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Die Sekunde

Meine Kindheit und Jugend verbrachte ich ohne Freunde. Ich vermisste nichts. Klar fühlte ich mich oft einsam. Aber ich kann mich nicht erinnern, dass ich mich danach gesehnt hätte, einen Freund oder eine Freundin zu haben. Ich war einsam, weil mir meine leiblichen Eltern das Leben buchstäblich zur Hölle machten. Ich floh in Tagträume. Ich dämmerte regelrecht weg. In meinen Tagträumen erfüllten sich all meine Sehnsüchte. Ich war weit, weit weg, in Landschaften, die (beinahe) menschenleer, weit, warm, frei, ruhig, still und sicher waren. Ich war wirklich sehr viel in diesen Traumlandschaften unterwegs. Aber ich kann mich nicht erinnern, dass in diesen Tagträumen Freunde auftauchten oder Menschen, mit denen ich mich dauerhaft umgab.

 

Das änderte sich von einem Tag auf den anderen. (Über diesen Tag werde ich irgendwann in der Zukunft schreiben). Ich war 16 Jahre alt und erlebte keinen Mangel in meinem Leben als so groß, durchdringend, schmerzhaft und bedrohlich wie den, dass ich keine Freunde hatte. In den nächsten 17 Jahren füllten Freunde mein Leben. Mal waren es mehr, mal waren es weniger. Mal war das sehr erfüllend für mich, mal war das nur so eine Last, die ich auch so mitschleppte (was aber deutlich seltener war). Aber da waren Freunde in meinem Leben. Dauernd. Und sie bedeuteten mir sehr, sehr viel. Aber auch das änderte sich von einer Sekunde auf die andere.

 

Davon will ich heute schreiben.

 

Es war ein Spätsommerabend irgendwo in Mitteldeutschland. Harry, einer meiner besten Freunde hatte eingeladen. Sein Onkel hatte einen kleinen landwirtschaftlichen Betrieb mit Viehwirtschaft, Hundezucht und allem möglichen. Auf der ausgedehnten Wiese vor dem Hofgebäude hatten sie extra für uns einige Holztische und –bänke aufgestellt. So, wie man das aus Biergärten kennt. Dort hatten wir uns versammelt. Wir hatten gegrillt und Bier getrunken, Geschichten von früher erzählt und Neuigkeiten ausgetauscht. Der harte Kern dieser Clique bestand aus ungefähr zwölf Leuten, Männern und Frauen. Wir hatten uns im Studium kennengelernt und waren beinahe wie eine Familie zusammengewachsen. Wir hatten zusammen gelernt, Prüfungen gemacht und gefeiert. Wir waren oft zusammen im Urlaub gewesen und verbrachten auch sonst den größten Teil unserer Freizeit in dieser Gemeinschaft. Ziemlich zeitgleich hatten wir unsere Diplome gemacht und standen jetzt am Anfang unseres Berufslebens. Vier Ehepaare waren aus dieser Gemeinschaft hervorgegangen. Und drei Kinder waren auch schon da. Weitere waren angekündigt. Es war eine goldene Zeit für uns. Die Welt stand uns offen.

 

Es war eine sehr schöne Feier gewesen. Den ganzen Tag hatten wir miteinander verbracht und hatten uns viel zu erzählen gehabt, weil unsere Berufe uns in verschiedene Städte verschlagen hatten und wir uns einfach nicht mehr so oft sehen konnten wie früher. Der Abend war warm und mild. Ich saß auf einer dieser langen Holzbänke, trank mein Bier und unterhielt mich mit Bernhard, der neben mir saß. Bernhard hatte als Psychologe bei einem der namhaftesten Softwareentwickler der Welt angeheuert und hatte deutlich mehr Berufserfahrung als ich. Die anderen saßen in der Nähe und aßen und tranken noch ein wenig und unterhielten sich. Das war eine fröhliche und friedliche Runde. Auf meinem Schoß schlief selig meine vier Monate alte Tochter.

 

Plötzlich hörte ich rechts hinter mir einen Schrei. Ein Kind. Ein Kind in Todesangst. Ich drehte mich um. Ein vierjähriger Junge. Einer von Harrys Neffen. Er rannte über die Wiese. Er bestand nur noch aus Panik und Todesangst. Das Kind wurde von einem schwarzen Hund verfolgt, der beinahe so groß war wie das Kind. Der Hund war selber noch ziemlich jung. Er fand das sehr spaßig.

 

Der Hund rannte hinter dem Kind her. Das Kind schrie, als der Hund es einholte. Der Hund stieß den Jungen mit der Schnauze um und blieb schwanzwedelnd stehen, um zu sehen, wie dieses Spiel jetzt weiter gehen würde. Das Kind schrie, sprang auf und rannte weiter. Der Hund setzte ihm nach und stieß es wieder um.

 

Ich wollte sofort aufspringen und dem Jungen zu Hilfe eilen. Aber das ging nicht. Ich war jetzt ja Vater. Meine vier Monate alte Tochter schlief auf meinem Schoß. Ich schaute mich um. Wo war meine Frau? Sie sollte meine Tochter nehmen. Aber meine Frau war gerade auf dem Klo. Das Kind schrie in seiner Todesangst, dass es mir durch Mark und Bein ging. Der Hund begriff nichts und setzte ihm weiter nach. Ich schaute mich hastig um, wem ich denn sonst meine Tochter geben könnte.

 

Ich schaute mich mit fliegenden Blicken um. Das erlebte ich alles in extremer Zeitlupe. Ich nahm die Geräusche nur noch bruchstückhaft auf. Aber ich konnte sehen. Ich sah sehr, sehr deutlich …

 

Bernhard saß neben mir. Seine Tochter war fünf Monate alt. Die saß auf dem Schoß ihrer Mutter, die sich ein paar Meter weiter entfernt mit Andrea unterhielt. Bernhard betrachte das Geschehen auf der Wiese und lachte laut und herzlich. Seine Frau lachte. Andrea lachte. Niemand rührte sich für diesen Jungen in seiner Todesangst. Kein einziger der Anwesenden. Alle sahen das und lachten. Ohne Ausnahme. Harry lachte und Palme lachte, Petra lachte und Kimbold lachte.

 

Die Zeitlupe verebbte und ich nahm die Geräusche wieder differenzierter wahr. Wutentbrannt wandte ich mich an Bernhard:

„Man sollte einen Löwen auf diese Leute loslassen. Das ist das gleiche Größenverhältnis. Mal sehen, ob sie dann immer noch lachen!“

Bernhard drehte sich zu mir um. In seinem Gesicht sah ich nicht einmal die Spur von Verständnis:

„Nun übertreib mal nicht so.“

 

Dieser Mann war vor fünf Monaten Vater geworden. Ich hatte gesehen, wie innig er mit seiner Tochter zusammen sein konnte. Aber ich begriff von einer Sekunde auf die andere, dass ich es hier mit einem Menschen zu tun hatte, der innerlich abgestorben war. Mir fiel das Wort „Androide“ ein. Bernhard hatte sich zu einem Androiden gemacht, um nicht mehr fühlen zu müssen. Dieser Bernhard, mit dem ich nun seit zehn Jahren befreundet war – ich hatte nie begriffen, wie es wirklich in ihm aussah. Ich schaute mir all die anderen lachenden Gesichter an. Ich sah all diese Körper, die vor Belustigung und Vergnügen bebten – keine Spur von Mitgefühl für dieses Kind. Alle innerlich abgestorben. Alles Androiden.

 

Der Junge hatte die Flucht aufgegeben. Er lag auf der Wiese und schrie. Ihm war klar, dass er gleich tot sein würde. Der Hund stand schwanzwedelnd und hechelnd über ihm. Harrys alter Onkel kam langsam über die Wiese gehumpelt. Es dauerte eine Ewigkeit, bis er den Hund erreichte und ihn am Halsband da wegzog.

 

Meine Frau kam vom Klo. Sie setzte sich neben mich und wollte wissen, was vorgefallen war. Ich nahm behutsam meine schlafende Tochter von meinem Schoß und gab sie ihr. Dann stand ich wortlos auf und ging weg.

 

Ich bin nie wiedergekommen.

 

Das ist jetzt ziemlich genau zwanzig Jahre her. Manchmal denke ich noch an diesen Vorfall. Von einer Sekunde auf die andere hatte ich sämtliche Freunde verloren. Das musste ich erst mal verdauen. Aber mit der Zeit begriff ich, dass mir nichts fehlte. Ich brauche keine Androiden in meinem Leben.

 

Heute nehme ich differenzierter und klarer wahr als damals. Menschen zu beobachten ist mein ältestes Spezialinteresse. Ich beobachte dieses innerliche Abgestorbensein, dieses Androidenhafte allenthalben.

 

·     Mütter, die mit ihren Freundinnen zusammenstehen und sich ungerührt weiter unterhalten, während ihre kleinen Kinder wie wüst an ihren Beinen rumzerren, weil sie ihnen was wichtiges zu sagen haben.

·      Väter, die so geschwind durch die Stadt gehen, dass die Kinder neben ihnen rennen müssen, um Schritt zu halten

·      Eltern, die ihre Kinder im Kinderwagen schreien lassen und ungerührt was anderes tun

·      Eltern, die im Restaurant ihre Kinder anherrschen, weil ihr Nachwuchs zu müde ist, um das gewünschte erwachsene Verhaltensrepertoire zu zeigen

·      Und so weiter. Ich könnte viele, viele Seiten damit füllen.

 

Wer versteht, wovon ich hier schreibe, dem werden diese wenigen Beispiele genügen.

 

Wer nicht versteht, wovon ich hier schreibe, dem kann ich es nicht erklären. Die Frau, mit der ich de jure verheiratet bin, fragte mich früher immer wieder, warum es unseren Kindern so schlecht ging, wenn sie  mit ihnen alleine war. Ich sagte ihr immer wieder:

„Hör‘ den Kindern zu. Eine Sprache, die lauter wäre als ihre, habe ich auch nicht.“

 

Ich hatte Freunde. Ich habe mich geirrt. Ich war lange sehr traurig. Ich vermisse nichts. Ich brauche keine Androiden in meinem Leben.

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