Wenn im Wald ein Baum umfällt

Ich habe zwei Töchter, die heute 21 und 17 Jahre alt sind. Die jüngere ist Asperger-Autistin (AS), die ältere ist Nichtautistin (NT). Beide interessieren sich für philosophische Fragestellungen. Und so tauchte bei mir daheim schon vor vielen Jahren die Frage auf:

„Wenn im Wald ein Baum umfällt, und niemand ist da, um es zu hören – macht es dann ein Geräusch?“

 

Das ist eine Fragestellung, die beinahe schon das Potenzial hat, ein Koan zu sein. Nach meinem Kenntnisstand sind vergleichbare Fragestellungen schon in der griechischen Antike gestellt worden. Die Diskussion der Antworten, die über viele Jahrhunderte zusammengetragen wurden, füllen viele Regalmeter in den philosophischen Fachbereichen von Uni-Bibliotheken. Ich maße mir nicht an, die Güte dieser Antworten zu beurteilen. Aber meine ältere Tochter fragte mich mal zu Recht, welchen praktischen Bezug denn so eine Fragestellung hätte. Sie schickte mir per Email eine Grafik, auf der stand:

„If a tree falls in a forest and no one is around to hear it – I sure don’t give a shit!“

 

Ja, das ist eine interessante Frage:

Welchen praktischen Sinn hat so eine Fragestellung?

Ich will mich dem mal aus einer autistischen Perspektive nähern. Dazu muss ich ein wenig aus meiner Erfahrung mit der NT-Welt schildern. Es dreht sich vor allem um meine Erfahrung mit „Hilfe“ und „Inklusion“.

 

1

Meine jüngere Tochter kann die Regelschule nicht mehr besuchen (Angstzustände). Sie ist 12 Jahre alt. Sie bittet mich darum, abklären zu lassen, ob sie Autistin ist. Ich höre mich um, wer sowas machen kann und bekomme die Empfehlung, zur Uni-Klinik in Marburg zu gehen. Die seien die besten auf diesem Gebiet. Meine Tochter und ich fahren dorthin. Wir müssen in einem Wartezimmer warten, durch das ein Krankenhausgang führt. Es klirrt und kracht allerorten, das Licht ist grell, viele Leute passieren das Wartezimmer. Ein ungefähr siebenjähriges Kind fällt mir auf. Das soll mit seiner Mutter auf den Diagnosetermin warten. Aber es hat Angst. Vor Panik schreiend läuft es den Gang hinauf. Seine Mutter saust hinterher.

„Nein, nein, ich will nicht!“, schreit das Kind. Dann sind die beiden nicht mehr zu sehen. Nach kurzer Zeit taucht das Kind wieder auf. Es wird von seiner Mutter verfolgt. Das Kind ist am Ende seiner Kraft angekommen. Es rennt in das Wartezimmer und versteckt sich unter einem Tisch.

Die Mutter findet es sofort. Das Kind schreit:

„Ich will nicht!“

Die Mutter zieht es ungerührt an einem Fuß unter dem Tisch hervor und hält es fest:

„Ich will auch manches nicht.“

Dann zerrt sie es in eines der Zimmer, in denen die Diagnostik durchgeführt wird. Die dicke Tür dämpft die Schreie des Kindes ein wenig.

 

2

Meine Tochter begegnet bei ihrer Diagnose lauter NTs. Allesamt sind sie Autistenhasser. Sie lassen meine Tochter das spüren. Meine Tochter arbeitet zwar mit, lässt es jedoch an Enthusiasmus fehlen. Das wird ihr später im Gutachten als „Oppositionelles Verhalten“ ausgelegt.

Im Schlusssatz des Gutachtens formuliert die diensthabende Psychologin, dass sie den Eltern „dringend“ rät, das Kind – auch gegen seinen Willen – für mindestens drei Monate in eine geschlossene Psychiatrie einzuweisen (vorzugsweise an der Uni-Klinik in Marburg).

 

3

Da meine Tochter nicht mehr zur Regelschule geht, wird die helfende Staatsgewalt aktiv. Meine Tochter wird bei einer „Brückenschule“ angemeldet. (Eine Brückenschule ist eine Schule für langzeiterkrankte Kinder, die wegen der Krankheit nicht mehr zur Regelschule gehen können).

Die Leiterin der Schule (selbstverständlich NT) tritt sehr robust auf. Sie ist geschieden und hat einen Doppelnamen als Nachnamen.

Sie nimmt mich in einem Gespräch beiseite und redet mir ins Gewissen:

„Ich sage Ihnen gleich, dass die Erfahrung zeigt, dass nur die Kinder hier erfolgreich sind, wo die Eltern den Kindern deutlich machen, dass sie zur Schule gehen müssen.“

„Und was heißt das?“

„Wenn Sie wollen, dass Ihr Kind überhaupt noch in der Schule Fuß fasst, dann müssen Sie es zwingen. Dann müssen sie ihm das Leben Zuhause so schwer machen, dass es gerne zur Schule geht, weil es in der Schule viel schöner ist als daheim. Tun sie das im besten Interesse Ihres Kindes. Ich spreche hier aus Erfahrung.“

 

4

Der permanente seelische Druck setzt meiner Tochter derart zu, dass sie schwerste Bauchschmerzen bekommt. Ich weiß aber aus Erfahrung, dass meine Tochter umso versteinerter wirkt, je schlechter es ihr geht. Deshalb übe ich mit ihr vor dem Arztbesuch in Rollenspielen ein, wie sie auf die Fragen des Kinderarztes reagieren soll.

Aber als sie vor dem Arzt steht, reagiert sie wie gewohnt.

„Wie geht es dir?“, fragt sie der Arzt

„Es geht so“, presst sie zwischen den Zähnen hervor.

Später liegt sie dann im Behandlungszimmer auf der Liege. Der Arzt drückt auf ihrem Bauch herum.

„Tut das weh?“

Ich sehe, dass meine Tochter fast ohnmächtig wird. Der Arzt sieht das nicht.

„Ein wenig“, wispert meine Tochter.

Der Arzt hat dann eine klare Diagnose für mich:

„Ihre Tochter ist eine Simulantin. Sie sollten einen Psychologen aufsuchen.“

Ich gebe mich damit nicht zufrieden und setze gegen viele Widerstände durch, dass meine Tochter in die Klinik kommt.

Dort diagnostizieren sie eine Bauchfellentzündung.

 

5

Meine Tochter ist für mehrere Monate in einer psychiatrischen Klinik untergebracht. Wir telefonieren jeden Tag miteinander. Sie sagt mir, was sie mit dem Klinikpersonal erlebt hat, und ich analysiere das für sie.

 

„Also Papa, an der Tür zur Küche da hängt so ein Schild, dass wir nicht ohne Begleitung in die Küche dürfen. Dann hat mir aber die stellvertretende Leitung den Auftrag gegeben, eine Tasse in die Küche zu bringen. Ich habe gesagt, dass ich das nicht mache, weil ich nicht alleine in die Küche darf. Da hat die Frau gesagt, dass ich nicht so frech sein soll, und ich habe Strafpunkte bekommen.“

„Das ist eine Doppelbotschaft, mein Kind. Eine Doppelbotschaft ist dadurch gekennzeichnet, dass in einem Satz zwei Botschaften gesendet werden, die nicht miteinander zu vereinbaren sind. Doppelbotschaften werden zu folgenden Zwecken verwendet ….“

„Also, Papa, ich habe der Psychologin heute gesagt, dass ich keine Therapie mehr bei ihr machen will, weil ich mich danach immer viel schlechter fühle als vorher und ich einfach keinen Sinn darin sehe. Sie hat dann gesagt, dass das oppositionelles Verhalten von mir ist und dass es zeigt, wie unreif ich noch bin.“

„Das Gegenteil ist richtig, Kind. Dein Verhalten zeigt, wie klar du deine Situation beschreiben und deine Bedürfnisse benennen kannst. Die Reaktion der Psychologin zeigt, wie unreif sie ist, und dass sie zur Gewalt greift, wenn ihr die Argumente ausgehen. … Und offenbar gehen sie ihr sehr schnell aus.“

„Also, Papa, …“

 

 

In den letzten Jahren war es eine meiner Hauptaufgaben, meine AS-Tochter auf dem Weg ins Leben vor der strukturellen und institutionalisierten Gewalt der NT-Welt zu schützen. Das war selten leicht und ist nicht immer gelungen. Viele, viele Monate lang war diese Gewalt allgegenwärtig wie eine Flutwelle. Ich weiß nicht mehr, wie viele Stationen meine Tochter durchlaufen hat – Arzt und Arzt und Therapeut und Arzt und psychiatrische Klinik und Schule und Schule und Arzt und Therapeut und Jugendamt und Therapeut … Beinahe überall begegnete ihr die NT-Welt mit nackter, schierer und brutaler Gewalt.  

 

Diese Gewalt war nicht zufällig oder unbeabsichtigt, sondern systematisch und gewollt. Es ging darum, meine Tochter zu brechen. Diese Gewalt durchdringt nach meiner Erfahrung so ziemlich jeden Winkel des staatlichen „Hilfe“systems. Dass sie (diese Gewalt) lächelnd und mit freundlichen Worten daherkommt und durch wissenschaftlich klingendes Gefasel untermauert wird, ändert nichts an der Wirkung.

 

Ich habe den Eindruck, dass meine AS-Tochter jetzt auf einem guten Weg ist, aber meine Haare sind darüber weiß geworden.

 

Inzwischen habe ich von einigen AS ähnliches gehört und habe eine sehr, sehr schlechte Meinung zu dem entwickelt, was gemeinhin „Inklusion“ genannt wird. Inklusion scheint ein anderes Wort für Gewalt zu sein. Ein anderes Wort dafür, AS – mit aller Gewalt - in die NT-Welt zu pressen (damit sie bloß nicht mehr auffallen oder etwa gar anders sind), wo sie dann langsam vor die Hunde gehen.

 

Falls NTs unter meinen Lesern sind, bedenken Sie bitte folgendes:

 

1

Sie können sich nicht in AS hineinfühlen oder gar hineinversetzen.

 

2

Einem Autisten seinen Autismus zu nehmen, heißt, ihm seine Seele zu nehmen. Alles, was darauf abzielt, einen Autisten zu einem Nichtautisten zu machen, ist Gewalt.

 

3

Die meisten AS neigen dazu, innerlich zu versteinern, wenn es ihnen schlecht geht. Das ist ein automatisch ablaufender Schutzmechanismus der AS. Je schlechter es ihnen geht, desto weniger merkt ein durchschnittlicher NT es ihnen an. Ein AS in Not wird immer stiller und zeigt immer weniger Regung nach außen. Das macht es den gefühlsblinden NTs leicht, ihre Gewalt als erfolgreich zu verkaufen – der AS beklagt und rührt sich nicht mehr: Alles ist gut!

 

4

Mehr als die Hälfte der AS erkranken irgendwann in ihrem Leben wegen des Drucks, den die NT-Welt auf sie ausübt, am klinischen Vollbild der Depression.

 

5

Die Suizidrate ist unter AS um ein mehrfaches höher als unter NTs.

 

 

 

 

Deshalb hier die Frage von vorhin ins Praktische gewendet:

 

Wenn ein AS von lauter NTs umgeben ist und elendig zugrunde geht, und kein einziger NT bemerkt es – entsteht dann seelisches Leid?

 

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