt rein. Ich schätze die Aufwände und schreibe meinem Chef:

„Bin schon bei 121% Kapazitätsauslastung. Wenn ich diesen Auftrag annehme, bin ich bei 133%. Soll ich für diesen Auftrag irgendeinen anderen Auftrag zurückgeben? Wenn ja: Welchen?“

 

Das ist dann wohl

Nein sagen für Fortgeschrittene.

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Kommentare: 3
  • #1

    Neo-Silver (Sonntag, 22 April 2018 17:34)

    Die Wirkung eines "Nein" scheint stark durch die Art der Beziehung zu derjenigen Person determiniert zu sein.
    So funktioniert dein o.g. Konzept im Rahmen der beruflichen Beziehung, allerdings kann ich mir nicht vorstellen, dass das selbe Konzept auch bei deiner Frau funktionieren würde.

    Wobei ich allerdings die Idee nachvollziehen kann, ein Nein mit einer Begründung zu versehen, welche an die Situation angepasst ist.
    Ähnliches beschreibst du im Blogpost "Nein 01", als du zu der Schlussfolgerung kamst, ein Nein mit einer Lüge zu Begründen.

    Ein reines "Nein", scheint für viele Menschen einen zu großen Interpretationsspielraum zu lassen, sodass sie es nicht ernst nehmen werden.
    Was gerade in der Kürze, Reinheit und Eindeutigkeit eines bloßen "Nein" sehr skuril ist, wenn es als das genaue Gegenteil wahrgenommen wird.

    Es gibt, so wurde mir auch erklärt, verschiedene Arten von Nein.
    Teilweise soll ein Nein, je nach Betonung, sogar das Gegenteil bedeuten. Es ist also kein Wunder, dass ich damit so viele Probleme habe.

  • #2

    Stiller (Sonntag, 22 April 2018 23:03)

    "Es gibt, so wurde mir auch erklärt, verschiedene Arten von Nein."

    Das finde ich sehr interessant.
    Kannst du mir einen Hinweis geben, wo ich so eine Liste finden kann?

  • #3

    Neo-Silver (Montag, 23 April 2018 07:06)

    Dies wurde mir verbal von einem Psychologen erklärt, daher habe ich auch keine Liste dafür. Eine Websuche war leider nicht erfolgreich, da dabei nur die verschiedenen Arten "Nein zu sagen" oder Hilfen um das "Nein" und "Ja" sagen zu erlernen, angezeigt werden.

    Ich werde noch einmal bei der Person nachfragen, ob sie mir dazu Quellen nennen kann.

    Soweit ich es verstanden habe, bezieht sich die Aussage vor allem auf die inneren Konflikte der Person, welche Nein sagt.
    Kurzgefasst, wenn die Person sich selber nicht sicher ist, ob sie Nein oder Ja antworten soll, trotzallem aber eines von beidem tut und somit die Worte nicht zu restlichen Gestik und Mimik, ja gar zur Betonung, passen.

    Damit wird dann wohl ein Bereich der nonverbalen Kommunikation zur Erklärung der verschiedenen Arten des Nein benötigt, welche mir oft nicht richtig verständlich und zugänglich ist.