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Die Gebrauchtklagenhändler

Unter den NTs, die meine Welt bevölkern, befindet sich eine beträchtliche Anzahl an Gebrauchtklagenhändlern: Sie sind auf einem riesigen Markt unterwegs:

 

Biete: Altbekannte Klagen über alles und jeden

Suche: Soziale Zuwendung

 

Sie beklagen sich immer über dasselbe: Über das Wetter, die Zeiten, das Fernsehprogramm, ihre Ehepartner und Familienangehörigen, ihre Chefs und Kollegen, die Straßenverhältnisse, die Qualität von Gebrauchsgütern, Politikern und Polizisten ... .Grundsätzlich kann jeder Sachverhalt von ihnen als Klage thematisiert werden..

Nicht eine dieser Klage, die diese NTs vorbringen, ist neu. Diese NTs nutzen im Lauf der Jahre hunderte Male immer dieselben Klagen: Sie sind Gebrauchtklagenhändler.

 

Da ich ein sehr talentierter Zuhörer bin, habe ich früher regelmäßig zugehört, wenn ein Gebrauchtklagenhändler seine Ware feilbot.

Da ich hin und wieder Ideen hatte, wie der beklagte Missstand zu beheben sein könnte, habe ich in seltenen Fällen Hinweise gegeben, was man denn an der Sache tun könne.

 

Die NTs waren immer hochzufrieden mit mir, so lange ich ihren Klagen aufmerksam zuhörte und Nachfragen stellte, wenn ich etwas nicht verstanden hatte.

Wenn ich aber Hinweise gab, was man eventuell machen könne, um die Situation zu verbessern, schlug ihre Stimmung und ihr Verhalten sofort um:

Entweder gab es das „Ja, aber – Spiel“ (Ja, ich würde ja gerne, aber …) oder sie wurden böse auf mich.

Und ich habe mir dann den Kopf zerbrochen, was hier eigentlich los war.

 

Es hat sehr viele Jahre gedauert, bis ich es begriffen habe:

Ein Gebrauchtklagenhändler will mit seinen Klagen nicht auf einen Missstand aufmerksam machen, den er gerne ändern würde. Nein, er will soziale Zuwendung für seine Klagerei haben. Das ist also wieder mal so ein NT-Ding. Dem durchschnittlichen NT geht in fast jeder Situation soziale Zuwendung über alles. Da ist er beinahe permanent bedürftig und auf der Suche.

Und wenn du ein Problem für ihn löst, dann nimmst du ihm ein Werkzeug, mit dem er sich zuverlässig soziale Zuwendung verschaffen konnte. Wie sollte er da glücklich sein?

 

Es war ausgerechnet ein Mönch, der mich auf die richtige Fährte brachte. Der hatte einige Jahre in Indien verbracht und dort kräftig missioniert. So wie es eben die Art solcher Mönche ist. Speziell die Leprakranken (in der Bibel „Aussätzige“ genannt) hatten es ihm und seinem Orden angetan. Er verteilte Medikamente an Leprakranke. Es handelte sich dabei um Medikamente der neuesten Generation, die Lepra zuverlässig bekämpften. Wenn man solche Medikamente nimmt, ist man schon nach wenigen Wochen beschwerdefrei und nach wenigen Monaten geheilt.

Ein gutes und mildtätiges Werk also, das der Mönch da tat. Ganz im Sinne des Herrn.

 

Und der Mönch schilderte, wie die Leprakranken diese Medikamente freudig lächelnd und voller Demut und Dankbarkeit entgegennahmen – um sie in unbeobachteten Momenten irgendwo verschwinden zu lassen.

 

Ich fiel aus allen Wolken:

„Ja, aber warum tun die denn sowas?“ wollte ich wissen.

Der Mönch lächelte altersmilde:

„Lepra ist deren Lebenserwerb. An den Straßenrändern als Leprakranker zu betteln, ist in Indien gesellschaftlich anerkannt. Hätten die Leute kein Lepra mehr gehabt, wären sie zwar gesund gewesen, aber sie hätten keine Arbeit mehr gehabt und hätten verhungern müssen.“

 

Dieser Mönch hatte dann aufgehört, Medikamente zu verteilen und hatte eine Werkstatt gegründet, in der für die Leprakranken aus alten Autoreifen einfache Sandalen gefertigt wurden.

„Wenn du Lepra hast, sterben die Nervenenden in den Gliedmaßen“, sagte er mir. „Das führt dazu, dass du deine Füße und deine Hände nicht mehr spüren kannst. Und viele Leprakranke, die in Indien barfuß rumlaufen, treten sich Glasscherben und Nägel in die Füße, ohne das zu merken. Das eitert dann natürlich ganz schnell und vielen müssen deshalb die Füße amputiert werden …“

So konnte er den Leprösen helfen, ohne ihnen ihre einzige Einkommensquelle zu nehmen. Ein mildtätiges Werk also. Alles zum Lob des Herrn.

 

Auf der anderen Seite schuf er damit schwere Probleme für die einheimischen Schuster, denn er sorgte dafür, dass diese kleine Werkstatt mit deutscher Effizienz arbeitete und in hoher Stückzahl hochwertige Sandalen ausstieß, die dann kostenlos an die Bedürftigen verteilt wurden.

Auf diese Problemstellung sprach ich den Mönch dann aber nicht an.

 

Ich habe sehr lange nachgedacht, über das, was der Mönch mir da erzählt hatte. Später begriff ich dann, dass sehr große Teile der Kommunikation unter NTs nach demselben Muster verlaufen.

Biete: Altbekannte Klagen über alles und jeden.

Suche: Soziale Zuwendung.

Wehe, du nimmst mir diese Einkommensquelle, indem du inhaltlich auf meine Klagen eingehst und meine Probleme löst!

 

Der letzte Satz („Wehe …“) ist aber geheim. Er wird nicht ausgesprochen. Meistens ist er den handelnden Personen auch nicht bewusst. Dennoch ist er der entscheidende.

 

Heute bin ich beruflich sehr viel damit befasst, dass die NTs sich untereinander nicht einig sind. Ich bin ein gefragter Konfliktmanager und Teamentwickler. Ich weiß aber gleichzeitig, dass über 95% der Menschen, die mit solchen Themen auf mich zukommen, Gebrauchtklagenhändler sind: Sie nutzen die Konflikte und Probleme, die sie mit sich und anderen haben, hauptsächlich dazu, ihrem Dasein Sinn, Inhalt und Struktur zu geben. Die meisten Menschen, die zu mir kommen, würden in eine tiefe existenzielle Krise geraten, wenn all die Probleme, mit denen sie zu mir kommen, gelöst würden. Diese Krise würde exakt solange anhalten, bis sie entweder die alten Probleme reaktiviert hätten oder bis sie sich neue geschaffen hätten.

 

Also, liebe Autisten:

Wenn NTs euch ihre Probleme schildern, und es immer dieselben, alten Themen sind, dann geht es ihnen mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht darum, dass sie diese Probleme lösen wollen, sondern darum, dass sie soziale Zuwendung von euch wollen.

 

Sobald ihr versucht, ihnen zu helfen, diese Probleme zu lösen, verstrickt ihr euch in ein nicht mehr zu entwirrendes Gestrüpp aus widersprüchlichen Aussagen und Handlungen, die garniert sind mit einem riesigen Schwarm an völlig konfusen (aber sehr starken) künstlichen Emotionen. Letztlich bleibt dann alles beim alten – bis zur nächsten Runde, wenn sie euch wieder von ihren uralten Problemen erzählen. Ändern wird sich nichts. Egal, was ihr tut. Denn die nicht stillbare, suchtartige Gier nach sozialer Zuwendung steht bei ihnen über allem und treibt alles an.

 

Nimm einem Gebrauchtklagenhändler nicht seine Klagen. Sonst hat er nichts mehr, womit er handeln kann.

 

Nur so als Tipp.

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